"Das viele Blut! Wer tut so was?"
Marie hat keine Kraft mehr, sich zu wehren, keine Kraft mehr zu schreien, den Kopf zu heben. Marie ist zusammengesackt, sie liegt am Boden, als der Täter ihr mit einem Käsemesser weitere Stiche in den Rücken zufügt, immer wieder. Schließlich wird es dunkel um Marie, die Schmerzen lassen sie bewusstlos werden.
Etwa eine halbe Stunde später und einige hundert Meter entfernt klingelt an einem Septemberabend in einem kleinen, unscheinbaren Ort der 18-jährige, kurz vor dem Abitur stehende Gymnasiast Georg an der Haustür einer Arztfamilie. Er schreit laut um Hilfe, ist weinerlich und zittert am ganzen Körper. "Wir sind überfallen worden!"
Er berichtet dem Arzt von einem Überfall auf den Getränkemarkt, in dem er als Schüler-Aushilfskraft zusammen mit Marie arbeitet. Ein unbekannter und maskierter Mann sei nach Ladenschluss in das kleine Büro getreten. "Er hat die Tageseinnahmen verlangt." Während Georg sich aus Angst kooperativ zeigte, habe Marie angefangen, sich zu wehren. "Der Räuber hat Marie angegriffen und immer wieder und mit unterschiedlichen Messern auf sie eingestochen. Danach ist er mit dem Geld geflüchtet."
Georg berichtet, wie er sich bemüht habe, den Räuber zurückzudrängen, was ihm nicht gelungen sei. "Ich habe mich um Marie gekümmert, habe eine Herzdruckmassage versucht." Weinend stößt er immer wieder hervor: "Alles stinkt nach Blut."
Der Arzt versorgt Georgs Schnittwunden an seiner rechten Hand, und seine Frau setzt eilig einen Notruf ab.
Die Polizei und die Rettungskräfte treffen auf ein grauenhaftes Szenario, das alle lange beschäftigen wird: Das Blut ist unter der Bürotür hindurch in den Flur geflossen. Ein metallischer Geruch hängt wie ein schwerer Vorhang in den Räumen. Die Rettungskräfte brechen die Tür auf und finden Marie in einer riesigen Blutlache direkt im Eingangsbereich liegen. Zahllose Blutspritzer überziehen Wände und Einrichtungsgegenstände des kleinen Raums, in dem sich neben zwei Schreibtischen eine Küchenzeile und ein Tresor befinden, dessen Tür offen steht.
Der erste Eindruck: Hier wurde nach Ladenschluss gerade die Abrechnung durchgeführt, das allabendliche Ritual in einem Geschäft. Neben dem Leichnam liegt in Schulterhöhe eine abgebrochene Messerklinge.
Kriminalbeamter: Nachdem wir von den Kollegen zu Hause angerufen wurden, begeben wir uns sofort zur Dienststelle. Es erfolgt eine kurze Einweisung. Noch ist der Sachverhalt für uns sehr vage. Und doch ist schon wenige Stunden später eine rund 40-köpfige Mordkommission gegründet, ein wahrer Kraftakt. Viele Kollegen sind bereits in der ersten Nacht im Dienst.
Die Spurensicherung wird zum Tatort bestellt. Die Kollegen in den weißen Schutzanzügen mit Mundschutz und Handschuhen ziehen alle Register: Fingerabdrücke, Schuhsohlenabdrücke werden gesichert, es werden Abriebe von Gegenständen genommen, die der Täter angefasst haben könnte; vielleicht lassen sich DNA-Spuren feststellen. Hunderte von Lichtbildern werden gefertigt, dabei immer auf der Hut, die Spuren nicht zu zerstören. Nachdem die ersten wichtigen Maßnahmen veranlasst sind, informiere ich als Leiter der Mordkommission noch am Abend die Staatsanwältin. "Eine junge Frau ist getötet worden. Wir bauen gerade eine Mordkommission auf. Die Spurensicherung ist vor Ort, es gibt noch keinen Tatverdächtigen."
Staatsanwältin: Jetzt schlägt zunächst die Stunde der Spezialisten am Tatort. Sie müssen sauber arbeiten und Beweise sichern. Bis spät in die Nacht hinein folgen zahlreiche Telefonate. Immer wieder wird besprochen, welche Maßnahmen durchgeführt werden sollen, Ideen werden ausgetauscht.
Monate nach der Tat, in der späteren Hauptverhandlung, berichtet einer der Beamten der Spurensicherung in Anwesenheit der Familie der Getöteten mit bebender Stimme: "In dem Büro gab es nahezu keine Stelle, an welcher kein Blut war."
Der Leichnam der jungen Frau wird zur gerichtlichen Sektion in das Institut für Rechtsmedizin nach Hamburg überführt. Ob ich selber an der Obduktion teilnehme, hängt davon ab, inwieweit gerichtliche Beschlüsse zu beantragen sind, wichtige Besprechungen mit der Polizei oder Vernehmungen anstehen oder unaufschiebbare Maßnahmen in parallel laufenden Verfahren durchgeführt werden müssen. Anders als in den Fernsehkrimis manchmal dargestellt, betreut ein Staatsanwalt viele Ermittlungsverfahren wegen versuchter und vollendeter Tötungsdelikte zeitgleich.
In diesem Fall nehme ich nicht an der Obduktion teil, weil ich dann geraume Zeit nicht für die Mordkommission telefonisch erreichbar gewesen wäre.
Rechtsmediziner: Zunächst erfolgen detaillierte CT-Untersuchungen vom Kopf bis zu den Fingerspitzen und Zehen. Der Körper ist geradezu übersät mit Verletzungen. Infolge von Einstichen in die linke Brusthöhle ist es zu inneren Blutungen und Gasansammlungen gekommen. Der linke Lungenflügel ist kollabiert. Blutansammlungen finden sich auch im Bereich der Hirnhäute. Es bestehen diverse Haut-, Weichteil- und Organverletzungen. Die nunmehr durchgeführte äußere Leichenschau und die sich anschließende Obduktion dauern ungewöhnlich lange. Das Sektionsprotokoll umfasst 28 eng beschriebene Seiten.
Zusammenfassend stellen wir fest: 120 Stich-, Schnitt- und Ritzverletzungen im Bereich von Gesicht, Hals, Hinterkopf, Nacken, Brust und Rücken sowie der oberen Extremitäten und am rechten Oberschenkel, davon 48 Verletzungen tiefer reichend. Am Hals diverse Stichverletzungen bis in die Halswirbelsäule hinein, linksseits mit Durchtrennung der Halsschlagader. Im Brustkorbbereich dreifache Eröffnung der linken Brusthöhle. Rippendurchstiche, zwei Einstiche im linken Lungenflügel. Am Rücken Stichverletzungen bis zur knöchernen Wirbelsäule, zu den Rippen und zum Brustbein. Defektbildung am linken Schulterblatt. Einkerbungen an der Wirbelsäule und an den Rippen. An den Armen einige Durchstichverletzungen. Im Bereich der Hände diverse Stiche bis auf den Knochen, hierbei handelt es sich um Abwehrverletzungen. Am rechten Oberschenkel Durchstich der großen Oberschenkelblutader.
Als die Staatsanwältin nach der Obduktion anruft und fragt, was wir anhand des Verletzungsmusters zum Tatablauf sagen können, berichten wir: "Wir sahen sehr zahlreiche Verletzungen mit unterschiedlichen Stichkanalverläufen sowie Stichkanaltiefen (bis maximal 14 cm). Dies spricht für ein bewegtes Geschehen mit wiederholtem Wechsel der Positionen von Täter und Opfer zueinander. Teilweise fanden sich gruppiert und gleichförmig zueinander angeordnete oberflächliche ritzartige Verletzungen, dies insbesondere an der Halsvorderseite und an der Unterarmbeugeseite. Diese sprechen für eine Fixierung des Opfers zum Zeitpunkt der Beibringung dieser Verletzungen. Deutlich sind die Fesselungsmarken an den Handgelenken. Insbesondere an den Händen zeigen sich zahlreiche Schnittverletzungen, wie sie typischerweise in sogenannten aktiven - durch Hineingreifen in ein scharfkantiges Tatwerkzeug - wie auch passiven Abwehrmaßnahmen zu sehen sind. Im linksseitigen Hinterkopfbereich sind zwei voneinander abgrenzbare Kopfhautunterblutungen als Zeichen einer stumpfen äußeren Gewalteinwirkung festzustellen, infolge derer es zu der festgestellten Blutung unter die weiche und auch die harte Hirnhaut gekommen sein dürfte. Auch die Hautunterblutungen im Bereich der linken Wange sprechen für eine stumpfe äußere Gewalteinwirkung. Im Bereich der Ellenbogen vorliegende Hautunterblutungen zeigen sich in sturztypischer Lokalisation. Aufgrund der unterschiedlichen Beschaffenheit der verschiedenen Stichverletzungen und Schnittverletzungen gehen wir von mindestens drei verschiedenen Tatwerkzeugen aus."
Auch die Frage zur Intensität der Stiche können wir beantworten: Die Stiche sind zum Teil mit größter Wucht beigebracht worden, wodurch diverse Knochen gebrochen wurden (z. B. Kiefer, Rippen, Schulterblatt). Besonders auffällig und interessant sind die oberflächlichen Verletzungen. Sie bieten den Ermittlern wichtige Informationen.
Am Ende kommt es bei der Gerichtsverhandlung tatsächlich auf die kleinen, eher unscheinbaren Verletzungen an, die nicht tödlich waren. Sie sind wichtige Puzzleteile für die rechtliche Bewertung und bringen die Ermittler der Wahrheit ein deutliches Stück näher. Zunächst fragen wir uns, warum dem Opfer oberflächliche Verletzungen beigebracht wurden, finden jedoch keine sichere Antwort. Ist es nur Zufall?
Staatsanwältin: In der späteren Hauptverhandlung wird die Obduzentin als Sachverständige vernommen. Sie beschreibt, was sie im Einzelnen festgestellt hat. Es wird ein längerer Auftritt. Dabei nimmt das Gericht zusammen mit der Sachverständigen auch die vielen Bilder in Augenschein, die während und vor der Sektion angefertigt worden sind, eine in Anbetracht des...