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Aus dem Arabischen von Mirko Vogel
Ich traf Nadia in einem kleinen Zimmer in einem Vorort von Kairo. Sie empfing mich in einem weiten, bunten Gewand, mit einem breiten Lächeln und glänzenden tiefschwarzen Augen. Wie viele andere Tausend Sudanesinnen und Sudanesen ist sie aus ihrer Heimat nach Ägypten geflohen. Sie lebte mit ihrem Ehemann lange Jahre im Zentralsudan, bis der Putsch von Baschir Ende der achtziger Jahre einen dunklen Schatten auf ihr Leben warf. Fortan wurden die beiden wegen ihrer oppositionellen Aktivitäten vom Regime verfolgt und mussten schließlich getrennte Wege gehen.
Nadia kam im Jahr 2004 nach Kairo und registrierte sich beim Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR. Ihre Lebenssituation stabilisierte sich mit der Zeit zumindest in einem gewissen Maße. Daraufhin beschloss sie, anderen zu helfen, die - wie sie - wegen unglücklicher Umstände in ein entferntes Land gehen mussten. Zur Vorbereitung auf ihre Tätigkeit als Sozialarbeiterin nahm sie an einigen Trainingskursen teil und sammelte danach im Bereich der Flüchtlingshilfe viel praktische Erfahrung. Zudem gelang ihr der Aufbau effektiver Unterstützungsnetzwerke, um die Lebensumstände vieler Frauen, Männer und Kinder zu verbessern, die auf ihrer Flucht unzählige Dinge verloren hatten.
Eine wichtige Station für Nadias beruflichen Werdegang war das Nadeem-Zentrum für die Rehabilitierung von Gewaltopfern.1 Dieses Zentrum wurde 1994 von Psychiaterinnen und Psychotherapeuten gegründet, die sich dem Kampf für Menschenrechte verschrieben hatten, und hat seitdem Tausende von traumatisierten Flüchtlingen behandelt. Diese lernen dort, mit den Auswirkungen ihrer Traumata umzugehen, um auf diese Weise wieder ein »normales« Leben in der Gesellschaft führen zu können. Das Problem ist aber, dass ihnen oft nicht nur in der Vergangenheit unvorstellbar Schreckliches widerfahren ist, sondern auch ihre gegenwärtige Lebenssituation kaum schlimmer sein könnte. Misshandlungen durch ägyptische Sicherheitskräfte etwa führen in vielen Fällen zu Traumatisierung beziehungsweise Retraumatisierung.
Laut der UNHCR-Statistik für das Jahr 2018 leben etwa eine Viertelmillion Geflüchtete in Ägypten. Mehr als die Hälfte von ihnen wohnt in der Hauptstadt, die wegen der Zuwanderung aus anderen Landesteilen bereits aus allen Nähten platzt. Manche können sich ein Leben in Kairo nicht mehr leisten und werden in Vororte und Randbezirke abgedrängt. Die Flüchtlinge kommen aus vielen verschiedenen Ländern: aus Somalia und Eritrea, aus dem Irak und aus Syrien, aus Äthiopien und aus dem Sudan, und nicht zuletzt aus Palästina.2 Auch wenn sich die Gründe für die Flucht von Gruppe zu Gruppe und von Individuum zu Individuum unterscheiden, so haben doch alle das gleiche Recht auf Asyl. Denn jeder Mensch hat das Recht, sich einen Ort zu suchen, wo er in Sicherheit und Würde leben kann.
Flüchtlinge aus dem Sudan
Momentan machen Sudanesinnen und Sudanesen 16 Prozent der Geflüchteten in Ägypten aus, was einen massiven Rückgang im Vergleich zu den Vorjahren bedeutet, wo ihr Anteil fast 75 Prozent betrug. Der Grund dafür ist die Eskalation der Krise in Syrien, die Hunderttausende dort zur Flucht in die angrenzenden Länder zwang. Andernfalls wären sie zwischen den Fronten zermahlen worden: auf der einen Seite von Regierungstruppen, auf der anderen Seite von der bewaffneten Opposition und religiösen Terrororganisationen, die in Syrien einen fruchtbaren Boden vorgefunden hatten.
Ethnische Konflikte sind ein wesentlicher Faktor, weswegen Menschen ihre Heimat verlassen müssen. Nadia erinnert sich an verschiedene gewalttätige Perioden in der Geschichte des Sudan, die Fluchtbewegungen in großem Ausmaß auslösten, wodurch die Asylanträge in Ägypten anstiegen. Das erste dieser Ereignisse war der Bürgerkrieg zwischen dem Norden und dem Süden, der im Jahr 1983 begann. Im Jahr 2003 brach der Darfur-Konflikt aus, als Sicherheitskräfte der Regierung sich mit den Janjaweed-Milizen verbündeten und begannen, die lokale Bevölkerung - die Darfuris - systematisch zu ermorden, was einem Völkermord gleichkam. Als sich dann im Jahr 2008 auch noch die Krise in den Nuba-Bergen zuspitzte, wurde die Lage vollends unübersichtlich.
Die Wirtschaftskrise im Sudan
Auch wenn das islamische Regime im Sudan Oppositionelle, wie etwa Mitglieder der Sudanesischen Kommunistischen Partei, weiterhin verfolgt, ist dies nicht mehr der wichtigste Fluchtgrund. War in den vergangenen Dekaden die politische Unterdrückung der wichtigste Grund für eine Flucht aus dem Sudan, so änderte sich die Lage im Jahr 2015 mit dem Beginn einer massiven Wirtschaftskrise, die alle Teile des Landes erschütterte. Insbesondere als essentielle Güter wie Brot und Brennstoff knapp wurden, stiegen die Flüchtlingszahlen wieder an.
»Das Fladenbrot ist mittlerweile so klein wie ein Hamburgerbrötchen und kostet ein ganzes Pfund«, zitiert Nadia ihre Familie, niemals zuvor habe es im Sudan eine derartige Wirtschaftskrise gegeben. Ägypten stehe dagegen trotz der sich auch hier verschlechternden Wirtschaftslage vergleichsweise gut da.
Ein Grund für die Krise ist die im Jahr 2011 erfolgte Abspaltung des Südsudan, dem nun mehr als die Hälfte der Erdöleinnahmen des Staates zukommt, wodurch das sudanesische Pfund massiv abgewertet wurde: Kostete ein Pfund 2009 noch 0,40 Dollar, war es 2014 nur noch 0,13 Dollar wert. Mittlerweile liegt der Wechselkurs bei 0,05 Dollar. Durch diesen Kursverfall verschlechtern sich die Lebensbedingungen auf besorgniserregende Weise.
Reicher Süden - armer Süden
Auch wenn der Süden die ressourcenreichste Region des Sudan ist, profitiert die dortige Bevölkerung nur wenig von diesem Reichtum, da die weite Verbreitung von Malaria die wirtschaftliche Nutzung einschränkt. Zudem hat der Kampf verschiedener Fraktionen um die Macht im neu gegründeten Staat die Wirtschaft so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass Bürger des Südsudan nun aus Angst vor einer Hungersnot und einer weiteren Verschlechterung der Sicherheitslage nach Norden ziehen. Einige, denen die Flucht aus dem Südsudan gelingt, reisen weiter nach Ägypten, was die ethnische Diversität der sudanesischen Flüchtlingscommunity dort erhöht: Zusätzlich zu Menschen aus dem Darfur und den Nuba-Bergen sowie zu Oppositionellen aus dem zentralen und nördlichen Sudan leben in Ägypten nun auch Bürger des kurz vor dem Zusammenbruch stehenden Südsudan.
Ein relativ neues Phänomen ist die Fluchtbewegung von Sudanesen, die nicht in ihrer Heimat, sondern in Libyen ihren Ursprung hat. Seit Entführungen und Menschenhandel durch bewaffnete Banden in der libyschen Wüste zugenommen haben, flüchten viele eigentlich in Libyen lebende Sudanesen ostwärts nach Ägypten.
Der Leidensweg
Der Leidensweg der Geflüchteten, den sie gehen müssen, um einen Aufenthaltstitel zu erhalten, beginnt im Büro des UNHCR in der »Stadt des 6. Oktobers«, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur schwer zu erreichen ist, da die Zufahrtsstraßen ständig verstopft sind. In diesem Büro bekommen sie ein Formular in die Hand gedrückt und werden gebeten, in drei Monaten wiederzukommen. Eine Abgabe des Formulars vor Ablauf dieser Dreimonatsfrist ist nicht möglich.
Für die meisten Geflüchteten stellt die weite und somit teure Anreise zum UNHCR eine große Hürde dar. Aber mit dem Überwinden dieser Hürde ist man noch längst nicht am Ziel, wie viele in den letzten Jahren feststellen mussten. Nachdem sie sich aufwändig Geld für die Reise geliehen und die Mühen des Weges auf sich genommen haben, werden sie oft gar nicht ins Büro eingelassen, wenn die Maximalzahl der Besucher für diesen Tag bereits erreicht worden ist. Einige entschieden daraufhin, auf dem Boden vor dem Gebäude zu übernachten, weil sie sich die Reise kein zweites Mal leisten können. Andere machten aus dieser Tragödie ein Geschäft, indem sie morgens ihren Namen auf die Warteliste setzen ließen, um ihren Platz dann an später Eintreffende zu verkaufen. Dieser Handel florierte, bis der UNHCR davon erfuhr und eine telefonische Terminvergabe einrichtete. Trotz eines Termins, so erzählt Abdelkader, habe er mehrfach unverrichteter Dinge die Rückreise antreten und am nächsten Tag wiederkommen müssen, da er wegen des großen Andrangs nicht eingelassen worden sei.
Die nächste Etappe des Leidenswegs beginnt, wenn dem Geflüchteten ein weißer Zettel ausgehändigt wird. Dieser Zettel, vom UNHCR mit seinen persönlichen Daten und seinem Foto bedruckt, dient als Ausweis. Nach sechs oder sieben Monaten wird dieser dann gegen eine gelbe Karte eingetauscht, die ihren glücklichen Besitzer als registrierten Flüchtling ausweist. Wenn der Asylantrag abgelehnt wird, bekommt die Karte eine andere Farbe: Blau bedeutet, dass er zu jedem beliebigen Zeitpunkt abgeschoben werden kann. Solange über den Asylantrag noch nicht entschieden ist, bleibt die Karte gelb. Der Geflüchtete hängt in der Luft und klammert sich an Hoffnungen, die im Laufe der Jahre immer blasser werden.
Seine gelbe Karte trägt der Flüchtling dann zum ägyptischen Außenministerium, wo er sich registriert und eine Nummer erhält. Nach etwa sechs Wochen begibt er sich zu einem gigantischen Gebäude, in dessen Flügeln die ägyptische Bürokratie ihren Sitz hat. Dort wartet er vor einem Fenster, um zu erfragen, ob sein Name bereits vom Außenministerium übermittelt worden sei. Dafür muss er vor dem Komplex übernachten, um sich einen Platz zu sichern. Wer zu später Stunde in dieser Gegend spazieren geht, kann in dem Park vor dem Gebäude Dutzende von Geflüchteten liegen sehen, die ungeduldig auf den Sonnenaufgang warten.
Wenn der Flüchtling Glück...
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