2 Der kulturelle Humus Europas
Ursprung im Orient
Betrachten wir zuerst den Traditionsstrom, der - unter ständigem Aggiornamento - den Humus angereichert hat, auf dem die abendländische Kultur sich entfalten konnte. Heute ist klar, dass sein Ursprung im Orient liegt, und zwar in jenen Hochkulturen, die im vierten Jahrtausend v. Chr. im Mündungsgebiet des Euphrat und im Tal des Nil bestanden. Zwar gab es zu jener Zeit noch eine dritte Hochkultur entlang des Indus. Diese ist jedoch schon ca. 15oo v. Chr. sozusagen sang- und klanglos untergegangen.
Im Mittelalter glaubte man noch, der Ursprung der Menschheit liege in Palästina und deren Geschichte sei so verlaufen, wie sie in der Bibel geschildert ist. Mit der Renaissance kam dann die Überzeugung auf, echte Kultur habe in Griechenland begonnen. Im 19. Jh. trat jedoch die Tatsache ins europäische Bewusstsein, dass die meisten jener Errungenschaften, die Kultur ausmachen, schon im alten Orient vorhanden waren.
Hochkulturen an den großen Strömen
Von der am Indus gelegenen Kultur ist nur wenig bekannt, ebenso vom Grund ihres Untergangs. Zeichen gewaltsamer Zerstörung konnten nicht gefunden werden. Es wird vermutet, dass der Grund ihres Untergangs eine ökologische Katastrophe war, welche die agrarische Grundlage zerstörte. Geblieben bzw. bis heute ausgegraben sind von jener Kultur die großen und imposanten Städte Mohenjo Daro und Harappa, beide am Ufer des Indus gelegen. Ihre Überreste sind vor allem deshalb so gut erhalten, weil die Indusleute schon den gebrannten Ziegel in Format und Größe des heutigen Backsteins erfunden hatten. Die Städte waren sehr regelmäßig angelegt, was auf souveräne Planung schließen lässt. Die Versorgung mit Trinkwasser reichte bis in die einzelnen Häuser; die Abwässer wurden systematisch beseitigt. Gebäude, die als Herrschaftssitze oder Tempel interpretiert werden konnten, wurden allerdings keine gefunden. Der Verkehr von Personen und Waren scheint sich auf den Flüssen abgespielt zu haben. Es wurden sogar Handelsbeziehungen übers Meer zu den Euphratstädten nachgewiesen. Über die Gesellschafts- und Herrschaftsstruktur der Induskultur sowie über deren Religion wissen wir noch nichts.
In Mesopotamien blühte um 3500 v. Chr. die sumerische Zivilisation. Wie die Analyse von Bohrkernen im Mündungsgebiet der Flüsse ergeben hat, war kurz vorher eine relative Trockenperiode eingetreten, sodass ein Teil der bislang überfluteten Gebiete bebaut werden konnte. Die Böden erwiesen sich als sehr fruchtbar. Archäologen haben in Südmesopotamien ca. ein Dutzend Städte ausgegraben, von denen Uruk die bedeutendste gewesen zu sein scheint. Sie gilt als erste Großstadt der Menschheit mit Stadtmauer, Palmengärten und Heiligtümern. Sie soll Sitz des legendären Königs Gilgamesch gewesen sein.
Im Unterschied zu den Städten der Induskultur waren die sumerischen aus getrockneten Lehmziegeln erbaut. Oft wurde eine Verbundtechnik aus Schilf und Lehm verwendet. Gelegentlich kamen auch schon Gips und Bitumen zum Einsatz. Vom Euphrat nach Uruk führte ein Kanal, der sich in der Stadt in ein Netzwerk schiffbarer Wasserwege verzweigte. Die Existenzgrundlage der Bevölkerung bildete eine schon hoch entwickelte Landwirtschaft. An Handwerksbetrieben konnten solche von Tischlern, Schmieden, Töpfern, Steinmetzen und Rollsiegelschneidern nachgewiesen werden. Auch kannte man schon eine Schrift, doch diente diese während längerer Zeit nur zur Kennzeichnung und Registrierung von Handelsgütern. Das Herrschaftssystem in Sumer scheint vom Typus des Sakralkönigtums gewesen zu sein. Dabei nahm man an, das Land gehöre dem Stadtgott und dieser habe den König mit der Herrschaft und Verfügungsgewalt darüber betraut.
Die zivilisatorischen Leistungen der Sumerer legen Zeugnis ab für das bis dahin gewonnene Know-how zum Umgang mit "dieser" Welt, nicht aber für den eigentlichen Stand der Bewusstseins-Evolution. Sachwissen ist eben nicht das Gleiche wie Bewusstheit. Als Gradmesser für den Evolutionsgrad des Bewusstseins eignen sich - unter anderem - die Schöpfungsmythen, die ja in sozusagen jeder Ethnie vorkommen. So erzählten sich die Sumerer, ihr Hochgott Eni, der Herr des Apu, - des Süßwassermeeres, auf dem die Erdscheibe schwamm - habe schlummern können, während die anderen Götter das Schöpfungswerk weiterführten. Die Urgöttin Nammu, Enis Mutter fand das nicht in Ordnung und holte sich Rat bei ihrem Sohn. Dieser kam auf die Idee, es seien aus Lehm Lebewesen zu formen, die den Göttern dienen sollten. Dadurch fühlte sich Nammus Konkurrentin, die Göttin Niumak zurückgesetzt. Um sich zu rächen, formte sie aus den Lehmresten verkrüppelte Gestalten. So kamen Krankheiten und Gebrechen in die Welt. Es handelt sich hier um einen noch recht plumpen Mythos, aus dem geschlossen werden kann, dass das Bewusstsein noch keinen hohen Evolutionsgrad erreicht hatte. Immerhin hatten die Sumerer das Problem der Theodizee, das christlichen Theologen so viel Kopfzerbrechen bereiten sollte, auf einfache Weise gelöst.
Fast zur gleichen Zeit wie in Sumer entstand auch in Ägypten eine Hochkultur. Sie erwuchs auf dem Boden einer Anzahl spätneolithischer Kulturen. Diese waren im Delta ausgesprochen agrarisch, in Oberägypten hingegen noch halbnomadisch-jägerisch. Über eine Anzahl von Adelsherrschaften haben sich mit der Zeit zwei Reiche ausgebildet, ein nördliches und ein südliches. Um 3000 v. Chr. sind diese - mitsamt ihrer unterschiedlichen religiösen Vorstellungen - zu einer Einheit zusammengewachsen. Das Erwachen, das diesen Verschmelzungsprozess begleitet hat, führte zu jener altägyptischen Zivilisation, deren imposante bauliche und künstlerische Hinterlassenschaften wir heute bewundern können. Auch wurde die Hieroglyphenschrift erfunden. Sie war zwar der sumerischen Keilschrift strukturell verwandt, doch hatte sich der Lautwert schon vom Bildwert gelöst, sodass auch Gedanken ausgedrückt werden konnten.
Das ägyptische Reich war ein Beamtenstaat, an dessen Spitze der Pharao stand. Dieser galt nicht nur als Beauftragter Gottes wie die Herrscher der mesopotamischen Staaten, sondern als Gott. Wie die Ägypter sich die göttliche Natur des Pharao vorstellten, ist für uns - wie so vieles des archaischen Weltverstehens - nicht nachvollziehbar. Dass er aber für die Ägypter ein Gott war, ist so sicher wie die Tatsache, dass für Katholiken über all die Jahrhunderte die geweihte Hostie der Leib Christi war.
Die Religion Ägyptens war polytheistisch. Dabei hatten die Gottesvorstellungen ihren Ursprung im direkten Erleben. In allem, was auf der Erde oder am Himmel wahrgenommen und als sacer (heiligen Schauder erregend) erlebt wurde, manifestierte sich dem Ägypter - wie heue noch vielen Indern - die Macht eines Gottes oder einer Göttin. Wir stoßen damit auf die Tatsache, dass das Welterleben des archaischen Menschen für uns nicht mehr nachvollziehbar ist, weil wir die Mutation des Bewusstseins hinter uns haben. Der archaische Mensch sah zwar die Dinge dieser Welt so wie wir, vieles sogar noch genauer. Aber gleichzeitig wusste er, dass z.B. ein Gestirn; ein Baum oder ein Berg "in Wirklichkeit" ein göttliches Wesen "war".
Je nach Gegend, historischer Epoche oder Gesellschaftsschicht waren die Gottesvorstellungen Ägyptens verschieden. Als Hochgott wurde zwar die Sonne (Re) verehrt. Man kannte aber viele Sonnengötter, je nach dem Aspekt der Sonne, der benannt werden sollte; so z.B. die verschiedenen Phasen deren täglicher "Wanderung".
Für die Evolution des Bewusstseins kennzeichnend sind vor allem jene Vorstellungen des Göttlichen, welche auf der Ebene der Pharaonen und der diesen nahestehenden Eliten entstanden. Da das Pharaonische Herrschaftssystem - wenn auch mit einigen Umbrüchen - während drei Jahrtausenden bestand, konnte die Evolution des Bewusstseins auf dem metaphysischen Zweig in Ägypten ein gutes Stück voranschreiten.
Verfolgen lässt sich dies wiederum an den Schöpfungsmythen. Lehm kneten wie die sumerischen Götter mussten die ägyptischen nicht mehr. Als in Heliopolis die Vorstellung einer einmaligen Schaffung der Welt aufkam, hieß es, der Sonnengott Re-Atum habe zuerst Luft und Wasser (Schu und Tefnut) geschaffen. Interessant ist, wie er dabei vorging. Da steht in einem Pyramidentext: "Atum, der zum Selbstbefriediger geworden ist in Heliopolis. Er nahm seinen Phallus in seine Faust, um damit Lust zu erregen. Ein Geschwisterpaar wird erzeugt, Schu und Tefnut." In einem späteren Pyramidentext wird der Schöpfungsvorgang schon etwas subtiler dargestellt. Es heißt dort: "Du (Atum) hauchtest Luft aus als Schu und spiest Feuchtigkeit aus als Tefnut". In Heliopolis wurde die Vorstellung von der Erschaffung der Welt noch weiter entwickelt. Indem man dort über das Chaos reflektierte, wurde nun zur Bezeichnung des Göttlichen ein negativer Ausdruck verwendet. Der Schöpfergott hieß nun Amun, d.h. der Verborgene. Sein Schöpfungswerk bestand darin, dass er Ordnung schuf, indem er Wesensbeschaffenheiten bestimmte.
Ein weiterer Schritt geschah, als Snofru, der Begründer der vierten Dynastie auf den Thron kam und seinen Sitz nach Memphis verlegte. Dort galt als Schöpfergott Ptah der sehr Große. Der war dort ein "alter" Hochgott. In der berühmten, auf einen Stein gemeißelten Schabaka-Inschrift heißt es, Ptah der sehr Große habe die Welt dadurch erschaffen, dass er befehlende Worte aussprach. Dabei wurde erklärt, der göttliche Mund, der die Worte aussprach, sei lediglich Vollzugsorgan gewesen. Ursprungsort der schöpferischen Worte sei das Herz: jenes Organ, das man damals als Sitz der Denkfunktion auffasste. Darin, dass die Mythen subtiler bzw. weniger plump wurden,...