Kapitel 1
»Das sind Keulen, meine Damen, und keine Zauberstäbe, mit denen man Rosen in Feen verwandelt. Wie oft muss ich das wiederholen?« Die achtzigjährige Gräfin Wallau marschierte zackig wie ein General, der die Truppen abschreitet, vor Herzogin Sophie und Erika, Sophies Zofe, über den taufeuchten Rasen im menschenleeren Park von Schloss Berg. Die normalerweise hellgelbe, dreistöckige Barockfassade mit den zinnenbestückten Ecktürmen war im Lichte des Sonnenaufgangs rosig eingefärbt. Hinter der Gräfin schimmerte das glatte Wasser des Würmsees, rechts von ihr dufteten die Rosen aus einem der gepflegten Beete und das leise Plätschern des Springbrunnens auf dem Schlossvorplatz betonte die ansonsten vollkommene Stille des jungfräulichen Tages. Alles in allem ein wunderbar friedvoller Morgen, wenn die griesgrämige Gräfin und der aufgezwungene Frühsport nicht gewesen wären.
Sophie seufzte leise, hob ein wenig ratlos ihre zwei massiven Turnkeulen vor der Brust in die Höhe und spähte aus den Augenwinkeln zu Erika hinüber, die nur einen Meter neben ihr stand.
»Was ist mit den Rosen?« Erika schaute ihrerseits perplex von den Turnkeulen in ihren Händen zur Gräfin. Sophies Zofe trug wie diese ein schwarzes, knöchellanges Kleid mit Matrosenkragen, darunter eine Pumphose, ebenfalls in Schwarz, die an den Knöcheln zusammengebunden war.
»Ich meine: nicht schlackern, anheben!«, erklärte die Gräfin nur einen Hauch weniger kryptisch. Sie hatte dieselbe Kleidung wie Sophie und Erika angelegt, aber sich zusätzlich an ihren Kragen einen sternenförmigen, goldenen Orden gesteckt.
Erika hielt ihre Keulen zitternd knapp auf Oberschenkelhöhe. »Die wiegen Kilos. Das ist viel zu schwer.«
»Selbstmitleid ist missbrauchte Atemluft.« Die Gräfin bohrte bei jedem Schritt ihren altmodischen Krückstock in die Erde und schaute en passant zu Sophie, die vorstehenden Augen skeptisch zusammengekniffen. »Mehr Elan, Hoheit, wenn ich bitten darf.«
»So?« Sophie wuchtete die Keulen mit ausgestreckten Armen und so viel - oder vielmehr wenig - Energie auf und ab, wie sie um diese indiskutable Tageszeit aufbringen konnte.
»Nennt Ihr das Elan?« Die Gräfin wartete nicht auf eine Antwort, sondern schüttelte den weißhaarigen Kopf. »Ihr seht aus wie ein schlafender Pfau, der gleich vorne überkippt.« Sie drehte sich um und marschierte in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war.
»Ich bin kein schlafender Pfau, höchstens ein übermüdeter«, grummelte Sophie leise, nachdem die Gräfin in sicherer Entfernung schien. Sie fragte sich, ob der Pfau eine Anspielung auf ihre Haare war. Die fielen offen ihren Rücken bis zur Taille herunter, weil Sophie sich keine Zeit zum Frisieren genommen hatte, und standen aus irgendeinem Grund elektrisch geladen nach allen Seiten ab, was mit viel Fantasie wie ein Pfauenrad aussehen mochte.
Die Gräfin stoppte ihren Marsch und drehte sich um. »Übermüdet sind nur Menschen, die keine Ziele im Leben haben.«
»Die hat aber wirklich ausgezeichnete Ohren für ihr Alter«, flüsterte Erika. Sie neigte sich beim Sprechen seitlich zu Sophie herunter, die einen guten Kopf kleiner war.
»Aber hat sie eben tatsächlich gemeint, dass ich keine Ziele im Leben habe?«, flüsterte Sophie empört zurück und musste ein Gähnen unterdrücken.
Die Gräfin warf ihr einen tadelnden Blick zu, ob wegen des Flüsterns oder des Gähnens, war Sophie nicht klar. Sie versuchte dennoch pro forma, die hölzernen Ungetüme schneller zu bewegen.
Erika fluchte leise, als ihr eine Keule aus den Fingern glitt und beinah auf den Fuß fiel.
Die Gräfin, auf ihren Stock gelehnt, schenkte ihr einen strafenden Blick.
»Hoppla.« Erika hatte ihre herabgefallene Keule aufgehoben und dabei ihren Rock mit in die Höhe gezogen, sodass man ihre Hosen bis zu den Knien sehen konnte.
»Erbärmlich«, urteilte die Herzogin knapp und nahm ihre Wanderung wieder auf.
Sophie nieste zwei Mal hintereinander, ließ die Keulen erleichtert aufs Gras sinken und tastete in ihrem Ärmelaufschlag nach ihrem Taschentuch.
»Was ist, Hoheit?« Die Gräfin unterbrach ihre Wanderung und bohrte ein weiteres tiefes Loch in den feuchten Rasen, das die Gärtner um den Verstand bringen würde. »Wir sind nicht fertig. Noch zehn Wiederholungen.«
»Verzeiht mir. Die Rosen.« Sophie zog ihr Taschentuch aus ihrem Ärmel.
»Was ist mit ihnen?« Die Gräfin warf einen flüchtigen Blick auf das nächstgelegene Blumenbeet.
»Sie bringen mich zum Niesen, Gräfin.« Sophie putzte sich die Nase.
»Ihr vertragt keinen Rosenduft?« Die ohnehin schon gefurchte Stirn der Gräfin zog sich noch mehr zusammen. »Das ist absurd.«
Sophie rollte innerlich mit den Augen.
Die Gräfin nahm ihre Wanderschaft wieder auf und knurrte: »Da seid Ihr genau richtig hier, Eure Hoheit.«
Sophie schaute zur Roseninsel hinüber, die in der Mitte des Würmsees lag, und seufzte stumm. Vor Rosen mangelte es auf Schloss Berg wahrlich nicht.
Erika wartete, bis die Gräfin einige Schritte entfernt war. »Ich kann nicht fassen, dass deine Mutter uns so einer Tyrannin überantwortet hat. Hat dein Brief sie nicht erreicht?«
»Doch, ich habe alles versucht, glaube mir. Nach der Sache mit dem Vogelkäfig war es Benimmunterricht bei der Gräfin oder Rückkehr nach Possenhofen.« Sophie behielt die Gräfin im Auge, die grimmig eine einzelne Zigarre aus ihrer Rocktasche pfriemelte.
Erika nickte verständnisvoll. Sie wusste genau, worauf Sophie anspielte. Vor wenigen Wochen erst hatte es einen Anschlag auf Schloss Hohenschwangau gegeben, bei dem Ludwig beinahe getötet worden wäre. Er und Sophie hatten den Täter fassen können, doch dabei musste Sophie auf eine Art mit einem Vogelkäfig handgreiflich werden, die ihre Familie - und besonders ihre Mutter - mit größtem Entsetzen erfüllt hatte. Wenn es nach jener ginge, wäre Sophie daher längst vom Hof entfernt und nach Hause befördert worden, doch Ludwig hatte Gott sei Dank mal wieder ein beschwichtigendes Wort bei Sophies Mutter eingelegt.
»Aber bist du sicher, dass deine Mutter wollte, dass man uns mit Körperertüchtigung und Schlafentzug drangsaliert? Was hat das, bitte schön, mit Benimmunterricht zu tun?« Erika führte schwächliche Bewegungen mit den Keulen, die man selbst mit gutem Willen nicht als körperliche Ertüchtigung bezeichnen konnte.
»Das ist eine ausgezeichnete Frage, die ich leider nicht beantworten kann. Aber Hauptsache, ich bin hier in Berg und nicht zu Hause. Wir sollten uns glücklich schätzen, dass wir keine Eier im Hühnerstall einsammeln müssen wie meine Freundin Charlotte, die auch schon mit der Gräfin Bekanntschaft schließen durfte.« Sophie unterdrückte ein Gähnen. »Ich wünschte nur, die Gräfin wäre nicht so eine passionierte Frühaufsteherin.«
»Eier? Wirklich?« Erika verzog das Gesicht. »Wie lange musste sie das durchstehen?«
»Zwei Monate. Seitdem isst sie keine mehr.« Sophie bemühte sich, den Mund beim Sprechen so wenig wie möglich zu bewegen, obwohl die Gräfin mit ihren Streichhölzern beschäftigt war, die in der lauen morgendlichen Brise immer wieder ausgingen.
»Ach du meine Güte«, flüsterte Erika. »Meinst du, wir müssen das hier ebenfalls derart lange ertragen? Sie quält uns erst vier Tage, aber es kommt mir wie eine Ewigkeit vor.«
»Ich fürchte, das entscheidet die Gräfin. Mama hat ihr Carte blanche gegeben. Aber du kannst dich nach wie vor aus der Affäre ziehen, Erika. Du musst nicht mit mir mitleiden.«
»Nichts da«, sagte Sophies Zofe entschieden. »Mitgefangen, mitgehangen.«
»Achtung«, murmelte Sophie, weil die Gräfin sich wieder in Bewegung setzte, die angezündete Zigarre im Mundwinkel, dicke Rauchschwaden auspaffend.
»Puhh.« Erika rümpfte demonstrativ die Nase, als die Gräfin bei ihnen angekommen war.
Sophie musste grinsen, weil Erika selbst rauchte, wenn auch nur Zigaretten und keine Zigarren.
Die Gräfin nahm die Zigarre aus dem Mund und bellte: »Was ist hier so amüsant? Zehn zusätzliche Wiederholungen.«
»Das ist unfair«, schimpfte Erika.
»Zwanzig Wiederholungen.« Die Gräfin blies Erika den Rauch genüsslich ins Gesicht.
Eine knappe Stunde später stiegen Erika und Sophie nebeneinander erschöpft die schmale Wendeltreppe in den ersten Stock in Schloss Berg hinauf. Ludwig II., König von Bayern, Sophies Ex-Verlobter und Cousin, hatte ihnen Gemächer in der selten genutzten Wohnung der Königinmutter zur Verfügung gestellt.
»Ich bin derart geschunden. Ich könnte mich gleich nochmals hinlegen.« Erika hatte ihre Keulen unter den Arm geklemmt und wischte sich mit einem Ärmel den Schweiß von der Stirn.
»Tu das, wenn du möchtest.«...