Schweitzer Fachinformationen
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Das kleine Mädchen spielte im Sandkasten vor dem Haus einer mehrstöckigen Wohnanlage. Es war kalt. Der Sand war nass, patschig und steinhart. Dennoch fuhr das kleine Mädchen unermüdlich mit den Fingern durch den Dreckhaufen, der sich den Winter über an der Oberfläche des Kastens angesammelt hatte. Ein Gebilde aus altem Laub, Schneeresten und Betonsand. Trostlos. Auch die einsame Schaukel, das Klettergerüst und das Hoppelpferdchen waren alt, verrostet und trostlos. Ihr war langweilig. Es war Anfang März. Keiner wollte zu dieser Jahreszeit mit ihr draußen spielen. Alles Weichlinge. Alles Stubenhocker. Alles verfrorene, kleine Doofmänner. Typisch Stadtfräcke. Sie wäre lieber draußen auf dem Land geblieben, wo es noch normale Kinder gab, die sich auch mal dreckig machen durften. Blöde neue Arbeit vom Papa. Sie hasste das hier. Nur einen Jungen hatte sie hier kennengelernt, der anders war als die anderen. Aber ausgerechnet mit dem durfte sie nicht spielen. Der wohnte zu weit weg. Fast im Wald. Und man musste einen Bach überqueren. Nicht dass der Mama das früher was ausgemacht hätte. Aber in der Stadt war eben alles anders. Die Leute waren anders. So misstrauisch. Und nicht immer kannten die Leute einander. Eben anders als auf dem Land, wo jeder mit jedem irgendwie verbandelt war, sei es beruflich, sei es privat. Genau das hatte ihr gefallen. Aber das hier? Trostlos war es in der Stadt. Öde, wie auch der Spielplatz. Leise begann sie zu Singen. Etwas wehmütiges, denn so war ihr zumute.
"Sandmännchen kommt geschlichen und guckt durchs Fensterlein."
Bald Zeit fürs Abendessen, dann ab ins Bett. Morgen war Schule. Eine Schule, in der sie noch kaum Freunde gefunden hatte. Schade, dass Gustav so nah am Wald wohnte. Mit ihm konnte sie so toll spielen. Gut, er war ein Junge und darum oft ein bisschen grob und tollpatschig, aber wenn man es ihm sagte, riss er sich immer gleich zusammen. Er hatte auch nie wen zum Spielen. Genau wie sie. Er mochte auch so gern Spielfiguren. Genau wie sie. Nicht die dummen Prinzessinnen und Könige. Die fanden sie beide blöd. Nein, am liebsten spielten sie mit Polizeimännchen. Er hatte ganz viele davon. Mehr als sie. Duzend so viele! Dafür hatte sie eine kleine Polizeiwache und Streifenwägen. Vielleicht könnte sie ja einen davon mitnehmen, wenn es wärmer wurde. Den Gefangenentransporter! Den hatte sie ganz neu. Zu Weihnachten gekriegt. Bestimmt hatte er sowas nicht. Vielleicht konnte sie sich ja von der Mama hinbringen lassen, als Begleitung. Aber. nein, das war nicht so gut. Dann wusste Mama ja, dass sie sich schon weggeschlichen und alleine den Bach überquert hatte und in den Wald gegangen war, wo sie den Gustav kennengelernt hatte. Nein, das war wohl keine so gute Idee. Mama würde sicher schimpfen. Seit sie hier in Stuttgart waren, war eben alles anders.
"Katharina!!"
Das Mädchen legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben zum Balkon im sechsten Stock.
"Jaaa?!"
Ihre Mutter hatte schon den Mantel an.
"Ich muss gleich nochmal los. Möchtest du trotzdem unten bleiben?"
"Ja, bitte. Ist doch noch nicht spät!"
"Gut. Hast du deinen Schlüssel mit?"
"Nein. Bringst du ihn mir runter? Und meinen Transporter?"
"Aber der ist ganz neu! Muss der denn gleich dreckig sein?"
Das Mädchen schmollte gekonnt.
"Brauch was zum Spielen unten, Mama. Mir ist langweilig."
Die Mutter verschwand vom Balkon. Ein paar Minuten später erschien sie im Zugang des Hochhauses. Mit Katharinas Wolljacke, dem Schlüssel und dem Transporter. Das Kind strahlte und zog sich die pinkfarbene Jacke über. "Danke Mama!"
Nun hatte sie doch noch Gelegenheit, in den Wald zu verschwinden, wenn auch nur kurz.
"Gern geschehen. Aber nicht gleich kaputt machen." Sie reichte ihr den Transporter.
"Niemals!", versprach das Mädchen und stellte ihn vor sich in den schmoddrigen Sandkasten. Sie schob die Seitentür auf. Zwei Polizisten und ein Räuber fielen heraus. Ihre Mutter ging neben ihr in die Hocke.
"So ich geh kurz was Einkaufen. In spätestens einer Stunde bin ich wieder da. Dann können wir zusammen was spielen, bis Papa Feierabend hat."
"Prima", sagte das Mädchen. Sie hatte nur noch Augen für das Spielzeug.
"Und Kati, ich möchte nicht, dass du in den Wald gehst, hörst du? Es wird bald dunkel und wir kennen uns hier noch nicht so gut aus. Auch in einem kleinen Wald kann viel passieren."
"Ich weiß, Mama. Bis später."
"Bis später."
Sie strich ihrem kleinen Mädchen über die blonden Haare und ging zum Supermarkt, keine zwanzig Minuten von der Wohneinheit entfernt, den Hügel hinauf. Kaum war sie um die Ecke verschwunden, raffte das kleine Mädchen die Figuren zusammen, steckte sie in den Transporter zurück und nahm den Wagen unter den Arm. Sie sauste den Hügel hinab, zur Brücke am Bach hinunter. Ihre Haare wehten wie Goldfäden hinter ihr drein, ihre Wildlederstiefel polterten über das morsche Holz. In der Mitte der kurzen Brücke stoppte sie voll Hoffnung, blickte übers Geländer und spuckte dann enttäuscht ins trübe Wasser. Wieder keine Fische. Nicht mal ne Plötze! In ihrem Heimatdorf hatten sie sogar Forellen gehabt. Elende Plörre! Sie ließ sich davon nicht die gute Laune verderben, hüpfte munter weiter und hielt an den Schrebergärten entlang direkt auf den immer mehr im Dunklen versinkenden Waldrand zu. Der letzte eisige Atemzug des Winters hauchte ihr sterbend von dort entgegen, doch der Frühling lag schon in den Presswehen. Schade, sie hatte nur knapp eine Stunde, bis Mama wieder kam. Viel mit Gustav spielen konnte sie also nicht. Aber ihm den Transporter wenigstens zeigen. Das war doch auch schon was. Der würde Augen machen! Bestimmt würde er vor Neid ganz grün im Gesicht werden! Er mochte die Polizeisachen doch so gern. Sie begann erneut zu singen, diesmal etwas Fröhlicheres.
"Blüht ein Blümlein, blüht ein Blümlein, blüht im Märzenwald. Kommt der helle, der helle Frühling, kommt der Frühling bald."
Und wieder einmal lief sie fort. Das zigste Mal schon, seit sie hier wohnten. Katharina war eben ein aufgewecktes, sehr abenteuerlustiges Kind. Keine Lusche. Dann musste sie kichern, denn eine Zeile aus ihrem Lieblingsmärchen fiel ihr ein: `Wenn das deine Mutter wüsste, das Herz im Leib tät ihr zerspringen! ´
Was Mama gesagt hatte, stimmte. Es wurde wirklich schnell dunkel. Im aschgrauen Himmel fand Katharina den ersten Stern. Bis zu Gustav war es aber nicht mehr weit. Sie musste einfach schneller laufen. Sie hastete den schmalen Trampelpfad entlang, der voll von verwelkten Stängeln war. Im Sommer waren das sicher alles Brennnesseln. Kati kannte sich mit Pflanzen aus. Wenn sie da den Gustav würde besuchen wollen, brauchte sie fast ein Buschmesser. Aber bis dahin war noch Zeit und da fiel ihr schon was passendes ein. Wo ein Wille ist, sagte Papa immer, da ist auch ein Weg. Und Katis Weg war fast geschafft. Der Trampelpfad stieg leicht an und führte dann steil nach unten. Ihre Stiefel rutschten kurz, dann hatten sie wieder Griff und sie sprang den Weg bis zu einem riesigen stachligen Gebüsch. Neben dem Gebüsch erstreckten sich dichte Tannen. Mitten darin befand sich, unscheinbar und verborgen, ein rostiges Tor, dessen oberer Rand mit Stacheldraht versehen war. Kati stoppte an dem Tor. Schade, dass der Garten so verwildert war. Bestimmt war er einmal schön gewesen. Aber die Mutter von Gustav war krank und einen Papa hatte er nicht mehr. Auch ein Grund, warum sie fand, dass sie ihn öfter besuchen sollte. Sie rüttelte am Knauf des Tores.
"Guuustav!!", schrie sie. "Gustav! Ich bin´s, Kati!"
Zuerst blieb alles still. Dann hörte sie Laub rascheln und er kam über die Wiese. Er öffnete das Tor und ließ sie hindurch schlüpfen.
"Hallo, Gustav!", begrüßte sie ihn aufgeregt. "Schau mal, was ich hier hab! Einen echten Transporter, mit Polizei drin und einem Räuber!"
"Bollizei?", fragte er neugierig und öffnete die hintere Klappe des Plastikfahrzeugs. Die drei Insassen fielen heraus und vor ihm ins Gras. Er sah sich den Transporter genau an.
"Der ist toll, was Gustav?"
Er nickte anerkennend.
"Tauschen!", sagte er bestimmt. Dann wollte er sich damit in den Garten zurückziehen. Er winkte ihr, ihm zu folgen, doch Katharina schüttelte schnell den Kopf.
"Ich kann nicht. Meine Mama! Du weißt doch, wie sie ist. Außerdem tausch ich den nicht. Hallo, der ist so gut wie NEU!"
Gustav schmollte traurig. "Tauschen nicht?"
"Nein", sagte Kati störrisch mit vorgerecktem Kinn. "Und wenn, dann nur gegen was ganz Tolles! Ich muss wieder nach Hause."
"Schon Hause?"
"Ja, leider. Es wird langsam Dunkel. Aber bald ist es Frühling. Dann komm ich...
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