Schweitzer Fachinformationen
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Ich trank zwei Tassen Kaffee.
Sie sehen gar nicht gut aus, sagte Dalva, als ich in die Küche kam.
Ich war spät dran, aber das schien niemanden zu stören. Die Stimmung im Haus war völlig anders als am Tag zuvor. Es waren eine Menge Leute im Garten, Freunde, Politiker, Journalisten, und unablässig verließen Tabletts mit Saft und Kaffee die Küche. Wenn man genau hinhörte, konnte man zuweilen Gelächter vernehmen. Haben Sie schon gehört?, fragte Dalva.
Ich wusste alles, wiederholte im Stillen aber trotzdem: So weit, so gut, Over. Alles unter Kontrolle.
Stunden zuvor war ich in meinem Pick-up aus dem Schlaf geschreckt, als Sulamita sich durchs Fenster lehnte. Was tust du hier?, hatte sie gefragt und mir einen Kuss gegeben. Ich hatte vor ihrem Haus geparkt und auf ihre Rückkehr von der Bergungsaktion gewartet.
Es tagte. Hand in Hand gingen wir zur Bäckerei des Viertels, Sulamita mit lehmverschmierten Hosen, nass bis zu den Knien. Ich beeilte mich, ihr von meiner neuen Stelle zu erzählen, und nannte den Namen der Familie, damit sie die Verbindung herstellen musste, aber als das dann geschah, überkam mich ein ungutes Gefühl, als würde ich im Schlamm versinken. So ein Zufall, sagte sie.
Während des Frühstücks erzählte sie mir, dass das Flugzeug mit dem Cockpit über Wasser in einer Sandbank festgesteckt hatte, dass sie die Maschine geborgen hätten und dass der Pilot möglicherweise noch am Leben wäre.
Ich glaubte, nicht recht gehört zu haben.
Er war nicht dort, wiederholte sie.
Wer?
Der Pilot.
Er war nicht im Flugzeug?
Der Sicherheitsgurt war lose und die beiden Türen der Maschine entriegelt.
Sie sagte, es bestünde die Möglichkeit, dass der Mann das Gedächtnis verloren habe und durch den Busch irre. Oder schwer verletzt irgendwo in der Nähe liege. Zwei Trupps durchsuchten nun das Pantanal, der eine zu Land, der andere aus der Luft.
Sie sprach auch davon, dass das gesamte Ermittlungspersonal umstrukturiert worden sei, um die Suche zu beschleunigen. In solchen Fällen ist es immer das Gleiche, sagte sie. Der Gouverneur will Ergebnisse vom Staatssekretär, der fordert sie vom Direktor, der vom Abteilungsleiter, der vom Kommissar, und das Fußvolk muss es ausbaden.
Später, zu Hause unter der Dusche, musste ich mir immer wieder laut sagen, dass sie nichts hatten, um mich mit der Sache in Verbindung zu bringen. Sie konnten mir nichts vorwerfen. Mich festnehmen. Ich hatte nichts getan. Außer stehlen. Ich hatte dem Jungen zweimal den Puls gefühlt. Ein Superschnee, Over. Ich rekapitulierte alles, jedes einzelne Detail, und ordnete meine Gedanken. Es war nicht schwer, sich auszumalen, was passiert war, nachdem ich den Unfallort verlassen hatte. Mein Fehler hatte darin bestanden, den Sicherheitsgurt des Piloten zu lösen und die Türen des Flugzeugs nicht zu schließen. Das war nachlässig von mir gewesen. Er war tot, Over. Unangeschnallt hatte die Strömung ihn davongetragen. Verwest, Over. Es war nur eine Frage der Zeit, sie würden den Leichnam an irgendeiner Flussbiegung finden. Irgendwo hatte ich gelesen, dass die Bakterien des Todes ihre Arbeit schnell verrichten. Diese Vorstellung quälte mich ebenfalls, die im Wasser treibende Leiche, das Gesicht im Schlamm, der aufgedunsene Bauch, die surrenden Fliegen ringsherum.
Andererseits lag darin ein gewisser Trost. So weit, so gut, sagte ich zu mir selbst. Nicht ich bin der Tote. Nicht ich werde verwesen. Im Wasser treiben, Over.
Den Rest des Vormittags verbrachte ich in der Garage und verfolgte die Nachrichten im Radio. Die Geschichte ging nicht aus dem Äther. Es wurde ein Haufen Dinge erzählt. Dass die unbewohnte, dünn bewaldete Gegend das Durchkämmen erleichterte und dass der Pilot in den kommenden Stunden gefunden werden würde. Der Pilot sei Träger des schwarzen Judogürtels. Er sei körperlich ausgezeichnet in Form gewesen. Habe das letzte Reitturnier von Rio de Janeiro gewonnen. Reiche Familie. Das wiederholten sie häufig, den Reichtum. Das ganze Geld, dachte ich, es kann nicht verhindern, dass man so endet. Im Sumpf. Sie berichteten auch, dass Júnior ein allseits beliebter junger Mann sei. Gutaussehend. Ein guter Junge. Nur dass er seine Nase gerne in Schnee steckte, das sagten sie nicht. Es ist unglaublich, wie ein Unglück ausreicht, einen gewöhnlichen Menschen in einen Helden zu verwandeln.
Noch am selben Tag, etwas später, sah ich sie dann zum ersten Mal. Dona Lu, so wurde sie von allen genannt. Lu, von Lourdes.
Sie war keine fünfzig Jahre alt, kompakt und schien aus einem leicht zerbrechlichen Material gemacht zu sein. Eine Art Mensch, wie ich ihn, wenn ich es mir aussuchen könnte, dafür bezahlen würde, dass er in meiner Mannschaft spielt. Sie schaute einem freimütig und auf eine sehr weibliche Art ins Gesicht, wenn sie mit einem sprach, ich komme mit solchen Menschen nicht klar. Bestimmte Kombinationen, Reichtum und Güte, Schönheit und Güte, Reichtum und Schönheit oder auch nur Güte oder Schönheit im Reinformat sind höchst zerstörerisch. Machen einen fertig. Man wird zu Staub degradiert, das ist es.
Dona Lu postierte sich neben dem Wagen, in Erwartung, dass ich ihr die Tür aufmachte. Sofort breitete sich ein sanfter Duft nach reicher Frau aus. Es dauerte, ehe ich begriff, dass auch das zu meinen Aufgaben gehörte. Türen zu öffnen.
Sie bat mich, sie in die Kirche zu fahren. Unterwegs stellte sie mir einige Fragen, ob ich verheiratet sei, ob ich Kinder hätte, Familie, ob mir Corumbá gefalle. Sie sagte, ich hätte ihrer Familie Glück gebracht. Die Polizei glaube, dass ihr Sohn noch am Leben sei. Sie selbst sei sich dessen gewiss. Sie werden ihn mögen, sagte sie.
Sie fragte mich auch, ob ich religiös sei. Mir fiel ein, dass ich irgendwo gelesen hatte, die Leute würden Stars dem Weihnachtsmann vorziehen. Schauspielerinnen sind meiner Ansicht nach interessanter als Heilige. Vor die Wahl zwischen Madonna und der Jungfrau Maria gestellt, hielt ich mich lieber an Madonna, doch so etwas kann man in einer Umfrage sagen, aber nicht zu Dona Lu.
In der Kirche war kein Mensch. Nur die Kühle, das Halbdunkel und sie, kniend und betend. Mitleid überkam mich, der Wunsch, den Weg, den sie zurückzulegen hätte, abzukürzen. Wenn ich ihr erzählte, dass der Junge tot war, wenn ich sie hinführte und ihr die Leiche zeigte und sie sie beerdigen könnte, wie es sich gehörte, mit Totenwache und Blumen, wenn sie am Sarg weinte, dann müsste sie nicht so lange schmoren wie meine Mutter. Der nackte Tod ist nicht das Schlimmste. Schlimmer ist die Ungewissheit. Der Zweifel. Sie sind es, die einen fertigmachen.
Schweigend fuhren wir nach Hause, aber im Rückspiegel konnte ich sehen, dass Dona Lu weinte.
Das ging mir an die Nieren. Ich musste an meine Mutter denken, wie sie weinte und die Tränen auf den steif geschlagenen Eischnee tropften. Ich dachte an die vielen glücklichen Bräute, die an ihrem Hochzeitstag die Tränentorte meiner Mutter gegessen hatten.
Abends fuhr ich zum Kommissariat, um Sulamita zu treffen. Es gab eine Abschiedsparty, es war ihr letzter Arbeitstag. Am darauffolgenden Tag würde sie ins Institut für Rechtsmedizin als Leiterin des Leichenschauhauses versetzt.
Sie saßen an den Tischen und tranken Bier.
Weißt du, worin ihre Arbeit bestehen wird?, fragten sie mich.
Ich hatte keine Ahnung. Sie lachten, wollten mich auf den Arm nehmen.
Sulamita wird sich mit Leichen unterhalten, erklärten sie. Gelächter. Aber jetzt mal im Ernst, sagten sie, eine Leiche ist wie die Blackbox eines Flugzeugs. Alles ist in diesem Stück Fleisch aufgezeichnet, du musst dich nur hinsetzen und zuhören können. Dem Verstorbenen. Die Toten sagen die Wahrheit. Sie erzählen alles. Wer es getan hat. Wie er es getan hat. Und so knackst du das Verbrechen, sagten sie. Irgendwer fügte hinzu: Meine besten Lehrer waren die großen Mörder. Hart ist nur, den Geruch zu ertragen, sagten sie.
Ein junger Kerl mit dünnen Beinen und einem riesigen Bauch, den ich noch nie dort gesehen hatte, erinnerte an einen Fall, bei dem der damals noch ganz neue Ermittler, der später an einem Herzinfarkt starb, ins Badezimmer des Opfers gegangen war, sich eine Parfumflasche gegriffen und die ganze Wohnung eingesprüht hatte. Stellt euch bloß mal den Geruch vor. Verwestes Fleisch mit Parfum. Sie lachten aus vollem Halse. So ein Gestank, sagte der Kommissar, der Pedro Caleiro hieß, dieser warme Fäulnisgeruch zusammen mit dem Parfum, ich hätte diesen Raul beinahe umgebracht, sagte er, dieses Tier, wir haben geschwitzt wie Sau. Sie lachten laut. Vor allem Dudu, der Assistent des Kommissars, ein blonder Typ mit blauen Augen, einem Gesicht wie ein alter Weimaraner.
Es war eine heiße, schwüle Nacht, ich hörte nicht mehr zu, was sie redeten. Das Bild der hinter der Sonnenbrille weinenden Dona Lu wollte mir nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Was ist mir dir los?, fragte Sulamita.
Ich habe wohl zu viel getrunken, sagte ich und ging hinaus, um mich draußen im Flur zu übergeben, wo ein paar Reifen und anderer Krempel den Ausgang versperrten.
Sulamita brachte mir ein Erfrischungsgetränk. Setzte sich neben mich, hielt mir die Hand. Geht es dir...
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