Kapitel I.
Ohne Hitler kein Israel?
Zur historischen Einordnung der Staatsgründung
Ohne Hitler kein Israel! Ohne den Holocaust an den Juden gäbe es keinen Staat der Juden!« Immer wieder hört man diese Behauptung, und sogar der wahrlich unverdächtige Sebastian Haffner wiederholt sie in seinen »Anmerkungen zu Hitler« mehrfach; ja, der einstige Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Nahum Goldmann, verkündete nicht selten: »Ohne Auschwitz kein Israel!« Andere, gegen den altdeutsch-braunen Bazillus nicht Immunisierte, tragen diese These aus ganz anderen Gründen ebenfalls gerne vor.
Aber auch durch ständige Wiederholung wird die Behauptung nicht richtig, bleibt sie Legende. Der Mörder der Juden war nicht der Geburtshelfer des jüdischen Staates.
Doch nicht genug mit der einen Legende: Zu hören ist ebenfalls, daß es ohne die Rolle der einstigen Mandatsmacht über Palästina, also Großbritanniens, dann der Vereinigten Staaten von Amerika und auch der Sowjetunion »niemals« zur Gründung Israels am 14. Mai 1948 gekommen wäre. Eine merkwürdige Koalition scheint sich, diesen Legenden zufolge, zugunsten der Zionisten gebildet zu haben; eine Koalition, in der es kaum einer mit ihnen gut meinte, aber jeder offenbar gut machte: Hitler und Himmler, Chamberlain und Churchill, Attlee und Bevin, Roosevelt und Truman, nicht zuletzt Stalin. In der Tat, eine Groteske; eine Groteske, die Hitler einen Platz einräumt, der ihm weder historisch noch moralisch gebührt.
Über Hitlers Verhältnis zu den Juden erübrigt sich jedes Wort. Das im Sommer 1933 mit den Zionisten geschlossene »Transferabkommen«, das Juden die Ausreise nach Palästina gestattete, sollte ihm helfen, das »arische« deutsche Volk »judenrein« zu machen, das Judengeld als Preis der Auswanderung zu behalten, ohne sich durch tausendfache Judenmorde schon so früh sichtbar beschmutzen zu müssen. Hitler, auch das Auswärtige Amt und das Reichswirtschaftsministerium, erhofften sich außerdem ein Aufpolieren des deutschen Ansehens, das durch den am 1. April 1933 organisierten Boykott jüdischer Geschäfte gelitten hatte. Das bessere Deutschlandbild sollte gleichzeitig psychologische Exportbarrieren im Ausland abbauen. Überzeugt von der »Allmacht des Weltjudentums« wollte Hitler den im westlichen Ausland von Juden und Nichtjuden begonnenen Gegenboykott entschärfen.
Die Zionisten schlossen diesen Pakt mit dem Teufel aus zwei Gründen: Erstens sollte den verfolgten Juden und zweitens dem zionistischen Aufbauwerk in Palästina durch den nun gestatteten Kapitalimport der auswandernden Juden geholfen werden.
Das Abkommen, das bis 1937 recht gut und danach bis 1939 eher schlecht als recht funktionierte, blieb in den Reihen der zionistischen Bewegung stets umstritten. Bemerkenswerterweise wurde dieses Abkommen von den linken Mehrheitszionisten geschlossen, die schon damals von David Ben-Gurion geführt wurden. Die rechtszionistische Opposition der »Revisionisten« hat es von Anfang an kritisiert, jede Zusammenarbeit mit Hitler abgelehnt und einen Boykott des nationalsozialistischen Deutschland gefordert - eine bis in die 50er-Jahre folgenreiche Tatsache. Als nämlich die Regierung Ben-Gurions im Januar 1952 bereit war, mit dem Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches, mit der Bundesrepublik Deutschland, über die Wiedergutmachung zu verhandeln, wurde ihm von Menachem Begin vorgeworfen, »wie damals« einen Pakt mit dem deutschen Teufel schließen zu wollen.
Das Transferabkommen des Jahres 1933 verhinderte nicht den Holocaust, die millionenfache Vernichtung von Juden, vor allem von osteuropäischen Juden, die stets weitaus mehr zionistische Begeisterung gezeigt hatten als ihre assimilierten Glaubensbrüder in Westeuropa und Amerika.
Genau hier stoßen wir ins Herz der »Ohne-Hitler-kein-Israel«-Legende: Der Holocaust, so heißt es, habe den Zionismus im Judentum überhaupt erst mehrheitsfähig gemacht, ihm den politischen Rechtfertigungsschub gebracht. Ohne den Holocaust wäre der Zionismus eine bekämpfte Minderheit innerhalb der jüdischen Gemeinschaften der Diaspora geblieben. Der Holocaust, so schrecklich er für die Opfer gewesen sei, habe den Überlebenden, vor allem den Zionisten, geholfen; die zionistische Führung um Ben-Gurion hätte den Holocaust zunächst verschwiegen, als er spätestens im November 1942 in Palästina sowie im westlichen Ausland bekannt war, nichts gegen ihn unternommen, um diese Katastrophe als Beleg für die Richtigkeit zionistischer Warnungen vor den Gefahren des Antisemitismus propagandistisch ausnutzen zu können, heißt es weiter. Hierüber brach Mitte der 80er-Jahre in Israel ein heftiger »Historikerstreit« aus. Die tatsächlichen und vermeintlichen Funktionen des Holocaust in der israelischen und jüdischen Geschichtspolitik werden wir im dritten Kapitel ausführlicher erörtern.
Doch sollten die zionistischen Politiker tatsächlich nicht nur so zynisch, sondern auch so dumm gewesen sein, einfach zuzusehen, wie ihr größtes »Menschenreservoir«, die »Ostjuden«, vernichtet wurde, um dann mit den überlebenden westlichen Juden einen zionistisch verwässerten Staat aufzubauen? Die zionistische Führung in Palästina stammte zudem, wie Ben-Gurion, selbst aus Osteuropa, hatte dort Verwandte und Freunde. Weder politisch noch menschlich sind die Vorwürfe Ben-Gurion und seinen zionistischen Mitstreitern gegenüber stichhaltig.
Hier und da gab es unmittelbar nach der »Machtergreifung« Zionisten, auch deutsche, wie zum Beispiel Kurt Blumenfeld, der im April 1933 meinte, daß durch die antisemitische Politik des nationalsozialistischen Regimes die sonst dem Zionismus gegenüber eher distanzierten deutschen Glaubensbrüder für die jüdische Nationalbewegung gewonnen werden könnten. Er sah seinen Irrtum bald danach ein, erkannte, daß der Nationalsozialismus kein Instrument für, sondern letztlich nur gegen Juden sei, Zionisten wie Nichtzionisten.
Der deutsche Nationalsozialismus wurde im Allgemeinen schon sehr bald von der zionistischen Rechten und Linken als das erkannt, was er tatsächlich war: eine für Juden höchst gefährliche Bedrohung. Wie tödlich diese Bedrohung war, wurde tatsächlich vergleichsweise spät und zögernd, in der Breite Ende 1942, erkannt.
Nach dem Holocaust hätte die Welt zur Gründung eines jüdischen Staates nicht mehr »nein« sagen können, behauptet die Legende weiter. Tatsache ist, daß die Welt auch nach 1945 zunächst durchaus noch »nein« gesagt hat. Vor allem Großbritannien, die Mandatsmacht in Palästina, sagte »nein«. Mehr noch: Sie hielt die Tore Palästinas für die einwanderungswilligen Juden, Überlebende des Holocaust, verschlossen, um sich das Wohlwollen der Araber zu erhalten und um in Palästina später einen arabischen Staat zu gründen, keinen jüdischen.
Zu seiner Rechtfertigung und als Beweis seiner Notwendigkeit benötigte der Zionismus den Holocaust jedenfalls nicht, denn schon seit den Zeiten der Propheten war das jüdische Geschichtsverständnis von der Annahme bestimmt, Diaspora und Judenverfolgungen seien zwei Seiten derselben Medaille, die Geschichte der Juden sei die Geschichte ihrer Verfolgungen. So gesehen ist das Problem der Einzigartigkeit des Holocaust, ist der »Historikerstreit« in Deutschland, für einen traditionsbewußten Juden ebenso unjüdisch wie »unhistorisch«. Für ihn ist der Holocaust ein keineswegs einzigartiger Teil der langen Leidensgeschichte seines Volkes.
Die Grundannahme des Zionismus, daß es immer und überall Judenverfolgungen gäbe, bedeutete daher lediglich eine im späten neunzehnten Jahrhundert entwickelte, modern-verweltlichte Variante des jahrtausendealten jüdischen Welt- und Geschichtsbildes. Sie war zwischen den sonst keineswegs einigen weltlich orientierten Zionisten und den jüdisch-religiösen Traditionalisten auch nicht umstritten. Umstritten waren - und blieben auch nach dem Holocaust - die Schlußfolgerungen, die Juden aus dieser Tatsache zogen: Nur die Minderheit, ob religiös oder nicht, wollte - und will - wegen der Judenverfolgungen in den jüdischen Staat ziehen. Die meisten nichtreligiösen, assimilierten Juden hielten den Antisemitismus nicht für lebensgefährlich und wollten keinen jüdischen Staat; weder als inhaltliche noch örtliche Alternative. Die religiösen bekämpften den Zionismus, weil er in »Gottes Werk«, das heißt in die Geschichte der Juden, also in die Heilsgeschichte, eingriffe.
Die Legende »Ohne Hitler kein Israel« übersieht zudem die grundlegende Tatsache, daß der Zionismus schon vor Hitler in Palästina durchaus aktiv war und seit 1929 immer stärker wurde. Gewiß, der große Einwanderungsstrom setzte erst 1933 ein, doch es kamen damals weit mehr polnische als deutsche Juden. Von den rund 217 000 jüdischen Einwanderern, die zwischen 1932 und 1938 in Palästina eintrafen, stammten 47 Prozent aus Polen und nur 18 Prozent aus Deutschland. Die Juden Polens waren seit der wiedererlangten Unabhängigkeit ihrer Heimat ständigen Drangsalierungen ausgesetzt; man machte sie für die zahlreichen Schwierigkeiten des alt-neuen Staates mitverantwortlich. Viele Juden flohen nach Palästina, weil seit Anfang der 20er-Jahre die Tore der USA verschlossen waren.
Wichtiger noch: Diesen polnischen Juden, von denen viele mit den oppositionellen Rechtszionisten, den »Revisionisten« Jabotinskys, sympathisierten oder ab 1937 dessen militärischem Arm »Etzel« angehörten, stand schon in den beiden Jahrzehnten vor dem Holocaust das Wasser bis zum Hals. Die antijüdische Militanz in Polen nahm ständig zu und schuf damit bei vielen Juden die innere Bereitschaft, selbst gewalttätiger zu werden. Die jüdischen...