273 WICHTIGE GRUNDKONZEPTE
Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie.
- Kurt Lewin
In einer reifen Psyche bereichern und befruchten sich Erfahrungswissen und theoretisch-analytisches Verstehen gegenseitig. Ich werde dir darum ein paar wichtige theoretische Grundlagen vermitteln.
Ich vermute, dass du einiges beim ersten Lesen als knochentrocken und ziemlich theoretisch empfinden wirst. Ich verspreche dir: Sobald wir uns mit der Praxis befassen, wird die Theorie an Lebendigkeit gewinnen. Ich hoffe, dass dir die Theorie dann als wichtige Landkarte auf deiner Entwicklungsreise dient.
3.1 MIT DER STUFENENTWICKLUNG ENTSTEHEN NEUE LÖSUNGSRÄUME
Wenn unsere bisherigen Lösungen versagen
Hast du schon einmal bewusst darüber nachgedacht, was du machst, wenn eine deiner Handlungen nicht das gewünschte Resultat erzeugt? Die meisten Menschen kramen zuerst in ihrem Erfahrungsgedächtnis und versuchen es mit mehr vom Selben.
Deine Mitarbeitenden halten sich nicht an die neuen Prozesse? Du erklärst ihnen diese nochmals und erneuerst deine Appelle, dass die Prozesse eingehalten werden müssen.
28Die IT-Projekte dauern viel zu lange und vereinbarte Termine werden nicht eingehalten? Du pochst erneut auf die vereinbarten Methoden (Wasserfall oder Agile) und suchst nach Lösungen, wie diese Methoden besser in der Organisation verankert werden könnten.
Dein Chef versteht einfach nicht, warum die Budgetkürzungen für deinen Führungsbereich nicht tragbar sind? Du zeigst Verständnis für sein Bemühen, das Budget an die Forderungen des Verwaltungsrates anzupassen, und verteidigst gleichzeitig auch die Anliegen deines Führungsbereichs.
Wenn eine bewährte Lösung nicht funktioniert, suchst du wahrscheinlich nach neuen Lösungen. Wo findest du solche Lösungen? Denkst du selbst über mögliche Veränderungen nach? Suchst du dir Rat in Peer-Groups, bei Kolleginnen, bei Beraterinnen, bei Mitarbeitenden? Suchst du Anregungen in Kursen oder aus Büchern? Lässt du dich von Best Practice-Beispielen begeistern? Was auch immer du tust, wenn du neue Lösungen suchst, du wirst dies mit hoher Wahrscheinlichkeit im Rahmen deiner aktuellen Denkstrukturen tun. Und dieser unsichtbare Denkrahmen wird dich in deiner Lösungssuche eingrenzen.
Die Lösung liegt im vertikalen Lernen
Wenn wir Lösungen im Rahmen unserer aktuellen Denkstrukturen suchen, lernen wir horizontal. Das ist eine bekannte und sehr verbreitete Lernform.
Viel weniger bekannt, aber heute besonders wichtig ist das vertikale Lernen und Entwickeln. Das vertikale Lernen ist anspruchsvoller und aufwändiger als das horizontale, weil wir nicht nur die Inhalte unseres Denkens hinterfragen und verändern, sondern zusätzlich auch die Art unseres Denkens selbst transformieren. Von dieser vertikalen Form des Lernens und Entwickelns handelt das Buch, das du gerade in Händen hältst.
3.2 DER UNTERSCHIED ZWISCHEN HORIZONTALEM UND VERTIKALEM ENTWICKELN
Handlungslogik
Ich greife das Beispiel mit der Budgetdebatte nochmal auf. Was machst du, wenn dein Chef von dir zum wiederholten Male eine Budgetkürzung verlangt? Wenn du selbst kein Budget verantwortest, versuche einfach, dich in die Situation einer Führungskraft mit Budgetverantwortung hineinzuversetzen. Wenn du Verständnis für die Situation des Chefs zeigst und gleichzeitig beharrlich deine Anliegen vertrittst, dann folgst du wahrscheinlich der Logik der Gegenseitigkeit (6). Du bist dir bewusst, 29dass wir im Arbeitsleben in vielfacher Form gegenseitig aufeinander angewiesen sind und es darum sinnvoll ist, nach Lösungen zu suchen, mit denen alle Beteiligten gut leben können. Das setzt Kooperationsbereitschaft und Verhandlungsgeschick zugleich voraus. Gegenseitigkeit ist eine anspruchsvolle Logik des Handelns, die dich ziemlich weit bringen kann. Bei weitem nicht alle Zeitgenossinnen und -genossen sind in der Lage, in dieser Reife zu handeln. Nach heutigem Wissenschaftsstand ist die einperspektivische Expertensicht (5) noch häufiger anzutreffen. In dieser Logik des Handelns wirst du dich vor allem darauf fokussieren, was du brauchst, um deinen Verantwortungsbereich gemäß deinen eigenen Zielen voranzubringen. In dieser Logik wirst du vermutlich versuchen, deinen Chef mit klaren Fakten von deiner Position zu überzeugen und dich wenig um seine Perspektive kümmern.
Egal, ob du einer Logik der Gegenseitigkeit (6) oder einer Logik der eigenen Perspektive (5) oder einer anderen Logik folgst: deine aktuelle Logik des Denkens und Handelns folgt einem bestimmten Zusammenspiel von Wahrnehmen, Verarbeiten und Verhalten, das deine Lösungssuche begrenzt. Für dieses Zusammenwirken verwende ich den Begriff der Handlungslogik (siehe auch Kapitel 2). Wir finden nur Lösungen, die in dieses Fenster passen.
Abbildung 1: Schematischer Aufbau einer Handlungslogik.
Wenn deine Handlungslogik von Gegenseitigkeit (6) geprägt ist, dann wirst du deine Aufmerksamkeit nicht nur auf eigene Ziele richten, sondern auch die Ziele deines 30Gegenübers im Blick haben. Du wirst in der Verarbeitung auch beide Sichtweisen einbeziehen und dich so verhalten, dass möglichst Lösungen für beide Seiten gefunden werden können. Wenn deine Handlungslogik eher einperspektivisch-rational (5) ist, wirst du das im Blick haben, was dir wichtig ist, du wirst dich gerne an Fakten orientieren, bevorzugt rational denken und du oft nach Möglichkeiten suchen, wie du andere von deiner Meinung überzeugen kannst.
Die einperspektivische rationale Handlungslogik ist heutzutage für viele Jobs und Führungsaufgaben eine Mindestvoraussetzung. Mit der weiterentwickelten Logik der Gegenseitigkeit (6) wirst du in vielen Aufgabenbereichen bessere Ergebnisse erzielen. Du erhältst von deinem Umfeld mehr Unterstützung, weil du selbst auch Unterstützung anbietest. Im Umgang mit den multiplen Krisen und disruptiven Entwicklungen kann in dir aber trotzdem das Gefühl entstehen, dass auch diese bereits ziemlich reife Handlungslogik nicht mehr ausreicht.
Horizontales Lernen
Das Entwickeln von neuen Lösungen innerhalb der bestehenden Handlungslogik bezeichnen wir als horizontales Lernen. Das ist eine sehr wichtige Lernform, die uns weit bringen kann, die aber auch ihre Limitierungen hat. Wenn deine aktuelle Handlungslogik mit den zu bewältigenden Herausforderungen überfordert ist, dann könntest du das an Gefühlen der Überforderung erkennen. Sehr viele Menschen - insbesondere Führungskräfte - lassen sich von solchen Gefühlen nicht unterkriegen und strengen sich an, weitere Lösungen innerhalb der aktuellen Handlungslogik zu finden. Wenn die horizontalen Lernschritte nicht mehr ausreichen, ist mehr vom Selben zunehmend mit unbefriedigenden Resultaten verbunden. Dass wir unsere Lösungssuche durch das Fenster der aktuellen Handlungslogik stark eingrenzen, entzieht sich in der Regel unserer bewussten Wahrnehmung.
Vertikales Lernen und Entwickeln
Führungskräften, die erstmals von Stufenentwicklung und den damit verbundenen Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten erfahren, reagieren meistens mit großer Erleichterung. Sie finden in der Stufenlogik viele schlüssige Erklärungen für aktuelle Führungs- und Organisationsprobleme und gleichzeitig bekommen sie eine Möglichkeit aufgezeigt, wie sie die eigenen Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten effektiv ausbauen können. Mit der Stufenlogik wird sichtbar, dass wir nicht nur horizontal innerhalb der bestehenden Handlungslogik lernen und wachsen können, sondern dass es auch die Möglichkeit gibt, die Handlungslogik selbst zu transformieren. Bei einer solchen vertikalen Entwicklung verändert sich nicht nur der Inhalt unseres Wahrnehmens, Verarbeitens und Verhaltens, sondern das Zusammenspiel von Wahrnehmen, Verarbeiten und Verhalten verändert sich selbst:
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31Im Rahmen der vertikalen Entwicklung verändern wir unseren Wahrnehmungsfokus. Auf einer nächsten Stufe der Entwicklung nehmen wir innere und äußere Vorgänge umfassender wahr als bisher, und wir werden differenzierter in unseren Deutungen der wahrgenommenen Sachverhalte.
Gleichzeitig entwickeln wir gänzlich neue Formen der Verarbeitung. Wenn wir beispielsweise bisher Sachverhalte in aller Detailtiefe (5) verarbeitet haben, entwickeln wir die Fähigkeit, Details und Zusammenhänge gleichzeitig (6) in den Blick zu nehmen und zu verarbeiten. Wenn wir uns auf die Beobachtung von linearen Ursache-Wirkungsbeziehungen (5) spezialisiert haben, lernen wir neu, in vernetzten und zirkulären Wirkungsbeziehungen (6) zu denken. Wenn wir komplexe analytische Denkformen (6) entwickelt haben, können wir lernen, wie wir das intuitive ganzheitliche mit dem analytischen Denken verbinden (7) und dadurch Sachverhalte viel besser vernetzen und integrieren als bisher.
- Auch unser Verhaltensrepertoire weitet sich aus. Wir verbessern unsere Zuhörfähigkeiten, kommunizieren differenzierter und feinfühliger, wir werden offener und ehrlicher bezüglich dessen, was wir zu leisten vermögen u. v. m.
Die in der Aufzählung aufgeführten Fähigkeiten verstehen sich als erste kleine Beispiele, die das dahinterliegende Konzept veranschaulichen sollen. Das Erweitern der Handlungslogik stellt den Kern dieses Buches dar. Du wirst im...