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Ich nahm Abschied von Stephen in der Kirche St. Mary, einem 500 Jahre alten Gebäude im Zentrum von Cambridge. Es war im März 2018. Ich saß im Seitenschiff, und als er vorbeigetragen wurde, waren wir einander für einen letzten Moment sehr nahe. Ich hatte das Gefühl, als sei ich wieder bei ihm, trotz des Sarges, der ihn vor mir und den anderen Trauergästen verbarg und der ihn nach 76 Jahren endgültig vor den Gefahren und Herausforderungen der physischen Welt beschützte.
Stephen glaubte, der Tod ist das Ende. Wir Menschen erzeugen Gebäude, Theorien und Nachkommen, und der Fluss der Zeit trägt sie vorwärts. Aber wir selbst werden letztlich Geschichte sein. Davon war auch ich überzeugt, und doch hatte ich, als der Sarg vorbeigetragen wurde, das Gefühl, als sei er im Inneren der hölzernen Kiste immer noch bei uns. Es war ein unheimliches Gefühl. Mein Verstand sagte mir, dass das Leuchtfeuer von Stephens Existenz erloschen war, wie auch mein eigenes in nicht allzu vielen Jahren erlöschen würde. Die Physik hatte mich gelehrt, dass eines Tages nicht nur alles, was wir schätzen und lieben, sondern überhaupt alles, dessen wir uns bewusst sind, vergangen sein wird. Ich weiß, dass selbst unsere Erde, unsere Sonne und unsere Galaxie nur auf begrenzte Zeit existieren und wenn unsere Zeit ausläuft, alles zu Staub wird. Dennoch sandte ich Stephen im Stillen meine Liebe und meine besten Wünsche für die ewige Zukunft.
Ich blickte in Stephens zufriedenes Gesicht auf dem Deckblatt des Begräbnisprogramms. Ich dachte an seine Kraft, an sein breites Lächeln der Anerkennung und seine grimmigen Grimassen der Missbilligung. Ich dachte an unsere glücklichen Zeiten, wenn wir uns intensiv in etwas vertieften, das uns beide brennend interessierte. Ich dachte an die lohnenden Zeiten, wenn wir über wunderbare Ideen sprachen oder wenn ich etwas Neues von ihm lernte - und an die frustrierenden Zeiten, wenn ich versuchte, ihn von etwas zu überzeugen und er sich kein Stück weit bewegte.
Stephen war weltberühmt dafür, die Welt der Physik aufzumischen, Bücher darüber zu schreiben und all das aus dem Inneren eines versehrten Körper heraus. Aber nicht weniger herausfordernd für jemanden, der sich nicht bewegen und vor allem nicht sprechen kann, ist es, langfristige Freundschaften aufrechtzuerhalten, tiefe Beziehungen zu entwickeln und Liebe zu finden. Stephen wusste, dass es menschliche Bindung, Liebe und nicht nur seine Physik war, die ihn nährte. Und auch in dieser Beziehung war Stephen über alle vernünftige Erwartung erfolgreich.
Einige Lobreden spielten auf die Ironie an, dass Stephen, der nicht an Gott glaubte, eine kirchliche Trauerfeier hatte. In meinen Augen ergab das sehr wohl Sinn, denn obwohl er intellektuell leidenschaftlich davon überzeugt war, dass die Gesetze der Naturwissenschaften alles kontrollieren, was in der Natur geschieht, war Stephen ein tiefspiritueller Mensch. Er glaubte an den menschlichen Geist. Er glaubte, dass alle Menschen über eine emotionale und moralische Essenz verfügen, die uns von anderen Tieren unterscheidet und uns als Individuen definiert. Die Überzeugung, dass unsere Seele nicht übernatürlich ist, sondern vielmehr das Produkt unseres Gehirns, minderte seine Spiritualität nicht. Wie denn auch? Für Stephen, den Mann, der weder sprechen noch sich bewegen konnte, war sein Geist alles, was er besaß.
«Sturheit ist meine beste Eigenschaft!», pflegte Stephen gern zu sagen, und dem konnte ich nicht widersprechen. Sturheit versetzte ihn in die Lage, Ideen zu verfolgen, die nirgendwohin zu führen schienen und für die andere nur ein Augenrollen übrig hatten. Sie brachte seinen Geist im Gefängnis seines schwachen Körpers zum Tanzen. Stephen hatte entgegen der Voraussage all seiner Ärzte immer weitergelebt, doch am 14. März 2018 brannte sein Stern schließlich aus. Nun hatten wir uns alle hier versammelt, um Abschied zu nehmen. Seine Familie, seine Freunde, seine Pflegerinnen und Pfleger. Er war 13 Jahre älter als ich, hatte seine prognostizierte Lebensspanne um Jahrzehnte überschritten und sein ganzes Erwachsenenleben hindurch immer wieder an potenziell tödlichen Lungeninfektionen gelitten. Tief in meinem Herzen hatte ich dennoch immer angenommen, er werde mich überleben.
Ich lernte Stephen kennen, nachdem er 2003 Kontakt zu mir aufgenommen hatte. Er fragte mich, ob ich mir vorstellen könne, mit ihm ein Buch zu schreiben. Er hatte meine Bücher gelesen, Das Fenster zum Universum: Eine kleine Geschichte der Geometrie (Euclid's Window) über den gekrümmten Raum, und Feynmans Regenbogen (Feynman's Rainbow) über meine Beziehung zu dem legendären Physiker. Er sagte, er mochte meine Art zu schreiben und auch, dass ich als Physikerkollege in der Lage sei, seine Arbeit zu verstehen. Ich war überwältigt, ich war geschmeichelt. In den folgenden Jahren sollten er und ich zwei Bücher zusammen schreiben, und wir sollten darüber hinaus Freunde werden.
Unser erstes gemeinsames Buch war Die kürzeste Geschichte der Zeit (A Briefer History of Time). Das war kein originäres Werk, sondern eine Neufassung von Stephens berühmtem Buch Eine kurze Geschichte der Zeit (A Brief History of Time). Seine Idee war, das Original verständlicher zu machen. Kip Thorne, ein theoretischer Physiker am Caltech und einer seiner engsten Freunde, meinte einmal zu mir, je mehr man über Physik wisse, desto weniger verstehe man Eine kurze Geschichte der Zeit. Stephen drückte es ein wenig anders aus: «Jeder kauft es», spottete er. «Aber nicht viele lesen es.»
Die kürzeste Geschichte der Zeit kam 2005 heraus. Ich gehörte damals zur Fakultät des Caltech. Stephen lebte in England, besuchte das Caltech aber jedes Jahr für zwei bis drei Wochen. Seine Besuche und unsere E-Mail-Kommunikation hatten ausgereicht, um Die kürzeste Geschichte fertigzustellen. Wie Das Universum in der Nussschale (The Universe in a Nutshell) und seine anderen Bücher basierte dieses Buch auf seiner Forschung in den 1970er und 1980er Jahren. Aber nach der Veröffentlichung von Die kürzeste Geschichte entschlossen wir uns, Der große Entwurf: Eine neue Erklärung des Universums (The Grand Design) zu schreiben. Darin ging es um seine neuesten Arbeiten, und wir würden ganz von vorn anfangen und über neue Theorien schreiben, die er noch nie zuvor in populärer Form vorgestellt hatte - und wir würden einige ziemlich komplexe Themen behandeln müssen. Paralleluniversen, die Idee, dass das Universum aus einem Zustand des Nichts entstanden sein könnte, die Tatsache, dass die Naturgesetze in genau der Weise aufeinander abgestimmt zu sein schienen, die für die Existenz von Leben notwendig ist. Es war klar, dass wir uns damit in einer anderen Liga bewegen würden. Wir würden viel Zeit im persönlichen Gespräch miteinander verbringen müssen. Und so begann ich, zwischen Kalifornien und Stephens Wohnsitz in Cambridge hin- und herzupendeln. Das blieb so, bis wir das Buch 2010 schließlich abschlossen.
Einen Großteil seiner Karriere verwandte Stephen darauf, dort weiterzumachen, wo Einstein aufgehört hatte. 1905 entwickelte Einstein die Spezielle Relativitätstheorie, wie wir sie heute nennen. Damals war er 25 Jahre alt und betrieb Physik als Hobby, während er seinem Brotberuf nachging - Patente zu prüfen. Die Relativitätstheorie brachte viele fremdartige Naturerscheinungen ans Tageslicht: dass die Messung von Strecken- und Zeitintervallen relativ ist und vom Beobachter abhängt, dass Materie eine Form von Energie ist und dass sich nichts schneller bewegen kann als das Licht. Aber da gab es ein Problem: Während die Spezielle Relativitätstheorie keinen unmittelbaren Bezug auf die Gravitationskraft nahm, widersprach ihr Diktum einer universellen Geschwindigkeitsgrenze Newtons Theorie, nach der diese Kraft instantan übertragen wird - das heißt, mit unendlicher Geschwindigkeit.
Einstein kämpfte mit diesem Widerspruch. Musste die Relativitätstheorie geändert werden? Sollte man Newtons Gravitationstheorie aufgeben? Er wälzte das Problem zehn Jahre, verließ das Patentamt und pendelte zwischen akademischen Positionen in Bern, Zürich, Prag und Berlin. 1915 stellte Einstein seine neue Theorie, die Allgemeine Relativitätstheorie, schließlich fertig. Es war eine umfangreiche Umarbeitung der Speziellen Relativitätstheorie, eine Erweiterung dieser Theorie, in der den Auswirkungen der Schwerkraft explizit Rechnung getragen wurde.
Zu den vielen Punkten, in denen die Allgemeine Relativitätstheorie von Newtons Theorie abweicht, gehört eben die Korrektur von Newtons Grundsatz, dass Gravitation instantan übermittelt wird: Der Allgemeinen Relativitätstheorie zufolge pflanzt sich die Schwerkraft ganz analog den Lichtwellen wellenförmig fort - und zwar mit Lichtgeschwindigkeit; damit beachtet sie die Geschwindigkeitsbeschränkung der Speziellen Relativitätstheorie. Obgleich die zufriedenstellende Beschreibung, wie die Gravitationskraft übertragen wird, zu den ersten Erfolgen gehörte, die Einsteins Entwicklung der Allgemeinen Relativitätstheorie auslöste, gehörten Gravitationswellen paradoxerweise zu den letzten wichtigen Aspekten seiner Theorie, die eine experimentelle Bestätigung erfuhren. Für seinen «entscheidenden Beitrag» zu diesem Experiment erhielt Kip Thorne 2017 den Nobelpreis.
Newton hatte erklärt, warum Planeten ihre Bahnen ziehen und Dinge fallen, indem er sich eine Kraft vorstellte, die...
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