Schweitzer Fachinformationen
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Danaes Atem glitt in geisterhaften kleinen Schwaden durch das Halbdunkel. Mit einem Ruck rollte sie sich von der finsteren Tiefe der Höhle fort und starrte hinaus in das trostlose Weiß. Sie befand sich auf einem Felsvorsprung auf halber Höhe eines unbezwingbaren Berges am Ende der Welt, umgeben vom eisigen Dunst endloser Wolkenbänke. Seit Jahrhunderten hatte sich niemand mehr so weit vorgewagt. Zumindest kein Sterblicher.
Indem sie die Lider zusammenpresste, versuchte sie die Wärme zurückzuholen, die sie in ihrem Traum gespürt hatte. Doch egal wie sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nicht dorthin zurück. Die Kälte des Berges war ihr bereits tief in die Knochen gedrungen.
Schließlich ergab sie sich der Wirklichkeit, zog ihren Beutel von der Schulter und widmete sich ihren schmerzhaft pochenden Händen. Nur mithilfe ihrer Zähne gelang es ihr, sich die Ziegenlederhandschuhe von den Fingern zu ziehen. Aus den Schnitten, die sie sich beim Aufstieg zugezogen hatte, quoll noch immer Blut. Sie sog scharf die Luft ein, drückte eine Hand gegen die Wand und zog sich hoch. Ein roter Fleck blieb auf dem Fels zurück. Nun auf den Knien rutschend, kroch sie tiefer in die Höhle hinein, um sich vor den beißenden Windböen in Sicherheit zu bringen. Der Salzgeschmack in ihrem Mund ließ sie die blutende Hand an die Wange heben; sie hatte geweint, ohne es zu merken.
Von einem Strand hatte sie geträumt. Von weißem Sand, der von den Füßen ihrer Brüder aufgewirbelt wurde, während sie zu den Felsenpools vorne am Wasser rannten. Sie selbst war hinterhergerast, wollte sie unbedingt einholen, wollte unbedingt die Erste sein, die einen Krebs fing. Ihre Schwester sah ihnen vom Strand aus zu, der Wind trug Aleas leises Lachen mit sich fort.
Dieses jüngere Ich, das den Strand hinunterrannte, erkannte Danae kaum noch wieder. Fast schien es, als gehörten diese Kindertage zu einem anderen Menschen, als trüge sie die Erinnerungen einer Fremden in sich. Doch schon der Anblick ihrer geschundenen Hände führte ihr deutlich vor Augen, was sie alle getan hatten, was sie getan hatte, um hierher zu gelangen.
Achtzehn war sie gewesen, als sie Naxos verließ. Jetzt musste sie schon fast zwanzig sein. Einerseits fühlte es sich an, als wäre sie erst wenige Tage fort, dann wieder schienen es Jahrzehnte zu sein. Sie dachte an ihre Eltern, ihre Brüder, ihre kleinen Neffen. Diese Menschen waren ihr Anker, gaben ihr Halt bei dem, was sie hier tat. Wie sehr hatte sie sich an die Hoffnung auf ein Wiedersehen geklammert, doch wenn sie nun versuchte, sich an ihre Gesichter zu erinnern, entglitten sie ihr wie flüchtiger Rauch.
Sie zog das Löwenfell zurecht, das ihre Schultern bedeckte. Das Maul des Untiers ruhte weit geöffnet auf ihrem Kopf, sodass die Reißzähne ihre Schläfen streiften. Die struppige Mähne ergoss sich über ihren Rücken. Angeblich konnte dieses Fell von keiner Waffe der Welt durchdrungen werden, hatte es doch einst dem berüchtigten Nemeischen Löwen gehört, bis es ihm von dem größten Helden aller Zeiten vom Körper gerissen worden war.
Wenn sie daran dachte, wie Herakles den Diebstahl entdeckte, wurde ihr flau im Magen. Ja, sie brauchte es dringender als er, trotzdem konnte sie nicht aufhören, sich sein Gesicht vorzustellen, wenn er das Ausmaß ihres Verrates begriff.
»Hör auf damit«, murmelte sie in die leere Höhle hinein.
Mit einem Griff in ihren Beutel beförderte sie ein tintenschwarzes Kleid zutage, von dem sie mit dem Messer lange Stoffstreifen abschnitt. Nachdem sie damit ihre Finger verbunden hatte, inspizierte sie ihre Ausrüstung: Sie verfügte über ein Messer, einen Wasserschlauch, den Splitter des Omphalos-Steines, ihre Pfeife, einen beinahe leeren Kräuterbeutel, ein Säckchen voller Drachmen, ihren dunkelblauen Mantel und eineinhalb Scheiben Zwieback.
Ihr Magen knurrte. Mit einem entschlossenen Atemzug nahm sie den halben Zwieback und aß ihn. Dann hob sie den Wasserschlauch an die Lippen.
Danae fluchte.
Das Wasser war gefroren. Sie schob den Schlauch unter die Felle, die sie am Körper trug. Ihr entkam ein leises Keuchen, als das kalte Material ihre Haut berührte. Hoffentlich würde ihre Körperwärme ausreichen, um das Wasser aufzutauen, denn sonst würde sie verdursten, bevor sie den Gipfel erreichte.
Ihr Blick wanderte zu der letzten Zwiebackscheibe. Dabei fiel ihr etwas ins Auge: Eine schmale Kerbe zog sich über den felsigen Boden der Höhle. Als sie den Zwieback beiseiteschob, erkannte sie, dass es Krallenspuren waren. Sofort suchte sie weiter und entdeckte noch mehr. Verwirrt runzelte sie die Stirn. Welcher Vogel würde sich einen so unwirtlichen Ort für sein Nest aussuchen?
Leise Hoffnung ließ sie tiefer in die Höhle hineinkriechen. Falls es hier ein Nest gab, gab es vielleicht auch Eier. Je weiter sie vordrang, desto schwächer wurde das Licht, trotzdem sah sie, dass die Höhle sich im hinteren Teil ausdehnte und eine Art Vorkammer bildete, die sogar groß genug war, um aufrecht darin zu stehen.
Etwas Hartes zerbrach unter ihrem Fuß. Danae bückte sich danach und hob einen geborstenen Knochen auf. Also war es wohl ein großer Vogel. Groß genug, um Beutetiere von der Größe einer Ziege zu fangen, das verriet ihr die Länge des Knochens. Schnell drückte sie sich flach an die Wand, um möglichst viel Licht in den hinteren Teil der Höhle zu lassen.
Auf dem Boden lagen die unterschiedlichsten Dinge herum: Zweige, Münzen, Steine, Tonscherben, Stofffetzen und sogar etwas, das früher zu einer Rüstung gehört haben mochte. Ihr Puls beschleunigte sich. Vögel legten sich nicht solche Sammlungen zu, nicht einmal Elstern.
Ein schrilles Kreischen durchdrang das Heulen des Windes. Hastig zog sich Danae wieder an den Höhleneingang zurück und tastete dabei nach ihrem Messer. Schon im nächsten Moment wirbelte etwas Großes, Fedriges an ihr vorbei und glitt mit rutschenden Krallen über den Boden.
Auf den ersten Blick schien es ein Adler zu sein. Der gefiederte Kopf wandte sich ihr zu. Die gelben Augen blickten wild, an dem gebogenen Schnabel hingen Eiskristalle. Mächtige braune Flügel füllten die Höhle aus und blockierten das Licht, wann immer sie gegen die Wände schlugen. Dann erst sah Danae den restlichen Körper.
Jenseits der auf Schulterhöhe wachsenden Flügel hatte die Kreatur den Leib, die Hinterbeine und den Schwanz eines Löwen. Die Vorderbeine waren eine groteske Mischung aus beiden Tieren - kraftvoll wie die einer riesigen Raubkatze, aber mit der schuppigen Haut und den langen, gebogenen Krallen eines Raubvogels ausgestattet.
Es war ein Greif. Ein Wesen, das sie nur aus Sagen und Legenden kannte.
In einem anderen Leben wäre sie vermutlich starr gewesen vor Angst, aber dieses Untier war nur ein kleiner Tropfen im Meer des Grauens, das sie bereits durchschwommen hatte.
Halb blind durch das fehlende Licht wich sie den Krallen des Greifen aus - nicht schnell genug. Danae schrie auf, als die Kreatur ihr den Unterarm aufriss, genau dort, wo die Haut nicht durch das Löwenfell geschützt war. Ihr aufwärtsstoßendes Messer streifte lediglich eine Flügelspitze. Der Greif stieß einen kehligen Laut aus, irgendetwas zwischen Kreischen und Knurren, und griff sie noch wütender an.
Sie war so müde. Lange würde sie das nicht durchhalten.
Doch es gab immer noch eine andere Möglichkeit.
Keuchend warf sie sich gegen die Wand, um dem nächsten Schlag zu entgehen, und prallte dabei mit dem Ellbogen gegen den Fels. Nein, sie war zu schwach, um ihre Kräfte einzusetzen. Ihre Unterarme waren schon halb zerfetzt, und ihre Energie reichte kaum noch aus, um den Angriffen des Greifen auszuweichen.
Was würde Herakles tun? Er hatte gegen ein Dutzend Kreaturen gekämpft, die schrecklicher waren als diese, und hatte überlebt. Der hatte allerdings den Vorteil seiner übermenschlichen Kraft auf seiner Seite. Ohne ihre besonderen Fähigkeiten blieben ihr nur das Messer und das schützende Löwenfell, das allerdings so leicht von ihrem Rücken gerissen werden konnte wie die Flügel eines Schmetterlings.
Das Löwenfell.
Wieder stürzte sich der Greif auf sie. Wenn ihr Plan schiefging, war sie tot. Die Kreatur hatte sie bereits bis an das hintere Ende der Höhle getrieben. Bald hätte sie nur noch die nackte Felswand im Rücken, und dann würde das Untier sie auf jeden Fall in Stücke reißen.
Sie senkte den Kopf, sodass sich das Löwenhaupt direkt vor dem Greifen befand, und stieß ein lautes Brüllen aus.
Für einen kurzen Moment zögerte die Kreatur.
Danae packte das Messer mit beiden Händen, legte ihr gesamtes Gewicht in den Stoß und riss die Klinge hoch. Sie schob sich zwischen Federn hindurch, bohrte sich in festes Fleisch. Der Schrei des Greifen erstarb, als die Waffe seine Luftröhre durchstieß. Blut spritzte auf Danaes Hände. Sie klammerte sich weiter an ihr Messer, während sich das Untier im Todeskampf wand. Erst als es reglos zusammenbrach, ließ sie los.
Am liebsten hätte sie sich ebenfalls fallen lassen, aber jetzt musste sie schnell handeln. Schon in wenigen Sekunden wäre die Lebenskraft des Greifen verloren. Suchend drückte sie eine Hand auf die Wunde und tastete nach dem immer schwächer werdenden Puls.
Plötzlich schien sie doppelt zu sehen, denn die glühenden Stränge der Energie, die alle Lebewesen durchströmte, legten sich über die stoffliche Welt. Auch unter der eigenen Haut konnte Danae sie sehen, nahm wahr, wie sie durch ihre Adern schoss, unaufhaltsam in ihrem zyklischen Netz der Kraft. Ebenso strahlten die Lebensfäden des Greifen, sie quollen...
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