Schweitzer Fachinformationen
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Mit der DDR verschwand auch der Balaton. Das Augustgewitter blies den Geruch des heißen Langosch von unserem Strand fort. Die Wolken hockten wie ausgefranste, weiße Papierservietten über dem wogenden Wasser. Alles war wild und so verdammt vergänglich. Als das Donnern vorbei war, hörte es auch auf zu regnen. Meine Eltern und ich gingen über die Gleise und ließen die Schranke am Balaton hinter uns. Wir zogen uns in die Deckung, in die Stadt zurück. Wen interessierte schon der kalte See am Sommerende, der Augenblick, in dem der Balaton grau wurde und der heulende Wind die Kiesel am Ufer in alle Himmelsrichtungen trieb.
Das Ufer war menschenleer. Niemand lag auf seiner zerschlissenen Decke unter der Trauerweide, mit Sonnenbrand und sich am Rücken schälender Haut. Der Liegestuhl aus Kunststoff war leer, das Eisenrohr am Steg eiskalt. Verschwunden waren die auf dem Rasen aufgespannten Leinenzelte, in den Reifenspuren der Wohnwagen sammelte sich der Schlamm. Ein Paar gelbe Badelatschen lagen am Strandzugang. Ich ahnte, wer sie dort zurückgelassen hatte. Der Balaton meiner Fantasie zog für den Winter in unser Kinderzimmer ein, und wir konnten es kaum erwarten, dass es wieder Sommer wurde. Ich mochte den See nicht nur, weil wir dort badeten, uns im Schlamm suhlten und Köderfische fingen, sondern auch, weil ich endlich deutsche Mädchen treffen konnte. Das deutsche Mädchen kam mit einem Wartburg oder Trabi, seine Eltern schauten Fußball, und sie aßen Unmengen an Melonen. Auf ihren Dachgepäckträger waren fünf Kilo Kartoffeln geschnallt, immer und überall hatten sie belegte Brote dabei, sogar für die Toilette waren ihnen die paar Forint zu schade, die sie für ihre Mark bekommen hatten. Die Ostdeutschen fuhren frühmorgens zum Pullovermarkt nach Kiliti, wohin uns keine zehn Pferde brachten.
Im Laufe der Achtzigerjahre wurden es immer mehr, in Massen belagerten sie die Ferienhäuser und die Datschen. Sie wohnten in Schuppen, übernachteten im Schlafsack auf dem Steg oder erjammerten sich ein Zimmer in einem Ferienheim der Gewerkschaft. Sie lagen auf karierten Wolldecken, ihre geklebte, rissige Luftmatratze - von der wir stundenlang ins Wasser sprangen - leuchtete von Weitem. Ständig hatte sie ein Loch, dann flickten wir sie, doch schon kam ein neues zum Vorschein. Wir wetzten sie vollkommen durch. Sie schwammen in Trainingshosen, in Turnhemden und Turnhosen, weil sie einen Sonnenbrand hatten, meine Mutter schmierte ihnen den Rücken mit saurer Sahne ein. Ein anderes Mal nackt, weil sich die deutschen Mädchen - im Gegensatz zu uns - überall auszogen. Sie schämten sich nicht, verstanden auch gar nicht, warum wir im Sommer so viel Kleidung trugen. Stundenlang saßen sie ohne Bikini auf einem Ast oder spuckten am Fuße eines Baumes Melonenkerne aus. Sie waren fremd, sonderbar, manchmal auch beängstigend, dennoch bewirtete sie jeder gern. Mein Vater erklärte immer, dies sei wegen des Kriegs so, wovon ich zwar kein Wort verstand, aber ich hörte ihm gern zu.
Die Ostdeutschen aßen im letzten Jahr schon kein Fleisch mehr, auch Brot kaum. Sie sagten, wenn der Herbst da wäre, würden sie nach Wien flüchten. Dieses Herumalbern, das bei uns des Sommers im Garten ablief, oder das Abpulen der Blutegel im Uferschlamm, das reichte ihnen nicht. Für sie war die westliche Welt die Freiheit, und die Freiheit lebte dort, jenseits des Eisernen Vorhangs. Sie sparten die ganzen Ferien hindurch. Sie wurden klapperdürr, damit sie auf die andere Seite des Stacheldrahts gelangen konnten.
Das Radio meiner Mutter weckte uns laut. Es ist der 11. September 1989, morgens sechs Uhr. Kakao und Hefezopf mit Margarine. Ich muss los in die Schule, liege aber nicht allein unter der Decke. Neben mir Heidi, meine sommersprossige Freundin aus Jena, die ich vom Balaton kenne. Heute will ihre Familie versuchen, über die Grenze zu fliehen. Reglos, mit geschlossenen Augen bleiben wir liegen. Die Stimme meiner Mutter empfinden wir als schrecklich störend. Heidi flüstert mir zu, sie werde ganz sicher nirgendwohin gehen. Lieber springe sie aus dem Fenster. Sie zittert. Wie feige, denke ich, aber insgeheim freue ich mich auch, dass sie neben mir im Bett bleibt. Heidi raunt mir ins Ohr, sie gehe zurück an den Strand, in ihren Wohnwagen, dort wolle sie leben, sie könnte ja Gärtnerin auf dem Campingplatz werden. Mach die Augen zu, sage ich zu ihr. Wir ziehen uns die Decke über den Kopf. Ich drücke sie an mich, wir bauen uns eine eigene Höhle. Und schon sitzen wir im Wohnwagen, draußen brennt die Sonne, auf dem Campingtisch kleben wir die Sticker unserer Lieblingsbands in die Zeitschrift. Zu Abend gibt es Himbeersirup und Kirschlutscher. Heidi beginnt zu summen und wackelt mit dem Hintern hin und her. Ihr Zittern ist vorbei. Sie singt immer lauter, ihre Stimme ist sehr schön. Nur, dass meine Mutter schon wieder schreit.
Los, eins, zwei, drei, Zähne putzen! Am Nachmittag habe ich Training, ob meine Sportsachen eingepackt seien: weiße Socken, Schienbeinschoner, Wechselschuhe, Laufhose. Wenn ich mich bewegen wollte, dann höchstens, um Heidis Flucht zu verhindern. Ich hasse es, zweimal am Tag zum Training zu müssen. Ungarisch, Chemie und Mathe hasse ich auch, allein Physik mag ich, weil der Lehrer ein schöner Mann ist, mit roten Haaren und muskulös. Die Schule ist ein Gefängnis. Nicht die DDR ist das Gefängnis, sondern Kind zu sein, sagt Heidi, und wir lachen. Wien hasse ich einfach, weil es mir die Freundin nehmen will. Wie beschissen muss der Westen doch sein, von dem Heidis Eltern so schwärmen, es reicht, sie nur anzusehen, und schon vergeht mir die Lust auf den Hefezopf. Ihr Vater schwitzt immerzu, redet nie ein Wort mit mir. Ihre Mutter sieht aus wie ein Frosch, ihr Körper bläht sich manchmal so sehr auf, dass sie Medikamente nehmen muss.
Die Familie von Heidi Müller hatte in jenem Sommer ihren gesamten Hausrat zu uns gebracht. In ihrem Auto und dem winzigen Wohnanhänger hatte alles Platz gefunden. Sie parkten vor unserem Haus in der Gépmadár-, der Blechvogel-Straße. Damals wohnten wir am Örs-vezér-Platz. Nur ihre Koffer hatten sie in den achten Stock hochgebracht, wir trugen sie in die Loggia, wo sie an einem Abend vom Regen klatschnass wurden. Tagelang wohnten wir zusammen. Sie fuhren jeden Tag in den Bezirk Zugliget, wo sie als Kopfration vom Malteser Hilfsdienst umsonst Suppe mit Grießknödeln bekamen. Meine Mutter arbeitete den ganzen Tag in der Schule, sie hatte keine Zeit, sie zu bekochen. Heidi ist übrigens in den Abendnachrichten im Fernsehen gewesen, erzählte mein Vater. Uns zwei interessierte die Begeisterung meiner Eltern jedoch kein bisschen, wir schlossen uns in meinem Zimmer ein und hörten unter der Bettdecke Musik, das war die schönste Septemberwoche meines Lebens.
Die Straßen von Buda und Pest waren im Herbst 1989 monatelang voller parkender Dacias, Trabis, Wartburgs und Ladas mit dem Aufkleber DDR. Sie durften überall stehen bleiben. Sie füllten die Straßen des Arbeiterviertels Kobánya, benannt nach den einstigen Steinbrüchen hier, den Stefánia-Weg, die Strecke entlang der Straßenbahnlinie 13, sogar im Wäldchen wohnten Ostdeutsche. Wochenlang warteten sie, damit jemand in der Botschaft der Bundesrepublik sagte, man würde die Grenze öffnen und sie bekämen eine Ausreisegenehmigung. Es gab Innenhöfe, wo vollgepackte Koffer über Monate warteten. Zusammengerollte Teppiche, Kinderräder und Töpfe standen in den Treppenhäusern der Plattenbausiedlungen herum. Verlassene Zelte, Haushaltsgeräte. Hochstühle, Decken, Windelpackungen, na und die Pantoffeln. Ein besonderes Merkmal der Ostdeutschen waren diese Holzpantoffeln mit der massiven Sohle. Honeckerlatschen nannten sie meine Eltern. Sie steckten ihre Füße unter einen Lederriemen mit Schnalle, wodurch sich ihr Gang vollkommen veränderte. Wenn die Latschen zu klein waren, störte sie das nicht sonderlich, mit den Zehenspitzen schleiften sie über den Boden, und ihre Fersen hingen auf den Gehweg. Sie liefen, rannten keuchend in ihren Latschen zum Eisernen Vorhang, um bei Hegyeshalom oder am Neusiedler See ins Burgenland zu fliehen. Als ich in der achten Klasse war, bekam ich zu Weihnachten auch ein Paar Honeckerlatschen. Das wurden meine Wechselschuhe. Ich war die Erste in der Klasse, die etwas Deutsches hatte. Beliebt machte mich das nicht. Ein Paar federleichte Adidas-Schuhe wäre viel besser gewesen, aber die hatte nur einer, und das auch nicht bei uns, sondern in der 7 B. In der großen Pause gingen wir sie anschauen. Tamás Nagy nahm Geld dafür; wenn wir ihm einen Fünfer gaben, durften wir sie anprobieren. Mit Schaumstoff gefüttert, dickerem Absatz, bis zu den Knöcheln reichend, durch die Löcher konnte man zwei Schnürsenkel auf einmal fädeln. Seitlich leuchteten die drei Streifen in Neongrün. Wenn ich jemandem mit den DDR-Latschen auf die Füße trat, dann tat das höllisch weh, ich liebte es, mit meinen Schritten Angst und Schrecken zu verbreiten.
Mein Vater kochte auf kleiner Flamme Kesselgulasch. Der Rauch verschwand zwischen den Blättern der Pappeln, wir saßen im Garten unserer Datsche auf Holzstümpfen. Er würzte mit viel Paprika, denn so hatten es die Deutschen bestellt. Aber sie mussten es gar nicht sagen, er wusste auch so, was die Deutschen haben wollten. Früher...
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