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Er schrie. Ein dünner, heller Ton, der die Dunkelheit zerschnitt und hinaufstieg bis zum bleichen Mond. Die Tauben, die im Gebälk über der Dachkammer nisteten, schraken hoch und schlugen aufgeregt mit den Flügeln. Dann war wieder Stille. Nur der Hund des Lohgerbers bellte, ein zweiter antwortete, dann ein dritter. Irgendwo ging ein Licht an.
Er schrie noch einmal, verzweifelt, panisch. Warum half ihm nur keiner? Hörte ihn denn niemand? Irgendjemand musste ihn doch retten! Er wusste, er würde nicht mehr lange weiterrennen können, vor lauter Keuchen brannte es ihm wie Feuer in der Brust, jeder Atemzug schmerzte, und in seinen Ohren rauschte das Blut. Hinter sich hörte er das Schnauben und Geifern seines Verfolgers, ihm war, als spüre er schon die sengende Hitze, die von ihm ausging. Da, endlich hatte er die Treppe erreicht! Er stolperte hinauf, musste die Hände zu Hilfe nehmen, um nicht zu fallen. Höher und immer höher taumelte er, dorthin, wo er die Tür wusste. Aber die Treppe nahm kein Ende. Sie hörte einfach nicht auf. Stufe für Stufe kämpfte er sich nach oben, aber da war keine Pforte, kein Licht, keine Rettung. Schon ritzten die Krallen des Teufels seine Haut, zu Hilfe, er packte ihn an! Gleich würde er ihn verschlingen, mit Haut und Haar, ganz und gar, ihn hineinfressen in seinen gierigen Schlund, hinabwürgen in den nimmersatten Bauch. Er kämpfte gegen das Höllentier mit allerletzter Kraft, schlug, strampelte, biss und kratzte.
Plötzlich wurde es hell. Jemand hielt seine Hände mit sanfter Gewalt fest, und dann - der Klang einer vertrauten Stimme, beruhigend und leise. Er hörte auf, sich zu wehren.
»Ruhig, sei ruhig, mein Bub. Es ist ja gut, alles ist gut.«
Die Mutter wiegte ihn in den Armen, tröstete ihn, strich ihm übers schweißnasse Haar. Er ließ sich fallen, entspannte sich und spürte unendliche, unaussprechliche Erleichterung.
»Hat dich wieder ein Alb gedrückt?« Die Mutter sah ihn mitleidig an.
»Der Teufel«, schluchzte er, »der Teufel . er ist . er wollte . es war so schlimm .«
»Mein armer kleiner Liebling«, murmelte die Mutter, »das war ein schlechter Traum. Musst keine Angst mehr haben.«
Er blinzelte mit tränennassen Augen. »Aber der Herr Pfarrer hat gesagt, der Luzifer kommt und holt die bösen Kinder, und er nimmt sie mit in die Hölle.«
»Aber wo. Der Luzifer kann uns gar nichts tun.« Die Mutter streichelte seine Wange. »Wir sind doch alle gute Christenmenschen. Da kann er nichts gegen uns ausrichten.«
»Aber der Herr Pfarrer .«
»Schschscht. Weißt du, was? Wir sagen jetzt miteinander ein Paternoster, und dann schläfst du schön weiter, ja?«
Sie schloss seine gefalteten Hände in ihre und betete mit ihm leise auf Lateinisch. Dann nahm sie ihre Halskette mit dem hübsch geschnitzten elfenbeinernen Kruzifix ab und legte sie ihm um den Hals. »Schau, jetzt kann dir der Luzifer nichts mehr anhaben. Das Kreuz beschützt dich.«
Sie schüttelte den Kopf und sah ihrem Sohn fest in die Augen. »Denk nicht mehr an den Herrn Pfarrer. Ich verspreche dir, dass der Teufel nicht die Macht hat, dir auch nur das kleinste bisschen zu schaden. Und jetzt schon gar nicht mehr - du hast ja jetzt mein Kruzifix.«
Er richtete sich auf. »Schwörst du's? Bei allem, was dir heilig ist?«
Sie seufzte und drückte ihn sanft in die Kissen zurück. »So wahr ich deine Mutter bin und lebe«, sagte sie mit fester Stimme. Dann deckte sie ihn zu und küsste seine Stirn. »Schlaf gut«, flüsterte sie, bevor sie wieder zur großen Bettstatt hinüberging, wo ihr Mann leise schnarchend auf dem Bauch lag.
Der Junge schloss folgsam die Augen, und noch bevor seine Mutter das Laken über sich gezogen hatte, war er auch schon eingeschlafen.
Man schrieb das Jahr 1187. Es war Winter.
Zu Marburg gab es nur wenige Steinhäuser. Das kleine Städtchen an der Lahn bestand aus Holz- oder Fachwerkgebäuden, oft noch strohgedeckt, in denen sich als einziger Luxus gerade einmal eine kniehoch gemauerte Herdstelle fand. Hier lebten die einfachen Leute. Die Steinhäuser hingegen gehörten den Burgmannen, allesamt kleinere Ministerialen der Landgrafen von Thüringen und Hessen, die mit ihren Familien das Privileg genossen, herrschaftlich zu wohnen. Als Gegenleistung waren sie zum Burgdienst verpflichtet.
In einem dieser gemauerten Häuser war der kleine, rothaarige Junge aufgewachsen, zusammen mit drei viel älteren Geschwistern. Er war schlank und zart, ein blasses, stilles Kind, aber wen wunderte es? Zu früh hatte ihn der Leib seiner Mutter ausgestoßen, ein Glück war es, dass das arme Wurm überhaupt am Leben geblieben war. Inzwischen schien er aus dem Gröbsten heraus zu sein, auch wenn er irgendwie ein bisschen zu weich und zu ängstlich für einen Buben seines Alters wirkte. Aber gerade weil er nicht so robust und kräftig war wie seine Geschwister, liebte ihn die Mutter abgöttisch und las ihm jeden Wunsch von den Augen ab. Er war das einzige der Kinder, das noch mit in der elterlichen Kammer schlafen durfte, weil er Angst vor der Dunkelheit und oft schlimme Träume hatte. Wenn die Sterne am Himmel standen und der Mond sein fahlweißes Licht über die Stadt hingoss, flackerte meist ein kleines Talglämpchen neben seiner Bettstatt, weil er sonst nicht einschlafen konnte. Albträume hatte er regelmäßig, aber nie war einer so schlimm gewesen. Und als er bald nach Tagesanbruch aufstand, fühlte er sich völlig zerschlagen, als sei er tatsächlich vor dem Teufel geflohen und habe dabei all seine Kräfte aufgebraucht. Aber er glaubte an die Macht des Kruzifixes und daran, dass ihn die Mutter immer beschützen würde.
Zwei Monate später, es ging auf Ostern zu, wachte er in aller Frühe auf und war allein. Das schien ihm merkwürdig, denn sonst war die Mutter am Morgen immer da gewesen, hatte ihm beim Anziehen geholfen und ihm das widerspenstige Haar mit dem beinernen Lausrechen gekämmt. Er schlüpfte aus der Bettstatt, fuhr ungeschickt in Bruoche und Hemdchen und tappte über die schmale Treppe nach unten, wo der Wohnraum war. Kein Feuer. Niemand im Haus. Wo waren sie nur alle? Ängstlich lief er zur Haustür, hob den Riegel an und trat mit nackten Füßen auf die Gasse hinaus. Er fühlte sich klein und verlassen. Tränen stiegen ihm in die Augen, doch bevor er anfangen konnte zu weinen, rannte schon die Nachbarin auf ihn zu, die Hände über dem Kopf zusammenschlagend. »Achgottachgott, o du lieber Heiland, dich haben sie wohl vergessen«, lamentierte sie. »Du armes Wurm, du.«
Sie legte ihm ihr wollenes Tuch um die Schultern und führte ihn zu sich ins Haus. Dort blieb er den ganzen Tag, bekam warme Milch mit Honig, Gerstenbrei, Schmalzbrot und Küchlein. Die Nachbarskinder spielten mit ihm und erzählten ihm Geschichten, ja, sie schnitzten ihm sogar ein Pferdchen aus Lindenholz. Er spürte, dass etwas nicht stimmte, aber den ganzen Tag über wagte er nicht, auch nur eine einzige Frage zu stellen. Ein böses Gefühl schnürte ihm den Hals zu. Als es Abend wurde, brachte ihn die Nachbarin heim.
Schon an der Tür hörte er merkwürdige Geräusche. Drinnen in der Stube brannten die Talglämpchen, aber das Herdfeuer war aus. Wurde denn nicht zu Abend gegessen? Er trat ein und sah etwas, das seine Angst verstärkte: Der Vater saß am Tisch, den Kopf auf die Arme gelegt, und weinte. Neben ihm die Geschwister, alle kreidebleich, mit großen Augen, stumm. Er schluckte und ging auf sie zu. »Mutter«, wagte er endlich zu fragen, »wo ist die Mutter?«
Mit einem zornigen Schrei, der eher ein Schluchzen war, fuhr der Vater hoch. Er packte den kostbaren grüngläsernen Noppenbecher, der auf dem Tisch gestanden hatte, und warf ihn mit wilder Wucht gegen die Wand, wo er zerbrach. Und er blickte ihn an, mit Augen - rollenden Augen, die einem Tier zu gehören schienen, weit aufgerissen, dass man das Weiße sah, und flackernd vor Hass und Wut. »Die hat der Teufel geholt! Der Teufel!«, brüllte der Vater mit sich überschlagender Stimme. »In der Hölle wird sie schmoren, auf immer und ewig!« Er stieß den Schemel um und packte seinen Jüngsten grob am Arm. »Die kommt nie wieder«, schluchzte er. Es schüttelte ihn, den ganzen großen Kerl. Abrupt ließ er los und stolperte wie von Furien gejagt aus dem Zimmer.
Niemand in der ganzen Stadt sprach je wieder von seiner Mutter. Niemand erzählte ihm, dass sie auf und davon gegangen war, mitten in der Nacht. Auf und davon mit einem Fahrenden, einem aus der vermaledeiten Zigeunerbrut, die den Winter über vor den Toren der Stadt Quartier genommen hatte. Stehen und liegen hatte sie alles lassen, für so einen. Den Mann. Die Kinder. Haus und Hof. Alles.
Der Vater war nie wieder wie früher, vor lauter Kummer und Schande. Er wurde wie ein Stein. Er lachte nicht mehr. Er erzählte nicht mehr. Und die älteren Geschwister taten es ihm gleich, nie wieder erwähnten sie die Mutter.
So wuchs der Bub auf in dem festen Glauben, der Luzifer habe die Mutter mit sich in sein höllisches Reich genommen. Natürlich, sie hatte ja auch nicht mehr ihr Kruzifix getragen, das hing ja um seinen Hals. Seinetwegen hatte sie sich dem Teufel schutzlos ausgeliefert. »So wahr ich lebe«, hatte sie gesagt, »so wahr ich lebe, besitzt der Teufel keine Macht.« Jetzt lebte sie nicht mehr. Luzifer hatte sie bestraft. Er hatte sie statt seiner geholt.
Die Schuld lastete unendlich schwer auf seiner Seele. Sie war zu groß, um sie tragen zu können. In seinem Körper bildete sich etwas Hartes, Festes, ein großer Knoten, der mittendrin saß und ihn mit seiner...
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