Schweitzer Fachinformationen
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Werner Blumberg, Ortsamtsleiter von Vegesack, schmunzelte über den Versprecher. Er hörte das gern. Soeben hatte ihm Konrad Habermann, der Vorsitzende des Nautilusvereins, das Wort erteilt und ihn nebenbei als 'Bürgermeister von Vegesack' tituliert. Ob er das ironisch meinte? Egal, Blumberg freute sich.
Er erhob sich und blickte in die illustre Runde. Alles, was sich auf gehobener Ebene um die Belange des Stadtteils kümmert, war vertreten: Vegesack Marketing, der Beirat, der Wirtschafts- und Strukturrat, die Leute von den Museumsschiffen, diverse Geschäftsleute und natürlich der Förderverein 'Vegesacker Junge'.
"Danke, lieber Konrad", sprach er zu seinem rechten Nebenmann, "für die freundliche Begrüßung. Dein Verein, die Maritime Tradition Vegesack Nautilus, der Stadtgartenverein, dessen Vorsitzender ich bin, und natürlich der Förderverein Vegesacker Junge, dessen Vorsitzender Hans Neuendorf hier zu meiner Linken sitzt, wir möchten Sie heute mit einem ganz besonderen Projekt bekanntmachen."
Er kramte zwei großflächige Pappen unter dem Tisch hervor - mit Powerpoint-Präsentationen mochte er sich einfach nicht anfreunden.
"Sie alle kennen die Figur des 'Vegesacker Jungen', erfunden vor rund hundert Jahren und inzwischen zu einem ebenso repräsentativen Symbol für Vegesack herangewachsen wie das Ehepaar Sengstake für Bremen oder die berühmte Marianne für Frankreich."
"Hoho, weit ausgeholt!", kam ein Zwischenruf von ganz hinten im Saal.
"Warum nicht?", konterte Blumberg, "Man soll groß denken und sein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Also: Wir haben die Darstellung des Vegesacker Jungen an der Wand einer ehemaligen Hafenkneipe am Utkiek." Er hielt den ersten Karton hoch. Nicht alle konnten es gut sehen, aber jeder kannte natürlich das Wandbild.
"Dann haben wir das Bronzerelief an der Signalstation, direkt an der Strandpromenade. Es wurde 1992 noch in der Gießerei der Werft Bremer Vulkan gegossen." Auch dieses Bild schwenkte er hoch.
Verhaltene Reaktionen. Man konnte kaum etwas erkennen. Oder war das Relief all den heimatverbundenen Gästen noch gar nicht aufgefallen? An seinem unscheinbaren Ort, mit seiner vielleicht etwas düsteren Ausstrahlung?
Unverdrossen kam Blumberg zum Kern der Sache. "Wir haben also ein zugegeben etwas einfach gestricktes Wandbild und ein verstecktes, flaches Relief, das sicher künstlerisch wertvoller ist, aber an einem ungünstigen Ort hängt und nicht gerade ein Blickfang ist. Ich hoffe, mit diesen Aussagen niemanden zu beleidigen!"
Der gewiefte Verwaltungsmann, der schon so manche Versammlung geschickt in einen sicheren Hafen gesteuert hatte, schaute sich in aller Ruhe in der versammelten Gesellschaft um, konnte aber kein finster blickendes Gesicht wahrnehmen.
Er fuhr fort: "Im Jahre 2022 feiert der historische Vegesacker Haven seinen vierhundertsten Geburtstag. Es gibt schon einige Pläne, wie wir den Geburtstag gestalten werden. Einen ganzen Sommer lang jagt ein Event das nächste: Theateraufführungen, Feste mit Musik, Straßenkünstler, sogar ein Walfangschiff wollen wir nach Vegesack holen!"
Hinten in der Versammlung brummelte und murmelte es. "Traditionsschiffe!", rief einer, "Der alte Haven muss voll davon sein!"
"Auch daran wird gearbeitet. Heute aber möchten wir drei mit einem besonderen Vorschlag an die Öffentlichkeit. Wir wollen an prominenter Stelle am Museumshaven eine große, ins Auge fallende Bronzefigur des Vegesacker Jungen aufstellen. Mitten im Geburtsjahr natürlich. Einen finanziellen Grundstock können wir aus unseren drei Vereinen beisteuern. Ich denke, der Ortsbeirat wird sich nicht lumpen lassen, und bei der Stadt stoße ich auch auf Interesse. Warum erzähle ich Ihnen das? Wir brauchen Sponsoren! Ich möchte heute mit einem Sack voll Zusagen hier hinausgehen: Zusagen in Zahlen, in Euro, aber auch in Versprechen, bei all Ihren Bekannten, die nicht bei drei auf dem Baum sind, Spenden einzusammeln."
Beifall setzte ein. Hatte der Amtsleiter geschickt Claqueure verteilt? Eine bekannte Geschäftsfrau wedelte mit einem Zettel: "Ich spende!" Jens Beilsen, in Immobilien und Bauprojekten unterwegs, nutzte den Moment. Er klatschte dreimal effektvoll in die Hände und rief mit seiner markanten Stimme: "Ich auch! Und nicht zu knapp!"
Niemand konnte sich dieser Aufbruchsstimmung entziehen.
Mitten hinein in die bewegte Szene rief Blumberg: "Und wir haben schon einen Bildhauer, der bereit ist, für einen günstigen Preis eine Bronzeskulptur zu erstellen. Ihr kennt ihn alle, er hat die Figuren auf der Terrasse am Haven geschaffen: Hermann Brosig!"
Ein älterer graubärtiger Künstlertyp mit verschmitzten Gesichtszügen erhob sich und lächelte in die Runde. Auch er bekam freundlichen Applaus.
"Er wird in Kürze einige Entwürfe vorlegen, und wir werden eine Jury bilden. Die Öffentlichkeit wird natürlich auch beteiligt!"
Jemand trat hinter Blumberg und raunte ihm ins Ohr: "Und was soll der Spaß kosten?"
Der Angesprochene drehte sich um und blickte in die undurchdringlichen, tiefgründigen Augen eines ehemaligen Bausenators. "Dreißigtausend", sagte er leise, und der Andere nickte: "Geht ja."
Ein hässlicher, nasskalter Tag. Benjamin Vogelsang, von allen Ben genannt, Journalist und nicht mehr ganz jung in seinem Beruf, hatte nach einer Woche mit milden Lüftchen und Sonnenschein nun doch wieder die Heizung angeschmissen und hockte über seinem Laptop. Sein Gartenhäuschen, sonst bevorzugtes Rückzugsbüro zum Arbeiten, war bei diesem Wetter - starker Regen, Sturm, Temperaturen im Keller - kein anziehender Ort.
Heute Abend würde er allerdings wieder nach draußen müssen. Die Redaktion der Norddeutschen, der großen Regionalausgabe des Weser-Kurier, hatte ihm, dem freischaffenden Mitarbeiter, der sich ansonsten mit diversen Themenprojekten und Volkshochschulkursen über Wasser hielt, den Auftrag zugeschanzt, über die Versammlung des Fördervereins Vegesacker Junge zu berichten. Normalerweise hieß das: Vorstandswahlen, Satzungsfragen, der übliche Kram.
Aber dieses Mal, bei der Jahreshauptversammlung 2021, kam etwas hinzu: Die Vegesacker Jungen wurden neu gewählt. Das passiert alle vier Jahre, und das ist einen großen Artikel wert, mit Porträts der Gewählten, mit Interviews und allem Drum und Dran. Eine ganze Seite springt heraus, vielleicht noch ein kleiner Kommentar auf der ersten Seite, und darüber hinaus eine Kurzfassung in der Hauptausgabe des Weser-Kurier. Schönes Geld!
Um sich vorzubereiten, hatte er die Artikel über die früheren Versammlungen auf den Bildschirm geladen, auf denen neue Vegesacker Jungen gewählt wurden. Gewählt? Zuletzt, also 2017, wurden die beiden Kandidaten vorher vom Vorstand ausgeguckt und von den Mitgliedern nur bestätigt. Zwei Studenten, einer inzwischen Jungunternehmer, smart und erfolgreich.
Der Bericht von 2017 stammte aus seiner eigenen Feder. Ausführlich hatte er die Aufgaben dieser Repräsentanten des Stadtteils umrissen. Auftreten mussten sie im Matrosenanzug, wenn eins dieser Events anfiel: Festival Maritim, Vegesacker Markt, Pappbootregatta und so fort. Ein paar Worte sagen, die Organisatoren loben, zu Selfies mit diversen Mädchen lächeln.
Im Jahre 2013, da war es wirklich noch eine Wahl. Zwei von vier Kandidaten machten das Rennen. Damals war ein Kollege vor Ort, inzwischen in Rente. Er hatte seine Reportage anders angelegt: Viele Fotos, penibles who is who, alle Sponsoren und Ehrengäste mit Namen und Titelei, und vor allem: überschwängliche Interviews mit den beiden Jungs. Der eine, ein Abiturient, gab sich sehr selbstbewusst. Er überhöhte seine Rolle. Flüssig und beredsam präsentierte er sich als Mittler zwischen den Parteien und widerstreitenden Kräften im Stadtteil.
Der andere wirkte jünger, unreifer und schüchtern. Er sagte nur ein paar vorsichtige Standardsätze, bedankte sich brav beim Vorstand und bei den Mitgliedern, die ihm ihr Vertrauen geschenkt hatten. Offensichtlich wählte man ihn, weil er für den erfolgreichen Vegesacker Sport stand: ein fleißiger Turner, Mitglied in einem Traditionsverein, zuverlässig, treu. Fürchterlich angepasst, dachte Ben, dem so ein Menschentyp eher fremd war.
Der Kollege von 2013 hatte die Reden zu der Wahl nur kurz zusammengefasst, aber Ben sah schon: Vier Jahre später wurde fast dasselbe gesagt. Maritime Tradition, Kernsubstanz des Ortsteils Vegesack, jung und aufstrebend wie der Ort - stimmt das eigentlich? Das, so dachte er, werde er abschreiben können. Wer schlägt schon die alten Artikel nach?
Eines würde heute neu sein, das hatte er vorher erfahren: Drei Repräsentanten, drei Vegesacker Jungen sollte es dieses Mal geben. Der Havengeburtstag! Die vielen Events forderten viel Präsenz, und da sollten sich die jungen...
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