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Schicksal - für die Medizin ist dies geradezu ein Fremdwort geworden. Denn im 20. Jahrhundert hat sich die Vorstellung durchgesetzt, dass wir nicht nur die Ausgestaltung, sondern auch die Grundbedingungen des Lebens selbst in der Hand haben. Doch dann wird ein Mensch bei scheinbar bester Gesundheit von einer unheilbaren Krankheit getroffen und lässt uns ratlos zurück. Wie lässt sich ein guter Umgang mit dem Schicksalhaften finden? Was bedeutet Schicksal überhaupt und wie kann ein besonnener Umgang mit dem gefunden werden, was sich unserem Zugriff entzieht? Darüber diskutieren in dieser Neuauflage Mediziner, Philosophen und Theologen, u.a. Dietrich von Engelhardt, Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Peter Gross, Daniel Hell, Bernd Hontschik, Rainer Marten, Eberhard Schockenhoff und Fritz von Weizsäcker.
Systematische und historische Überlegungen zur Deutungskategorie des "Schicksals"
Markus Enders
Was meinen wir, wenn wir in unserer Alltagssprache das Wort "Schicksal" zur Deutung menschlicher Erfahrungen gebrauchen? Wenn wir etwa davon sprechen, dass eine menschliche Person ein schweres Schicksal zu tragen habe, unter dessen Last ihr Selbst- und Lebensgefühl leidet und vielleicht sogar ihre Existenz zu zerbrechen droht? Was meinen wir, wenn wir von schicksalhaften Ereignissen im Leben eines Menschen sprechen, seien es solche, die zu einem herausragenden und gänzlich unerwarteten Erfolg bzw. einer tiefen Erfahrung eigenen Glücks, seien es solche, die zu einer quälenden Leiderfahrung, einer Sinnkrise oder gar zu einem existenziellen Scheitern in persönlicher Verzweiflung führen können und auf Grund ihrer existenziellen Härte meist als "Schicksalsschläge" bezeichnet werden? Mit anderen Worten: Was sind die konstitutiven Elemente dessen, was wir in unserem alltäglichen Verständnis mit der anthropologischen Deutungskategorie des "Schicksals" auszudrücken versuchen?
Einen ersten Hinweis erhalten wir bereits durch die Etymologie des sprachlichen Ausdrucks "Schicksal". Denn dessen Grundbedeutung bezeichnet ein Geschehen, das einer Person widerfährt, das ihr entgegentritt, das sie unausweichlich und unvermeidlich ereilt. Dieses Geschehen kann ein einzelnes, besonderes und bestimmtes sein - in dieser Bedeutung könnte man mit Ingo Klaer von einem "Schicksalsereignis"1 sprechen -, es kann aber auch von der ganzen Lebensgeschichte eines Menschen als dessen "Schicksal" die Rede sein, und zwar dann, wenn man diese Lebensgeschichte zumindest auch, wenn nicht sogar wesentlich als das Ergebnis von Widerfahrnissen versteht, die einen Menschen getroffen haben, ohne von ihm gewollt, gewirkt und hervorgebracht worden zu sein, die gleichsam über ihn gekommen sind. In dieser Bedeutung könnte man wiederum mit Klaer vom "Lebensschicksal"2 eines Menschen sprechen.
Dem einzelnen "Schicksalsereignis" und dem ganzen "Lebensschicksal" eines Menschen aber ist eine Reihe von inneren, konstitutiven, den Sinngehalt von "Schicksal" bestimmenden Elementen gemeinsam, die ich nirgends so feinsinnig und hellsichtig unterschieden gefunden habe wie in Romano Guardinis Analyse der Schicksalserfahrung des Menschen,3 auf die ich daher im Folgenden näher eingehen und die ich zugleich mit eigenen Überlegungen verbinden möchte.
2.1. Die Jemeinigkeit des Schicksals
Guardini setzt in seiner Untersuchung der menschlichen Schicksalserfahrung, die man mit Heidegger als eine existenzialanalytische kennzeichnen könnte, bei der psychologi schen Beobachtung an, dass wir immer dann, wenn wir das Wort "Schicksal" aussprechen, fühlen, dass das damit Gemeinte uns zutiefst und zuinnerst betrifft und angeht, gleichsam das Persönlichste von uns ist, "worin ich ganz allein, unvertretbar und unverdrängbar stehe".4 Zugleich spüren wir aber auch, dass das mit dem Wort "Schicksal" Gemeinte aus einer uns unfassbaren Ferne auf uns zukommt, die der Reichweite unseres Wissens und Verstehens entzogen sind. Diese, wie mir scheint, treffende Beobachtung, dürfte zwei Elemente menschlicher Schicksalserfahrung sichtbar machen, die von grundlegender Bedeutung sind:
Das erste dieser beiden Elemente ist das der Jemeinigkeit des Schicksalsereignisses wie des ganzen Lebensschicksals eines Menschen, welches zunächst und grundlegend das und nur das jeder einzelnen Person ist und daher eine scheidende, vereinzelnde Wirkung besitzt: Jeder hat sein eigenes, ihm alleine zugemessenes Schicksal anzunehmen, keiner kann das Lebensschicksal einschließlich aller Schicksalsereignisse einer anderen Person übernehmen; einmalig und unvertretbar wie die menschliche Person selbst ist auch ihr jeweiliges, ihr je eigenes Schicksal.
2.2. Der Geheimnischarakter des Schicksals
Das zweite in der Beobachtung Guardinis aufscheinende Element menschlicher Schicksalserfahrung ist dessen Geheimnischarakter, dessen rationale Undurchdringbarkeit und Unfasslichkeit. Das Schicksal, und zwar sowohl das eigene Schicksal als auch das Schicksal anderer, wird von uns als etwas Numinoses empfunden, das gleichsam mit geheimnisvoller Energie aufgeladen ist und Macht über uns besitzt: "Das Geheimnishafte, das die Erfahrung im Schicksal entdeckt, ist qualitativ eigenständig. Es liegt in, hinter, über jeder angebbaren empirischen Ursache."5 Die Schicksalsereignisse kommen für unser lebendiges Empfinden aus einer schier unendlichen Ferne, einem unbegreifbaren Geheimniszentrum, das für uns schicksalsbildend wirkt. Wir ahnen bisweilen, dass sich in den unabwendbaren Notwendigkeiten und scheinbaren Zufälligkeiten unseres je eigenen Schicksals ein Wille ausdrückt und Regie führt, dessen Gründe wir nicht einzusehen und nicht zu beeinflussen vermögen. Diese besondere Erfahrungsqualität des Schicksals aber hat, wie wir noch sehen werden, ein fundamentum inre: Siegründet letztlich darin, dass die Schicksalsmacht nur die weltliche Erscheinungsform einer über- und außerweltlichen Macht, eines höheren Willens darstellt.
2.3. Der Notwendigkeitscharakter des Schicksals
Das nach unserer Analyse dritte, sachlich bedeutendste Element menschlicher Schicksalserfahrung ist das der Notwendigkeit: "Schicksal ist in unserer Erfahrung das Nicht-zu-Ändernde, Unentrinnbare, Zwingende."6
2.3.1. Die natürlichen Vorgegebenheiten als unbedingte Notwendigkeit des "Schicksals"
Guardini meint mit diesem Schicksalselement vor allem die natürlichen, durch die Naturgesetze bestimmten Ordnungen, deren unverbrüchlicher Gültigkeit unser natürliches Dasein unterliegt und die es überhaupt erst im Sein erhalten. Darüber hinaus scheint mir die Notwendigkeit als ein inneres Element der menschlichen Schicksalserfahrung ganz allgemein die Unentrinnbarkeit und Unverfügbarkeit dessen zu bezeichnen, was einem Menschen gleichsam von außen, d.h. unabhängig von seinem eigenen, freien Willen, widerfährt, was ihm unverfügbar gegeben bzw. vorgegeben ist. Hierzu gehört wesentlich seine Veranlagung, d.h. sein individueller Genpool, mit dem besondere Verhaltensdispositionen sowie individuelle Begabungen und Neigungen, aber auch Schwächen und Anfälligkeiten intellektueller, affektiv-emotionaler und sozialer Natur bereits grundgelegt sind. Es gehören hierzu die natürlich-biologischen und die sozialen Eltern, die zwar nach wie vor in den allermeisten Fällen, nicht aber notwendigerweise miteinander identisch sind. Die sozialen Betreuungspersonen aber sind es, die meist einen nachhaltig prägenden, teilweise sogar bestimmenden Einfluss auf die Entwicklung eines Neugeborenen ausüben, und zwar vor allem in affektiv-emotionaler Hinsicht. Es ist bekanntermaßen seine Kindheit, der ein Mensch die vor allem sein Unbewusstes prägenden seelischen Anfangsgründe seiner späteren Persönlichkeitsentwicklung verdankt, in der etwa in der dyadischen Beziehung zur eigenen leiblichen Mutter ein Urvertrauen, ein tiefes Geborgenheitsgefühl wachsen oder auch bei tiefgreifenden Entzugsund Verlusterfahrungen abgründige Unsicherheiten und Ängste entstehen können, unter deren Auswirkungen auch der erwachsen Gewordene meist noch zu leiden, mit deren Hypothek er oft zeitlebens zu kämpfen hat.
Es gehören hierzu das Trauma und die Umstände der eigenen Geburt, die Natalität, sowie das soziale Milieu der Kleinfamilie wie auch des weiteren sozialen Umfeldes, in das ein zunächst ganz hilfsbedürftiges und daher von Fürsorge, Zuwendung und Betreuung gänzlich abhängiges Menschenkind hineingeboren, dem es gleichsam ausgesetzt wird und dessen elementare Bedeutung für die spätere Entwicklung eines Menschen der Beitrag von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz näher untersucht. Zu diesem basalen Element menschlicher Schicksalserfahrung gehören natürlich auch und nicht zuletzt Krankheiten, die zwar oft auch endogen induziert, d.h. von innen, also von dem Schicksalsträger selbst, verursacht sein können, deren Folgen und Wirkungen von dem Betroffenen dennoch als leidbringendes Widerfahrnis empfunden werden, weil sie von ihm gerade nicht gewollt und bewusst herbeigeführt werden, gegen die sich sein natürlicher Überlebensund Selbsterhaltungstrieb vielmehr auf das heftigste und entschiedenste wehrt.
Schließlich gehören zu diesem zweiten Element menschlicher Schicksalserfahrung alle einzelnen "Schicksalsereignisse" im Lebensschicksal eines Menschen, d.h. alle unabsehbaren Geschehnisse, die für einen Menschen die erlebnismäßige Qualität eines Widerfahrnisses besitzen, die gleichsam über ihn kommen, ob er will oder nicht, die ihm also unverfügbar gegeben sind.
Alle diese Momente aber sind für den Schicksalsträger Mensch gleichsam objektiv vorgegebene, d.h. unentrinnbare Notwendigkeiten, unabhängig davon, ob sie als solche bewusst erfahren oder nur unbewusst wahrgenommen und erlebt werden. Sie konstituieren in ihrer Gesamtheit daher einen wesentlichen Teil dessen, was wir alltags- und umgangssprachlich als das Schicksal eines Menschen zu bezeichnen pflegen.
2.3.2. Zum...
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