Kapitel 1
Nach dem Streit mit seinem Vater war Andi mitten in der Nacht zum Bahnhof gelaufen. Er wollte nur noch weg von hier. Heim zu seiner Mutter und Christiane, seiner Schwester.
Einen Rucksack mit einer Jogginghose, ein paar Unterhosen und T-Shirts sowie einen Karton, im dem sich ein alter Plattenspieler befand - das war alles, was er bei sich hatte.
Er hatte sich schon wochenlang darauf gefreut, Jochen wiederzusehen. Es gab eine Menge zu erzählen und sie hatten viel gelacht. Irgendwann hatte es sich ergeben, dass Jochen Andi seinen alten Dual-Plattenspieler für dreißig Mark anbot. Es war genauer gesagt sogar ein Plattenwechsler, worüber Andi besonders froh war. Bei diesem Gerät konnte man bis zu zehn Schallplatten auf einen metallenen Stift stapeln, die dann einzeln hinunterfielen und der Reihe nach abgespielt wurden. Dieser spezielle Stab war jedoch anfangs nicht auffindbar, was richtig blöd war, denn er war praktisch nicht nachbestellbar. Nach einer längeren Suche hatten sie das exklusive Teil schließlich doch noch gefunden. Andi war glücklich, sein Leben war gerettet!
Er war wie geplant über Nacht bei Jochen geblieben. Das Frühstück war ausgiebig und am Mittag hatte es Bockwürstchen mit Kartoffelpüree gegeben. Alles war so normal und ungezwungen bei Jochens Familie.
Familie. Ein fremdes, aber doch wohliges Gefühl war für ihn mit diesem Wort verbunden.
Den Karton hatte er bestimmt zum hundertsten Mal von der einen zur anderen Seite gewechselt, denn er drückte unangenehm gegen seine Rippen. Er war zwar nicht schwer, aber ziemlich kantig und unpraktisch zu transportieren. Trotzdem war er froh, dass er das Ding dabeihatte. Der Plattenspieler war sein einziger Trost in dieser Nacht.
Besonders gut kannte sich Andi in Bröhlheim nicht aus, obwohl er in dieser Kleinstadt geboren war. Immerhin wusste er noch, wo der Bahnhof lag.
Nachdem sein Vater ihn dort am Vortag abgeholt hatte, waren sie zunächst zu dessen kleiner Wohnung gegangen. Andi war seit der Trennung noch nie dort gewesen und deswegen gespannt zu sehen, wie das Zuhause seines Vaters wohl aussieht. Aber der erste Eindruck war bereits enttäuschend, denn das Gebäude machte schon von außen einen ziemlich heruntergekommenen Eindruck.
Andis Vater kramte seinen Schlüsselbund hervor und schloss die Haustür auf, die unangenehm laut über die Bodenfliesen im Hausflur kratzte. Es roch scharf nach Putzmittel. Oben auf der Treppe im ersten Stock unterhielten sich zwei ältere Frauen, was durchs ganze Haus schallte. Die Wohnungstür seines Vaters war an einigen Stellen provisorisch mit Klebeband geflickt. Der Wohnungsschlüssel drehte sich im Schloss und die geöffnete Tür gab den Blick frei in einen kleinen Vorraum, in dem eine kurze Küchenzeile eingebaut war.
Sein Vater ging voraus ins Wohnzimmer, während Andi unwillkürlich die Nase rümpfte. Kalter Zigarettenrauch hing hier praktisch in allen Sachen und Möbeln für immer fest. Nach der Trennung seiner Eltern vor etwa sieben Jahren hatte seine Mutter das Rauchen aufgegeben. Offenbar hatte sein Vater hingegen seinen Rauchkonsum verdoppelt. Mindestens. Es stank ekelhaft, und außerdem war es hier schmutzig. Sein Vater hatte sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, ein bisschen aufzuräumen.
Möglicherweise bemerkte er, dass Andi die Nase verzog; jedenfalls kippte er eilig das Wohnzimmerfenster auf, hinter dem sich ein schmaler, mit allerlei Gerümpel beladener Balkon befand.
Durch das schmutzige Fenster konnte Andi eine verwilderte Gartenparzelle erkennen. Auf dem Tisch im Wohnzimmer standen zwei leere Bierflaschen und eine halbvolle und ein schmutziges Trinkglas. Ein randvoller Aschenbecher sowie Alufolien mehrerer Zigarettenschachteln gesellten sich harmonisch zu diesem Stillleben.
Die ganze Einrichtung wirkte wie aus einem schlechten Second-handshop oder auf einem Flohmarkt zusammengekauft. Die dunkelbraune Schrankwand mit glattem Eichenfurnier und die Couch erkannte Andi aus der alten Wohnung in Oberkassel wieder. In dieser Wohnung waren diese Möbelstücke jedoch gnadenlos überdimensioniert. Die unifarbenen Couchkissen schienen hingegen neu zu sein. Sie sahen aus wie einsame Accessoires aus einem Schöner Wohnen Prospekt.
Andi schaute seinen Vater an, der gerade dabei war, irgendwas zu erzählen. Er war ihm so merkwürdig fremd geworden. Ok, sein Äußeres war - solange er sich erinnern konnte - noch nie besonders attraktiv gewesen, und wenn er jetzt so darüber nachdachte, hatte er auch nie verstanden, wie sich seine Mutter überhaupt damals in ihn verlieben konnte.
Verlieben? So ein großes Wort! Wahrscheinlich ist sie nach einer unromantischen Bettgeschichte ungewollt schwanger geworden, und es gab keinen anderen Ausweg als zum Traualtar. Doch sein Vater wirkte in diesem Moment nicht nur fremd, sondern regelrecht alt! Andi gab sich Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen.
»Möchtest du was trinken?«
Andis Blick ging erschrocken zu den drei Bierflaschen auf dem Tisch, er war aber dann einigermaßen beruhigt, als sein Vater eine Flasche Fanta hochhielt.
»Nö, passt, danke!«
»Wie geht's deiner Mutter?«
Da war es wieder, dieses altbekannte und flaue Gefühl! Was sollte jetzt diese Frage, verdammt? Es interessiert ihn doch einen Scheiß, wie es Mama geht!
»Gut.«
»Ah.«
Die Redepause nutzte Andi, um sich weiter in der Wohnung umzuschauen und nachzudenken.
Was wollte er hier eigentlich? Seit der Trennung seiner Eltern, die viel mehr einer Flucht in einer Nacht-und-Nebel-Aktion gleichkam, hatte er in wiederkehrenden Abständen eine Art Heimweh, das mit nichts erklärbar war. Sein Vater war schon seit Jahren alkoholabhängig und neigte zusätzlich dazu, abwechselnd seine Mutter, ihn oder seine Schwester zu verhauen. Solche Gewaltausbrüche kamen damals so regelmäßig vor, dass sie schon zu ihrem Leben dazugehörten. Seine Mutter hatte nie den Mut aufgebracht, sich zu wehren und erduldete die Prügel und Demütigungen still. Zu allem Überfluss half sie auch noch dabei, das Ganze zu vertuschen. Nach außen waren sie eine glückliche Familie, weswegen die meisten Nachbarn und Bekannten in ihr die Schuldige ausgemacht hatten, die in deren Augen den armen Ehemann grundlos und unerwartet im Stich gelassen hatte.
Und trotzdem hatte Andi vor allem schöne Erinnerungen an früher, und das war vielleicht das Unerklärlichste von allem. Sie wohnten damals in Oberkassel, auf der gegenüberliegenden Rheinseite von Bonn. Ein geräumiger Reihenhaus-Altbau in der Adrianstraße mit einer Gartenparzelle nach hinten raus. Eine Wiese mit einem seitlichen Weg, genug Auslauf für Dina.
»Bist du eigentlich noch in Köln bei der Druckerei?«
Andi stellte diese Frage im Grunde nur, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Sein Vater hatte nach der Bundeswehrzeit bei der Druckerei Gessler in Köln eine Lehre als Schriftsetzer gemacht. Nach ein paar Gesellenjahren war er dann in die Abteilung Korrektur gewechselt. Sechs Korrektoren prüften damals alle Manuskripte vor der Drucklegung. Die Texte wurden dabei nicht nur hinsichtlich der Rechtschreibung, sondern auch formal und stilistisch verbessert.
»Nein, ich habe letzten Monat gekündigt«, log sein Vater. »Die wollten mich einfach nicht gehen lassen, aber ich habe schon was viel Besseres gefunden. Im Januar fange ich bei der Bundesdruckerei an.«
Andi kannte seinen Vater zu gut, um das zu glauben. Er konfrontierte ihn testweise mit seinem Halbwissen.
»In der Bundesdruckerei? Da werden doch die ganzen Geldscheine gedruckt, oder?«
»Richtig. Und Personalausweise zum Beispiel auch.«
Oh Mann, das ist ja wieder mal typisch, dachte Andi.
Wer die Lebensumstände seines Vaters kannte, dem musste sofort klar sein, dass eine Anstellung bei der Bundesdruckerei sehr unwahrscheinlich war. Woher kam dieser Hang zur permanenten Selbstüberschätzung? Sein Vater musste in jeder Situation entweder strahlender Held oder unschuldiges Opfer sein.
Andi nickte nur und tat beeindruckt. Er hatte keine Lust auf einen Streit. Am liebsten wollte er gleich wieder nach Hause.
»Hast du Lust, mit ins Laternchen zu kommen? Mein Freund Eddy kommt auch, es wird bestimmt lustig. Und um zwölf können wir ja dann auf deinen Geburtstag anstoßen.«
Er hat an meinen Geburtstag gedacht! Andi war über diese Tatsache nicht nur überrascht, sondern regelrecht verdutzt. Normalerweise brauchte sein Vater immer jemanden, der ihn an solche Ereignisse erinnerte. Aber diesmal hatte er offenbar von allein daran gedacht. Das war neu.
Eddy. Andi kramte angestrengt in seinen Erinnerungen. Seine Mutter hatte ihm die Geschichte schon mal erzählt, wie war das noch? Eddy, das war doch der Typ, mit dem sein Vater damals den Autounfall hatte, kurz vor seiner Geburt. Der Wagen war von der Straße abgekommen und hatte sich auf einem Acker mehrfach überschlagen. Seine Mutter glaubte sich zu erinnern, dass Eddy unverletzt geblieben war, aber seinen Vater hatte es ziemlich bös...