NICOLAI HARTMANN: NEUE WEGE DER ONTOLOGIE
1.
[Das Ende der alten Ontologie]
Heute mehr als je ist es die Überzeugung der Ernstgesinnten, daß die Philosophie praktische Aufgaben habe. Das Leben der Einzelnen und der Gemeinschaft gestaltet sich nicht nach seinen Nöten und Schicksalen allein, sondern jederzeit auch nach der Kraft der Ideen, die in ihm führend werden. Ideen sind Mächte des Geistes, sie gehören dem Reich des Gedankens an, der Gedanke aber hat seine eigene Disziplin und seine eigene Kritik - die Philosophie. Darum ist Philosophie berufen, das Heutige und Aktuelle mit zu umfassen und mit zu arbeiten an dem, was nottut.
Viele, die dieses empfinden, machen es zur Bedingung ihrer Beschäftigung mit philosophischen Dingen, auf möglichst geradem Wege zur Lösung dringlicher Fragen der eigenen Gegenwartssituation geführt zu werden; und wenn statt der geraden Wege mannigfache Umwege nötig werden, so wenden sie sich ernüchtert ab und meinen, die Philosophie treibe nichts als ein weltfremdes Gedankenspiel. Die Ungeduld des Wissenwollens läßt sie nicht zu jener Versenkung in die Probleme kommen, mit der die Einsicht allererst beginnt. Sie wollen mit dem Ende anfangen. Sie wissen nicht, daß sie sich damit gleich beim ersten Schritt von der Philosophie ausschließen.
Es war immer die Stärke des deutschen Geistes, daß er der Ungeduld Herr wurde, den Weg der Besinnung fand und das weite Ausholen nicht scheute, auch da, wo die Erfordernisse aktuell und die Aufgaben dringend waren. So war es beim Cusaner, Leibniz, Kant und Hegel. So ist es im Grunde wohl noch heute, trotzdem wir Zeiten des Abweichens von dieser Linie hinter uns haben, die alle Gefahren der Verflachung und Vereinseitigung mit sich brachten. Gerade wo die Aufgaben am dringendsten sind, muß echte Philosophie an die Grundlagen zurückgreifen. Es gibt keinen anderen Weg, einer neuen Weltlage neues Gedankengut zu erobern.
Die Philosophie kann an praktische Aufgaben nicht ohne Wissen um das Seiende herantreten. Die Aufgaben selbst eben wachsen aus dem Gesamtbestande der Realverhältnisse hervor, und diese müssen verstanden und bis in die Wurzeln hinein durchdrungen sein, wenn der Mensch daran geht, sie nach seinen Zielen zu gestalten. So baut alle Technik auf dem exakten Wissen um die Gesetzlichkeit der Natur auf, so die Medizin auf biologischem, die Politik auf historischem Wissen. In der Philosophie ist es nicht anders; nur ist ihr Gegenstand ein universaler, den ganzen Menschen und die Welt, in der er lebt, umfassender. Darum ist die Ausgangsebene des Seienden in ihr nicht so unmittelbar einsichtig. Und darum gibt es immer wieder Zeiten, in denen sie ohne ontologisches Fundament ihre Wege gehen zu können meint.
Tatsächlich kann keine Philosophie ohne irgendwelche Grundanschauungen über das Seiende bestehen. Das gilt unabhängig von Standpunkt, Richtung und Weltbild. Daß nicht eine jede mit Erörterungen über das Seiende beginnt, liegt an der Leichtigkeit, mit der auf diesem Problemgebiet Anschauungen übernommen und unerörtert zugrunde gelegt werden. Man bemerkt sie gar nicht, man ahnt auch nicht, in welchem Maße sie für alles Weitere entscheidend sind. Schon die natürliche Weltansicht, die alle Dinge als substantielle Träger wechselnder Eigenschaften und Verhältnisse versteht, ist eine ontologische Vorentscheidung; in weit höherem Grade aber gilt das von den philosophischen, durch einen bestimmten Standpunkt bedingten Weltbildern.
Es gibt unter den geschichtlich vorliegenden Systemen der Philosophie keines, für das der Problembereich des Seienden überhaupt und als solcher nicht wesentlich wäre. Die tiefsinnigeren unter ihnen haben denn auch zu aller Zeit die Seinsfrage gestellt und sie entsprechend ihrem Gesichtskreis zu beantworten gesucht. Ja, man kann je nachdem, ob diese Frage gestellt und behandelt ist, die Lehrsysteme in fundierte und unfundierte einteilen, und zwar wiederum ohne Unterschied des Standpunktes und der besonderen Lehrtendenzen. Die bedeutenderen Leistungen aller Zeiten, schon dem oberflächlichen Blick kenntlich durch ihre weitgreifende Wirkung, sind ohne Ausnahme fundierte Systeme.
Das bedeutet keineswegs, daß sie ontologisch aufgebaute oder gar realistische Systeme wären. Gute Beispiele dafür sind gerade die großen Lehrgebäude des deutschen Idealismus. Wenn Fichte in seiner früheren Wissenschaftslehre das Sein der Dinge auf produzierende Tätigkeiten des Ich zurückführt, so ist das eine Antwort auf die Frage, was das Sein der Dinge sei; es ist also eine seinstheoretische Grundthese, die grundlegend für alles Weitere ist, und zwar bis zu den eigentlich aktuellen Fragen hin, um die es dieser Wissenschaftslehre zu tun war, den Fragen nach dem Menschen, dem Wollen und der Freiheit.
Dasselbe gilt mutatis mutandis von Schelling und Hegel in allen Phasen ihrer Philosophie, einerlei, ob das letzte Seinsfundament in der unbewußten Intelligenz, in der Indifferenz von Subjekt und Objekt oder in der absoluten Vernunft gesucht wurde. Ja, es gilt in der gleichen Weise auch schon für Kant, und sogar für Berkeley. Wie grundverschieden auch der Immaterialismus des letzteren vom transzendentalen Idealismus sein mag, die These »esse est percipi« ist doch eine ebenso seinstheoretische Entscheidung wie die wohlausgewogene Behauptung Kants, die Dinge in Raum und Zeit seien bloße Erscheinungen.
In den grundlegenden Thesen also, sind die idealistischen Systeme um nichts weniger ontologisch aufgebaut als die realistischen. Der große Unterschied von den letzteren ist nur, daß ihr Seinsbegriff selbst ein abgeleiteter ist. Und damit freilich treten sie in einen unaufhebbaren Gegensatz zu der Tradition der alten Ontologie. Dieser Gegensatz ist ein bewußter, aus erkenntnistheoretischen und ethischen Gründen gewollter; er hat, da es den Epigonen im 19. Jahrhundert nicht mehr um die Fundamentalfragen ging, zur Auflösung der alten Ontologie geführt. -
Diese Auflösung nun bedeutet einen entscheidenden Schritt in der Geschichte der philosophischen Theorien. Sie beginnt auch nicht erst im Idealismus, sie bereitet sich mit der allgemein neuzeitlichen Wendung zur erkenntnistheoretisch-kritischen Grundlegung der Philosophie vor und erreicht bereits im Ausgang des 17. Jahrhunderts bei Leibniz einen ersten Höhepunkt. Dieser ist in seiner Art selbst eine durchaus ontologische Gedankenschöpfung, aber in der Hauptsache hat Leibniz bereits die Bahnen der alten Ontologie verlassen.
Es fragt sich also, was die alte Ontologie eigentlich war. Gemeint ist mit ihr die Seinslehre, die von Aristoteles bis zum Ausklang der Scholastik die herrschende war. Obgleich sie eine Fülle divergierender Spielarten hervortrieb und schließlich in eine unheilbare Spaltung der Richtungen auslief, war sie doch in den Grundzügen einheitlich und schwebte noch den Denkern der Neuzeit, die von verschiedenen Seiten her den konzentrischen Angriff auf sie vollzogen, als ein einziges gegnerisches Lager vor.
Die alte Seinslehre hing an der These, das Allgemeine, in der essentia zur Formsubstanz verdichtet und im Begriff faßbar, sei das bestimmende und gestaltgebende Innere der Dinge. Neben die Welt der Dinge, in die auch der Mensch eingeschlossen ist, tritt die Welt der Wesenheiten, die zeitlos und materielos ein Reich der Vollkommenheit und des höheren Seins bildet. Die extremen Vertreter dieser Lehre sprachen den allgemeinen Wesenheiten sogar die eigentliche und allein wahre Realität zu und entwerteten damit die zeitlich-dingliche Welt. Die Nachfahren im 19. Jahrhundert, die das Allgemeine nur noch in Form des Begriffs kannten, nannten diese Richtung »Begriffsrealismus«. Der Ausdruck ist irreführend, denn gerade im Begriff sollten die »Universalien« nicht aufgehen. Wohl aber darf man hier von einem Universalienrealismus sprechen.
Die scholastische Ontologie blieb nicht auf diese extreme Fassung beschränkt. Sie zeigt die Universalienlehre in sehr verschiedener Abstufung. Es war nicht nötig, den Wesenheiten ein Sein »vor den Dingen« und »über« ihnen zuzusprechen; man konnte sie auch nach Aristotelischer Art als die »in den Dingen« bestehenden substantiellen Formen fassen. Man vermied damit die Schwierigkeiten einer Verdoppelung der Welt, ohne doch den Grundgedanken preiszugeben. Ganz freilich konnte man sich im Mittelalter hierauf nicht beschränken, weil es ein spekulativ theologisches Interesse gab, das dahin drängte, die Universalien als im intellectus divinus vorbestehend zu denken.
Im Übrigen liegt das Wesentliche dieser Ontologie nicht in den Abstufungen der Grundthese. Es liegt auch nicht in den spekulativ-metaphysischen Tendenzen, die sich mit ihr verbanden, sondern lediglich in der Grundanschauung vom Wesen des Allgemeinen selbst: daß es bewegendes und zwecktätig bestimmendes Prinzip der Dinge sei. Es spielt hier ein uraltes Motiv des mythischen Denkens hinein: die teleologische Deutung des zeitlichen Geschehens nach Analogie des menschlichen Tuns. Aristoteles hatte diesem Gedanken eine philosophische Form gegeben und ihn fest mit der Lehre vom Eidos verbunden, und zwar in vorwiegender Orientierung an der organischen Natur. Die Wesenheit ist hiernach Formsubstanz und bestimmt als Endzweck einer Entwicklung den Werdegang des Organismus. Von hier...