1.
Sie schlugen ihn. Sein Gesicht war dunkel, und sie schlugen ihn. Junge Männer mit rasierten Köpfen und hohen schwarzen Schnürstiefeln schlugen den Mann zu Boden. Ich tat nichts und ging weiter. Ich hörte seine Schreie. Aber ich ging weiter. Mir hatten sie nichts getan.
Doch das Bild des Mannes am Boden ist seitdem in mir. Längst weiß ich, ihre Schläge galten auch mir. Haben wir nichts daraus gelernt? Gar nichts daraus gelernt? Es passierte doch schon einmal .
Es waren Tage der Gewalt. Es geschah in Berlin und in Paris und Wien und auch in Budapest. Das Böse begann bereits 1931 Europa in Besitz zu nehmen. Er war noch ein Junge, sah aber bereits aus wie ein Mann, und sie schlugen ihn mit Wut und Verachtung und Berechnung. Und er, André, lachte. Auch deswegen schlugen sie ihn. Der Polizeioffizier sah dabei zu, saß breitbeinig auf einem Stuhl in der Wachstube des Präsidiums und sah zu und pfiff dabei einen deutschen Schlager. Das Lied vom Kleinen grünen Kaktus. Mit gespitztem Mund nickte er seinen Männern zu. Ihn amüsierte der Frechdachs mit den mutwilligen Augen und dem unbändigen Haarschopf. Sie wollten nichts von ihm. Sie wollten nur strafen.
So war das damals im Budapest des Horthy. André war auf einer Demonstration gewesen, und sie hatten ihn aus dem Marschzug herausgegriffen. Er war auf fast allen Demonstrationen des letzten Jahres gewesen. Niemand hatte ihn dazu angehalten. Er war nicht einmal ein Kommunist, wie sie ihn schimpften. Er war ein Jude, aber das war ihm nur am Passahfest bewusst. Aber er wusste, was Recht und Unrecht war. Damals wusste man dies. Sie lebten nicht in Buda, sondern im weniger mondänen Pest, in dem sich auch leben ließ, obwohl man Angst und Elend und Zorn sehen konnte. Er war in dem Alter, in dem man nicht einsieht, dass die einen in Armut leben und die anderen in Buda in weißen Villen, die Licht verströmten und aus denen in lauen Sommernächten Musik und das perlende Lachen elegant gekleideter Frauen zu hören war.
Er marschierte hinter roten Fahnen her, aber er ging auch gern nach Buda hinaus und betrachtete sehnsuchtsvoll die weißen Villen mit den chromblitzenden Automobilen davor, aus denen Menschen stiegen, die ihm so anders erschienen als die in Pest. Sie zeigten eine Anmut und eine Leichtigkeit des Lebens, die niemand in seiner Straße kannte. Er neidete es ihnen nicht. Neid war ihm zeit seines Lebens fremd. Aber in seinen jungen Jahren sah er nicht ein, warum nicht alle so leben konnten. Das war sein ganzer Kommunismus, und er war siebzehn Jahre alt. Ein Alter, in dem sich die Weichen eines Lebens entscheiden.
Er sah also älter aus, als er war, und in Pest, in der Vorashâzstraße war er der Anführer einer Jugendbande, die manchen Unfug trieb, doch deren größte Missetat bestand darin, die Kaufleute in der Parisi Udvar Passage um einige Flaschen Tokajer oder einige Päckchen Zigaretten zu erleichtern. Man schrieb ihnen auch eingeworfene Fensterscheiben und besudelte Wände zu, die zum Widerstand gegen den Kapitalismus aufriefen, was nicht in jedem Fall zutraf. Die Mädchen der Besayhö-Familie, die neben dem Modeatelier der Mutter wohnten, sahen in ihm einen Helden, obwohl sie doch einem Adelsgeschlecht angehörten und er, André, nur der Sohn des Modeschneiders Friedmann war, der als notorischer Spieler und 'Bruder Leichtfuß' galt, dessen Modeatelier jedoch durch die Tatkraft der Mutter selbst für die Budapester Gesellschaft ein Begriff war, denn die Frauen der Honoratioren Budapests bestellten ihre Kleider im Modeatelier Friedmann in der Varoshâzstraße 10.
André haftete schon damals diese Aura des Besonderen an. Es war noch verpuppt, aber später sprach man davon, dass er an Kiplings Lord Jim oder Fitzgeralds Gatsby erinnerte, und manche Freunde in seiner Pariser Zeit verglichen ihn mit der Eleganz und dem Esprit eines Byron. So etwas war schon zu erahnen, selbst wenn er noch in kurzen Hosen mit dem verwegenen Lächeln eines D'Artagnan durch Pest stolzierte und sich von den Besayhö-Mädchen bewundern ließ. Er war sich seines Wertes bewusst. Schon damals ging er davon aus, dass er Großes erreichen würde, wenn er auch nicht hätte sagen können, was dies war. Selbst mit seinem ewig zerzausten ungebärdigen Haar und dem schmutzigen Gesicht waren die Besayhö-Mädchen davon überzeugt, dass er etwas zu werden versprach wie die Ritter in den Romanen von Sir Walter Scott. Ein Ivanhoe.
Und nun schlugen ihn die Polizisten. Sie hatten ihn in die Wachstube gestoßen. Einer von vielen. Grobe Hände drückten seinen Kopf herunter und hielten seine Hände fest, und Faustschläge prasselten auf ihn ein. So taten sie es bei allen. Aber diese lachten nicht und er, André Friedmann, trotzte den Schmerzen und lachte mit blutigem Gesicht. Der Polizeioffizier in der prall sitzenden Uniform und einem feisten selbstzufriedenen Gesicht feuerte seine Männer an, härter zuzuschlagen. Sie hörten es gern.
Als er aufwachte, befand sich André in einer Zelle. Benommen rappelte er sich hoch. Der Kopf tat ihm weh, der Kiefer und die Rippen und der Schritt. Oh ja, sie hatten sich redlich Mühe gegeben. Er unterdrückte die Tränen. Zeig es ihnen nicht, forderte er sich auf. Du bist André Friedmann. Kümmere dich um das Wesentliche. Wie kommst du hier raus? Es war eine große Zelle. Neben ihm lagen andere, auch kaum älter als er. Einige waren aus seiner Straße. Unter ihnen Szandor, den sie Duck nannten, wegen seiner untersetzten Gestalt und seinem watschelnden Gang. Szandor war mehr als ein Kamerad. Er war sein erster Gefolgsmann, ein Freund, verlässlich und treu, zudem stark wie ein Ringer. Von Natur aus gutmütig, setzte er seine Kräfte nur ein, wenn er gereizt wurde oder der von ihm verehrte Anführer es verlangte.
"Na Kumpel, wie geht's dir?", fragte André und versuchte das Lächeln, das in dem Filmen aus Amerika sein Held Douglas Fairbanks lächelte.
Diesmal gelang es ihm nicht besonders gut. Der Kiefer schmerzte. Seine Stimme hörte sich an wie das Krächzen der Raben über der Festung Buda.
"So, wie du aussiehst, fühle ich mich!", stöhnte Duck und verdrehte die Augen. "Was werden die mit uns machen?"
"Was sollen sie noch mit uns machen? Die Prügel haben sie uns doch schon verabreicht. Sie werden uns laufen lassen."
"Die Frage ist nur: wann."
"Mach dir keine Sorgen. Sie werden sich kaum unnütze Esser ins Haus holen. Für die sind wir doch nicht wichtig."
"Es gibt Gerüchte, dass Verhaftete verschwunden sind. Einfach verschwunden."
"Das waren Parteimitglieder. Funktionäre. Wir sind noch nicht einmal Mitglieder bei den Jungen Pionieren. Nein, wir sind zu unwichtig für sie!", widersprach André.
Er sah zum Fenster über ihnen, durch das das erste Licht des Morgens in die Zelle fiel. Eine ganze Nacht waren sie nun im Polizeigefängnis von Budapest. Langsam fielen Sonnenstrahlen in die Zelle. Aber dies verbesserte nicht den Anblick. Sie waren acht Jugendliche und sie sahen alle nicht besonders gesund aus. Die Wände glänzten feucht. Es war kalt in der Zelle.
"Wir sollten abhauen", sagte André und reckte sich.
"Hier kommen wir nicht raus", widersprach Duck mutlos.
"Nein. So meine ich es nicht. Wir sollten aus Ungarn abhauen. Hier wird nichts aus uns."
"Und wo willst du hin?"
"Nach Deutschland."
"Auch da gibt es Faschisten. Vielleicht Schlimmere als bei uns."
"Wo gibt es keine Faschisten?"
"In Amerika."
"Ich weiß nicht. Da sind die Neger die Juden!", widersprach André nachdenklich.
Gewiss, Amerika war eine Alternative. Aber er hatte Jack London gelesen und Sinclair Lewis. Alles schien dort auch nicht in Ordnung zu sein.
Er war ein großer Leser und Stammgast in der Öffentlichen Bibliothek des Belváros-Viertels. Zuerst hatte ihn die Geschichte der Griechen begeistert, und er kannte sich aus mit den Heldentaten eines Achilleus oder Odysseus. Lange Zeit war das Haus mit den vornehmen weißen Säulen, das der Varoshâz-Straße 10 gegenüberlag, die Burg des Priamos gewesen, sein Troja. Später hatten ihn dann Dumas, Hugo und Zola in den Bann geschlagen, und schließlich war er bei den Amerikanern gelandet, und er kannte einiges von Jack London, Sinclair Lewis und sogar von Fitzgerald und Hemingway. Die Romane waren für ihn Leben. Es passierte wirklich. In seinem Kopf. Immer wieder. Tagträume, die ihn dazu verführten, Wagnisse einzugehen, über die die Mutter die Hände über dem Kopf zusammenschlug. Man gab in der Familie Friedmann nicht allzu viel auf Romane. Das Leben war ohnehin schwer genug.
Im Zellengang waren Schritte zu hören. Alle strafften sich. Die Angst vor weiteren Schlägen stand ihnen im Gesicht.
"Sie holen uns!", flüsterte Duck panisch.
Zwei Polizisten standen vor der Zelle. Aber ihre Knüppel hingen noch an ihren Gürteln. Sie schlossen die Zelle auf.
"Wer von euch Pack ist André Friedmann?", schrie der Rotbäckige der beiden Polizisten.
André wusste nur zu gut, dass sein gemütliches Gesicht täuschte.
Er trat vor. Duck stieß einen warnenden Laut aus. André zuckte mit den Schultern.
"Das bin ich!", sagte er und versuchte, selbstbewusst dreinzublicken. Er durfte diesen Männern gegenüber keine Angst zeigen.
"Auch noch der...