Schweitzer Fachinformationen
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Kapitel 1
»Es ist unmöglich, das Kind so zu erziehen, dass es seinem Therapeuten nichts zu erzählen hat.«
Unbekannt
Nur wenige Menschen können von sich behaupten, eine »perfekte« Mutter zu haben. Die meisten Mütter lieben ihre Kinder aufrichtig und versuchen ehrlich, sich nach besten Kräften um diese zu kümmern und ihnen alles zu geben, was sie brauchen. Aber viele Erwachsene, die zu mir in die Sprechstunde kommen, klagen über ihre Mütter: über ihre Kälte, Gleichgültigkeit, Strenge, Wut, Ablehnung, Manipulation. Sie klagen über Mütter, die nicht an sie glauben, die mit ihrem eigenen Leben beschäftigt sind oder bedingungslosen Gehorsam verlangen, auch wenn diese erwachsenen Kinder schon 30 oder sogar 50 Jahre alt sind. Hierzu zwei Beispiele:
»>Ernsthaft, du wechselst schon wieder den Job?<, wird meine Mutter sagen, wenn ich ihr von dem neuen Job erzähle.« Im Bruchteil einer Sekunde wurde meine Klientin von einer blühenden, stolzen Geschäftsfrau zu einer grauen Maus. Allein der Gedanke an die Reaktion ihrer Mutter erschreckte sie.
Eine andere Patientin hatte beschlossen, zu heiraten - an sich ein freudiges Ereignis. Bei dem Gedanken an ihre Mutter bekam sie jedoch Bauchschmerzen: »Wie kannst du nur? Willst du mich allein lassen? Du verrätst mich!« Das war's. An die Stelle von Freude und eigenem Glück traten Schuldgefühle.
Wessen Stimme erklingt in Ihnen, wenn Sie zweifeln? Wessen Stimme motiviert Sie? Wessen Worte begleiten Sie in Momenten, in denen Sie Angst haben oder Schmerz empfinden? Wie lauten diese Worte? In der Regel sind das die Stimmen Ihrer Eltern - insbesondere die Stimme Ihrer Mutter.
In meiner Arbeit stütze ich mich auf das Konzept der Psychodynamisch Imaginativen Traumatherapie (PITT) von Luise Reddemann. Dieses Konzept basiert auf der Nutzung von Vorstellungskraft und inneren Bildern zur Bearbeitung emotionaler Probleme. Während der Therapie betrachten die Patienten ihre inneren Bilder, Emotionen und Erlebnisse mithilfe von Visualisierung und Imagination. Der Therapeut hilft ihnen, diese Bilder zu verstehen und zu interpretieren, was es ermöglicht, Konflikte und Traumata zu lösen sowie den Umgang mit Emotionen und Stress zu erlernen. Dieser Ansatz ist besonders hilfreich für diejenigen, die Schwierigkeiten haben, ihre Gefühle auszudrücken, oder die es vorziehen, mit ihrer inneren Welt zu arbeiten.
Ich werde im Folgenden oft über die Stimme, das Bild und die einzelnen Teile Ihrer Persönlichkeit sprechen. Wenn Sie mit diesen Konzepten nicht vertraut sind, können sie Ihnen seltsam erscheinen. Manche Menschen fangen sogar an, sich Sorgen zu machen, ob sie etwa eine Psychose oder Schizophrenie haben, wenn sie die Stimme der inneren Mutter »hören«. Ich möchte Sie beruhigen: Sie haben keine Psychose. Wir Psychologen versuchen, wie Wissenschaftler in anderen Bereichen, Konzepte zu finden, um komplexe Prozesse zu erklären. Wir arbeiten hier eher mit Fantasie und Ideen, weil es so einfacher ist, sich vorzustellen, was in Ihrem Bewusstsein vor sich geht und was manchmal sehr schwer in Worte zu fassen ist.
Vielleicht haben Sie schon einmal vom Konzept des sogenannten »inneren Kindes« gehört. Es ist das Abbild dessen, wie Sie in Ihrer Kindheit waren. Es setzt sich ebenfalls aus verschiedenen Situationen und Interaktionen mit anderen Menschen zusammen. Das innere Kind denkt und fühlt, weint und freut sich, leidet unter Einsamkeit und möchte spielen. Manchmal kann man mit ihm in Kontakt treten. Lebt in Ihnen wirklich ein anderes Kind? Nein. Aber dank der Fantasie können wir uns der vergangenen Erfahrung annähern, mit diesem Teil Ihrer Persönlichkeit in Kontakt treten, ihn trösten und für ihn sorgen. Letztendlich kümmern Sie sich um sich selbst, und das ist einfacher, wenn Sie eine Vorstellung davon haben, was in Ihnen vor sich geht.
Ebenso ist es mit der inneren Mutter. Wenn ich sage, dass Sie mit ihr in Kontakt treten sollten, um Probleme zu besprechen, um Hilfe oder Trost zu erbitten, um mit ihr Tee zu trinken (siehe Übung S. 44), dann meine ich imaginäre Handlungen. Stellen Sie sich vor, dass Sie diese Handlungen ausführen, als würden Sie sich tatsächlich mit ihr treffen und mit ihr sprechen. Sie können Kontakt mit Ihrer inneren Mutter aufnehmen, über Ihre Probleme, Wünsche und Bedürfnisse sprechen, hören, was sie Ihnen antwortet, Ihre Reaktion fühlen und sie verstehen. Ich weiß, dass das womöglich seltsam klingt, aber Sie werden überrascht sein, wie real dieser Dialog sein kann. Immerhin glauben Sie auch Ihren inneren Kritikern, obwohl sie ebenfalls Introjekte sind, die in Wirklichkeit nicht existieren. Und doch hören Sie sie und spüren ihren Einfluss.
In diesem Buch werde ich beschreiben, wie es dazu kam, dass die innere Stimme Ihrer Mutter in Ihnen lebt; was zu tun ist, wenn Sie Konflikte mit ihr haben; und wie Sie eine gute Beziehung zu ihr aufbauen können, damit sie für Sie arbeitet.
Der Mensch ist ein soziales Wesen, das durch die Gesellschaft geformt wird. Ein Neugeborenes ist wie ein unbeschriebenes Blatt: Es hat keine Vorstellung von der Welt, von Beziehungen, vom Gewissen. Im Gegenteil: Ein Säugling ist das egozentrischste Lebewesen der Welt. Er ist mit sich selbst und der Befriedigung seiner Bedürfnisse beschäftigt. Er macht sich lautstark bemerkbar, scheucht seine Eltern, wenn sie zu langsam sind, schreit und weint, bis er bekommt, was er braucht.
Die wichtigste Person im Leben eines Kindes ist seine Mutter oder jemand, der ihre Aufgaben erfüllt. Es ist die Mutter, die dem Kind Wissen über die Welt weitergibt, wie diese organisiert ist. Sie vermittelt ihm, ob es in dieser Welt willkommen, akzeptiert ist; und wie es mit ihr umgehen soll. Im ersten Lebensjahr ist die Mutter die Welt des Kindes. Und je nachdem, wie sich eine Mutter gegenüber ihrem Kind verhält, entwickelt das Kind ein Bild von der Welt um sich und von sich selbst.
Wenn die Mutter wütend auf das Kind ist, seine Bedürfnisse zurückweist, es demütigt und schlägt, beginnt das Kind allmählich zu glauben, seine Welt sei feindselig und es selbst sei eines anderen Umgangs nicht würdig. Es fühlt sich wie eine Last, glaubt, dass es falsch denkt oder fühlt; und wenn es beleidigt wird, meint es, das verdient zu haben. Wenn die Mutter sich hingegen liebevoll um das Kind kümmert, mit ihm spielt, mit ihm spricht, in ihrer Emotionalität verfügbar ist, entsteht im Kind der Eindruck, ein gutes, liebenswertes Wesen zu sein. Es braucht nur um etwas zu bitten und es wird ihm gegeben. Es spürt Halt und Unterstützung, hat Vertrauen in sich und seine Umwelt, kann sich durchsetzen und fürchtet keine Kritik.
Eine meiner Patientinnen fühlte sich ständig von ihrer Mutter kontrolliert. Diese wollte stets wissen, wo ihre Tochter ist und was sie tut; und sie äußerte immer ihre Meinung, ob ihre Tochter sie hören wollte oder nicht. Diese Mutter war eindeutig davon überzeugt, dass ihre Tochter ohne sie verloren wäre, weil sie ihrer Meinung nach vom Leben überhaupt nichts verstand. »Du stellst etwas an - und wer badet das alles hinterher aus?« - »Hör auf deine Mutter und du wirst glücklich sein!« - »Ich bin älter und weiß es besser!« - »Was für ein Quatsch!« . Die Liste der Ermahnungen, Wertungen und scheinbar fürsorglichen Anweisungen ließe sich endlos fortsetzen.
Der Wunsch, die Tochter vor Problemen und Schwierigkeiten zu schützen, führte schließlich dazu, dass diese genau so wurde, wie ihre Mutter es prophezeit hatte: unsicher, still, schüchtern. Es fiel ihr schwer, eine eigene Meinung zu haben, und noch schwerer, sie zu verteidigen. Sie hatte große Angst vor Urteilen und Konflikten und war sehr beunruhigt, wenn etwas nicht harmonisch verlief. Sie war ein braves Mädchen, gehorchte ihrer Mutter und hatte große Angst vor dem Leben.
Kinder spüren die Abhängigkeit von ihren Eltern sehr deutlich. Sie wissen intuitiv, dass sie nicht überleben werden, wenn ihre Eltern sich nicht um sie kümmern. Durch den Kontakt mit den Eltern begreift das Kind sehr früh, was in deren Augen »gut« und was »schlecht« ist; und wie sich sein Verhalten auf die Beziehung zu ihnen und sein eigenes Wohlbefinden auswirken wird.
Vielen Müttern fällt es schwer, mit ihren Gefühlen umzugehen, wenn das Kind nicht gehorcht. Sie ziehen sich möglicherweise beleidigt aus dem Kontakt zurück, schweigen einen Tag, sogar eine oder zwei Wochen lang und verurteilen das Kind so zur Angst vor dem psychischen Tod. Das klingt bedrohlich, weil es genau das ist. Ein Kind, das den Kontakt zur Mutter verliert, fürchtet den Verlust des Kontakts zum Leben. Die Mutter ist jene Person, die sein physisches und psychisches Überleben sichert. Die Mutter hilft ihm, sich selbst kennenzulernen.
Psychoanalytiker wie Melanie Klein und Donald Winnicott beschreiben in ihrer Theorie der Objektbeziehungen den Prozess der Selbstentwicklung und der Beziehungen eines Menschen durch den Kontakt mit primären Objekten - also jenen Menschen, die sich um das Kind in seiner frühen Kindheit kümmern. Nur im Kontakt mit der Mutter lernt das Kind, wer es ist. Indem sie auf es reagiert, gibt sie ihm ein Feedback. Das Kind spiegelt sich in ihr und kann nur so ein Gefühl des Selbst entwickeln. Wenn die Mutter jedoch den Kontakt unterbricht, verliert das Kind sein »Spiegelbild«, das es so dringend für sein Selbstverständnis braucht. Da sein Selbstbild in der Psyche noch nicht gefestigt ist, bedeutet der Verlust dieser Spiegelung die Bedrohung des Verlusts seiner selbst.
Warum handelt eine Mutter so? Wahrscheinlich, weil sie selbst nicht gelernt hat, ihre eigenen und die Emotionen...
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