Schweitzer Fachinformationen
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Wir schreiben das Jahr 1904. Eine erstickend heiße tropische Morgendämmerung.
In diesem fernen Jetzt dümpelt ein Dampfer unter schwedischer Flagge in der sanften Dünung. An Bord befinden sich einunddreißig Besatzungsleute, darunter eine Frau. Sie heißt Hanna Lundmark, geborene Renström, und arbeitet als Köchin an Bord.
Aber insgesamt hatten zweiunddreißig Personen die Reise nach Australien mit schwedischem Kernholz und Brettern für Saloonböden und die Wohnzimmer reicher Schafsfarmer angetreten.
Einer der Besatzungsmänner ist kürzlich verstorben. Er war Steuermann und mit Hanna verheiratet.
Er war jung und lebenslustig. Obwohl Kapitän Svartman ihn gewarnt hatte, ging er an Land, als sie in einem Wüstenhafen südlich von Suez Kohle bunkerten. Er fing sich ein tödliches Fieber ein, wie es an Afrikas Küsten grassiert.
Als er erkannte, dass er sterben würde, begann er vor Angst zu brüllen.
Zu keinem der Seeleute, die an seinem Sterbebett saßen, Kapitän Svartman und der Zimmermann Halvorsen, sagte er ein letztes Wort. Auch nicht zu Hanna, die nach einmonatiger Ehe Witwe werden sollte. Er starb schreiend und schließlich wimmernd vor Angst.
Er hieß Lars Johan Jakob Antonius Lundmark. Hanna betrauert ihn, fast besinnungslos von dem, was geschehen ist.
In der Morgendämmerung, am Tag nach seinem Tod, bewegt sich das Schiff kaum. Es hat beigedreht, da bald eine Seebestattung stattfinden wird. Kapitän Svartman will nicht warten. Sie haben kein Eis an Bord, um den Leichnam zu kühlen.
Hanna steht am Heck, einen Abfalleimer in der Hand. Sie ist klein und hochbusig, hat freundliche Augen. Ihre braunen Haare sind im Nacken zu einem strengen Knoten geschlungen.
Sie ist nicht schön. Aber auf merkwürdige Weise strahlt sie aus, dass sie ein durch und durch wahrhaftiger Mensch ist.
Hier und jetzt. Hier befindet sie sich. Auf dem Meer, an Bord eines Dampfers mit zwei Schornsteinen. Beladen mit Holz, unterwegs nach Australien. Heimathafen: Sundsvall.
Das Schiff heißt Lovisa. Es wurde in der Finnboda Werft in Stockholm gebaut. Aber der Heimathafen hat immer an der norrländischen Küste gelegen.
Zunächst gehörte es einer Reederei in Gävle, die nach fehlgeschlagenen Spekulationen in Konkurs ging. Dann wurde es nach Sundsvall verkauft. In Gävle hieß es Matilda, nach der Frau des Reeders, die mit ungeschickten Fingern Klavier spielte. Jetzt heißt es Lovisa, nach der jüngsten Tochter des neuen Reeders.
Einer der Teilhaber heißt Forsman. Er hat dafür gesorgt, dass Hanna Lundmark Arbeit an Bord bekam. Zu Hause bei Forsmans gibt es ein Klavier, aber niemand spielt darauf. Hingegen hört er zu, wenn der Klavierstimmer zu seinen regelmäßigen Besuchen kommt.
Jetzt ist Steuermann Lars Johan Jakob Antonius Lundmark an einem rasenden Fieber gestorben.
Es ist, als wäre die Dünung erstarrt. Das Schiff liegt da wie mit angehaltenem Atem.
So stelle ich mir den Tod vor, denkt Hanna Lundmark. Eine plötzliche Stille, unerwartet, die von nirgendwo herkommt. Der Tod ist wie der Wind. Ein rascher Wechsel nach Lee.
Ins Lee des Todes. Dann nichts mehr.
In diesem Moment überfällt Hanna eine Erinnerung.
An ihren Vater, an seine Stimme, die gegen Ende seines Lebens nur noch ein Flüstern war. Als verlangte er von ihr, alles, was er sagte, wie ein kostbares Geheimnis zu bewahren.
Ein schmutziger Engel. Das ist es, was du bist.
Das sagte er zu ihr, kurz bevor er starb. Es war, als wollte er ihr ein Geschenk machen, obwohl - oder gerade weil - er kaum etwas besaß.
Hanna Renström, meine Tochter, du bist ein Engel, ein schmutziger, aber dennoch ein Engel.
Woran erinnert sie sich eigentlich? Was genau waren seine Worte? Nannte er sie arm oder schmutzig? Überließ er es ihr, zu wählen? Jetzt, da sie den Moment heraufbeschwört, glaubt sie, er habe sie einen schmutzigen Engel genannt.
Die Erinnerung ist fern, verblasst. Hanna ist so weit weg von ihrem Vater und seinem Tod. Damals, ein einsames Haus am braunen kalten Wasser des Ljungans in einem stillen norrländischen Binnenland. Er starb zusammengekrümmt vor Schmerzen im ausziehbaren Bett in einer Küche, die die Wärme nicht halten konnte.
Er starb umgeben von Kälte, denkt sie. Die Kälte war streng im Januar 1899, als er aufhörte zu atmen.
Es sind mehr als fünf Jahre vergangen, jetzt haben wir Juni 1904.
Die Erinnerung an den Vater und seine Worte über den Engel verschwinden so rasch, wie sie gekommen sind. Nach wenigen Sekunden ist sie aus der Vergangenheit zurückgekehrt.
Sie weiß, dass man die bemerkenswertesten Reisen in der Innenwelt macht, wo weder Zeit noch Raum existieren.
Vielleicht wollte das Erinnerungsbild ihr helfen? Ihr ein Seil zuwerfen, damit sie über die Mauer der betäubenden Trauer klettern könnte?
Aber sie kann nicht fliehen. Das Schiff hat sich in eine unüberwindbare Festung verwandelt. Sie kommt nicht hinaus. Ihr Mann ist wirklich tot.
Der Tod: wie eine Kralle. Die sich weigert, ihren Griff zu lockern.
Der Druck in den Dampfkesseln ist gesenkt worden. Die Kolben in den Zylindern bewegen sich nicht mehr, die Maschine ruht. Hanna steht an der Reling mit ihrem Abfalleimer in der Hand, um ihn zu entleeren. Der Messjunge wollte ihn ihr abnehmen, aber sie hielt ihn fest, verteidigte ihn. Auch wenn sie an diesem Tag zusehen wird, wie ihr Mann in der Meerestiefe versinkt, eingenäht in Segeltuch, will sie ihre Pflichten nicht vernachlässigen.
Als sie von dem Eimer aufschaut, der mit Eierschalen gefüllt ist, schlägt ihr die Hitze ins Gesicht. Irgendwo im Dunst an Steuerbord liegt Afrika. Obwohl sie nicht die leiseste Andeutung von Land sehen kann, meint sie, den Geruch wahrzunehmen.
Er, der jetzt tot ist, hat ihr davon erzählt. Von dem dampfenden, fast ätzenden Geruch von Fäulnis, der sich überall in den Tropen findet.
Mehrere Reisen hat er schon gemacht, zu verschiedenen Zielen. Vieles hat er gelernt. Nur nicht das Wichtigste, das Überleben.
Diese Reise sollte er nicht vollenden. Er starb im Alter von vierundzwanzig Jahren.
Es ist, als hätte er sie warnen wollen, denkt Hanna. Aber sie weiß nicht, wovor.
Der Tote ist ohne Antwort.
Jemand stellt sich still an ihre Seite. Der engste Freund ihres Mannes an Bord, der norwegische Zimmermann Halvorsen. Ob er einen Vornamen hat, weiß sie nicht. Obwohl sie seit mehr als zwei Monaten zusammen auf dem Schiff sind. Er ist einfach nur Halvorsen, ein ernster Mann, von dem es heißt, er würde jedes Mal, wenn er nach ein paar Jahren auf See heim nach Brönnöysund kommt, auf die Knie fallen und bekehrt werden, um dann doch wieder anzuheuern, wenn sein Glaube ihn nicht länger trägt.
Er hat große Hände, aber sein Gesicht ist weich, fast weiblich. Der Stoppelbart scheint von jemandem, der ihm übel mitspielen wollte, aufgemalt worden zu sein.
»Ich habe verstanden, dass da etwas ist, wonach du fragen willst«, sagt er. Seine Stimme singt. Es klingt wie ein Summen, wenn er spricht.
»Die Tiefe«, sagt Hanna. »Wo wird Lundmarks Grab sein?«
Halvorsen schüttelt nachdenklich den Kopf. Plötzlich erinnert er sie an einen unruhigen Vogel, der auffliegen will.
Schweigend verlässt er sie. Aber sie weiß, dass er die Antwort für sie finden wird.
In welcher Tiefe wird das Grab liegen? Gibt es einen Meeresgrund, auf dem ihr Mann in dem zugenähten Segeltuch ruhen wird? Oder ist da nichts, eine Tiefe, die sich in alle Unendlichkeit fortsetzt?
Sie leert den Eimer, sieht die weißen Vögel im Sturzflug auf das Wasser hinabtauchen, um die Beute zu fangen, und wischt sich mit dem Handtuch, das sie an ihre Schürze geknotet hat, den Schweiß von der Stirn. Dann tut sie das Unvermeidliche. Sie schreit.
Einige Vögel, die sich in Erwartung der Leerung eines weiteren Abfalleimers vom Aufwind tragen lassen, legen die Flügel an und ziehen sich von dem Trauergeheul zurück, das sie wie Hagel trifft.
Der Messjunge Lars schaut erschrocken aus der Kombüse, in der Hand ein aufgeschlagenes Ei. Er sieht sie heimlich an, der Tod macht ihn verlegen.
Sie ahnt, was er denkt. Jetzt springt sie, jetzt verlässt sie uns, da die Trauer zu schwer zu ertragen ist.
Der Schrei ist von mehreren Leuten an Bord gehört worden. Zwei verschwitzte Jungmänner mit nacktem Oberkörper stellen sich neben die Kombüse und glotzen, genau dort, wo eine lange Trosse wie eine zusammengerollte Schlange liegt.
Hanna schüttelt den Kopf, beißt die Zähne zusammen und geht mit dem leeren Eimer in die Kombüse. Nein, sie wird nicht über die Reling klettern. Ihr Leben lang hat sie ausgeharrt, und das will sie auch weiterhin tun.
In der Kombüse schlägt ihr noch größere Hitze entgegen. Es ist so heiß wie bei den Heizern tief unten im Maschinenraum, das weiß sie, obwohl sie nie da unten war. Frauen in der Nähe von Dampfkesseln und Feuer bedeuten Unglück.
Für ältere Seeleute ist es überhaupt ein Unding, Frauen an Bord zu haben. Das bringt nicht nur Unheil, sondern auch Streit und Eifersucht unter den Männern. Als Forsman Hanna an Bord bringen wollte, war Kapitän Svartman trotzdem einverstanden. Der Kapitän hielt nicht viel von Aberglauben.
Hanna nimmt ein Ei und schlägt es an der Pfanne auf, die Schale wirft sie in den Eimer. Dreißig lebende Seeleute sollen ihr Frühstück bekommen. Sie versucht, nur an die Eier zu denken, nicht an die bevorstehende Bestattung. Sie ist als Köchin an Bord, daran hat sich durch den Tod ihres Mannes nichts geändert.
Es ist, wie es ist: Sie lebt. Aber Lundmark ist tot.
Halvorsen kommt und...
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