Schweitzer Fachinformationen
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Der Regen prasselte gegen die Scheiben des Polizei- und Justizzentrums. Das düstere Wetter ließ den Sichtbeton grauer, die gläsernen Trennwände kälter wirken. Nicht zum ersten Mal sehnte sich Staatsanwältin Regina Flint nach ihrem alten Büro am Helvetiaplatz. Wehmütig dachte sie an die knarrenden Holzböden und verwinkelten Gänge zurück. Drei Jahre waren seit dem Umzug vergangen, doch sie fühlte sich an ihrem neuen Arbeitsplatz immer noch nicht wohl. Die Lüftung ließ ihre Augen tränen, ihr kleines Büro war eng und unpersönlich. Sie war froh, dass sie an einem Tag pro Woche von zu Hause aus arbeiten konnte.
Einen Vorteil aber hatte das riesige Verwaltungsgebäude. Nicht nur die Staatsanwaltschaft war darin untergebracht, sondern auch die Kantonspolizei, was den informellen Austausch vereinfachte. Regina stand auf, griff nach ihrer Handtasche und machte sich auf den Weg in die Kantine. Normalerweise verließ sie über Mittag das Gebäude, ging in eines der umliegenden Restaurants oder setzte sich mit einem Sandwich auf eine Bank in der nahe gelegenen Parkanlage. Sie brauchte die frische Luft und die Abwechslung. Heute aber war sie verabredet.
Tobias Fahrni wartete bereits auf sie. Er saß an einem der Fensterplätze und starrte hinaus auf einen begrünten Lichthof.
»Glaubst du, es würde dem Häuptling hier gefallen?«, fragte er, als Regina an den Tisch trat.
Er war der Einzige, der seinen ehemaligen Vorgesetzten noch Häuptling nannte. Als Bruno Cavalli das Leib/Leben verließ, gab er auch seine Stellung als Dienstchef auf.
Regina betrachtete die geschwungene Form des Lichthofs. Vermutlich hatte die Natur dem Architekten als Inspirationsquelle gedient, dennoch wirkte die grüne Insel künstlich. Nein, dachte sie, Cavalli würde es hier nicht gefallen. Ihr Lebenspartner weigerte sich sogar, mit ihrer gemeinsamen Tochter Lily den Zoo zu besuchen, weil ihn die Gehege bedrückten.
»Wollen wir uns etwas zu essen holen, bevor die Schlange länger wird?«, schlug sie vor und deutete auf die Selbstbedienungstheke.
Zehn Minuten später kehrten sie mit dem Tagesmenü an ihren Tisch zurück. Es bestand aus Älplermagronen und Brasato, dazu gab es einen kleinen Salat.
»Wie war die Abschiedsfeier gestern?«, fragte Regina.
Heinz Gurtner, Sachbearbeiter beim Leib/Leben, war nach zweiundvierzig Jahren bei der Kantonspolizei Zürich in den Ruhestand getreten.
»Fast wie früher«, antwortete Fahrni. »Wir haben uns in der Sherif's Bar getroffen, hinter dem Kripogebäude.« Er seufzte. »In meinem ehemaligen Büro ist jetzt ein Start-up untergebracht. Am Fenster klebt das Logo von Hip Hop Zoo.«
Regina wusste genau, wie ihm zumute war. Sie fragte sich, wann sie damit begonnen hatte, zurückzublicken statt nach vorne. Als junge Staatsanwältin hatte sie davon geträumt, die Welt zu einem gerechteren Ort zu machen. Voller Zukunftsglaube und Optimismus hatte sie sich in die Arbeit gestürzt. Nach und nach holte sie die Wirklichkeit ein. Eine Staatsanwältin sorgte selten für Gerechtigkeit, ja nicht einmal immer für Recht. Außerdem hatte sie lernen müssen, dass Machtverhältnisse, Strukturen und Befindlichkeiten genauso wichtig waren wie die Fälle, die sie bearbeitete. Mit jedem Jahr, das verging, schraubte sie ihre Erwartungen weiter herunter. Manchmal wünschte sie sich, noch einmal die Zuversicht zu spüren, mit der sie ihre Stelle angetreten hatte.
»Worüber wolltest du mit mir sprechen?«, fragte sie Fahrni, dessen Teller bereits leer war.
Er nahm eine Flasche hervor, die mit »Taiga-Lotion« beschriftet war. »Kasimir Werit hat einen Laden eröffnet.«
Als Regina den Namen hörte, verging ihr der Appetit. Der selbst ernannte Heiler und Anhänger der pseudoreligiösen Anastasia-Bewegung stand unter dem Verdacht, mindestens einen Menschen getötet zu haben, doch sie konnten ihm nichts nachweisen.
Regina griff nach der Flasche. »Wo?«
»Im Zürcher Oberland.«
Frustriert presste Regina die Lippen zusammen. Kasimir Werit hatte es lange vermieden, sich irgendwo niederzulassen. Offenbar glaubte er nun nicht mehr, dass ihm Gefahr seitens der Polizei drohte. Regina googelte den Laden auf ihrem Handy und stieß auf ein Foto des Heilers. Mit seinem langen Bart und dem glückseligen Ausdruck erinnerte er sie an eine Mischung aus dem russischen Wanderprediger Rasputin und der Sektenführerin Uriella. Bloß, dass sich Kasimir Werit nicht auf Gott berief, sondern auf die Romangestalt Anastasia des Autors Wladimir Megre. In seinem zehnbändigen Werk propagierte Megre ein naturnahes Leben auf sogenannten Familienlandsitzen. Eine schöne Vorstellung, dachte Regina, wären da nicht die antisemitischen Textstellen und das vorsintflutliche Frauenbild. Die Schweizer Fachstelle InfoSekta stufte den Anastasianismus als völkische, rechtsextreme Blut-und-Boden-Ideologie ein. Reginas Meinung nach war die Bewegung besonders gefährlich, weil sie Menschen anzog, die nichts mit Sekten am Hut hatten, sondern einfach im Einklang mit der Natur leben wollten. Ein Trend, der in den letzten Jahren immer stärker geworden war. Viele Anhänger hatten die Schriften Wladimir Megres nicht einmal gelesen.
Vor achtzehn Monaten hatte der Filmemacher Levin Brauer die Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm über den Anastasianismus aufgenommen. Kurz darauf war er mit einem Berner Gertel erschlagen worden. Die letzte Person, die er interviewt hatte, war Kasimir Werit. Dieser behauptete hartnäckig, er sei Brauer nicht feindlich gesinnt gewesen, obwohl der Filmemacher ihn verbal angegriffen und seine Heilkünste als Hokuspokus bezeichnet hatte. Ein Jahr zuvor war ein anderer Kritiker spurlos verschwunden, auch damit wollte Werit nichts zu tun gehabt haben.
»Warst du in dem neuen Laden?«, fragte Regina. »Hast du mit Werit gesprochen?«
»Ja.« Fahrni steckte die Flasche wieder ein. »Er war freundlich wie immer.«
Regina dachte an die sanfte Stimme und die großen Hände des Mannes, die ihn nicht bedrohlich, sondern wie einen liebenswerten Welpen erscheinen ließen. Während der Einvernahme hatte sie sich gefühlt, als laufe sie gegen eine Gummiwand. Nichts konnte Werit aus der Ruhe bringen. Provokationen entlockten ihm ein Lächeln, Anschuldigungen entkräftete er mit höflichen Plattitüden.
»Er bietet seit Neustem auch Beratungen an«, fuhr Fahrni fort.
»Für Menschen, die ihre Feinde loswerden wollen?«, fragte Regina trocken.
Fahrni, der keinen Sinn für Ironie hatte, schüttelte den Kopf. »Für solche, die ihr Potenzial entfalten möchten.«
Regina ballte die Fäuste. Kasimir Werit löste eine Wut in ihr aus, die sie selbst überraschte. Sie hatte sich nie gut von ihrer Arbeit abgrenzen können, normalerweise war es jedoch ein Mitgefühl, das sie beschäftigte. Mit Opfern von Gewalttaten, deren Leben von einem Moment auf den anderen auf den Kopf gestellt wurde. Angehörigen, die einen Elternteil, ein Geschwister oder gar ein Kind verloren hatten. Manchmal auch mit einem Täter, dessen Weg von Anfang an vorgezeichnet war, weil er am falschen Ort, zur falschen Zeit oder in die falsche Familie hineingeboren worden war. Die Wut, die sie jetzt spürte, war neu. Eine tiefe Ohnmacht lag ihr zugrunde.
»Wie geht es dem Häuptling?«, fragte Fahrni.
»Er ist gestern nicht wie vereinbart nach Hause gekommen«, antwortete Regina.
»Warum hast du uns nichts gesagt?« Fahrni sah sie besorgt an. »Für Paz ist es kein Problem, kurzfristig einzuspringen.«
»Chris hat heute frei, er ist mit Lily in den Zoo gefahren.«
Fahrnis Lebenspartnerin Paz betreute Lily an drei Tagen pro Woche. Lily liebte die Paraguayerin, doch an ihren Halbbruder Chris kam niemand heran.
»Das freut Lily bestimmt«, sagte Fahrni.
Regina nickte abwesend.
»Machst du dir Sorgen um den Häuptling?«, fragte Fahrni.
»Vermutlich ergab sich endlich eine Gelegenheit, Siena Salis näher zu kommen, die er nicht verpassen wollte. Du weißt, wie er ist. Die Arbeit kommt immer an erster Stelle.«
Was nicht ganz stimmte, dachte sie, sprach es aber nicht aus, weil sie ihren Ängsten keinen Vorschub leisten wollte. Seit Lily vor sechs Jahren zur Welt gekommen war, bemühte sich Cavalli, so viel Zeit wie möglich mit seiner Tochter zu verbringen.
»Lass es mich wissen, wenn ich etwas tun kann«, sagte Fahrni und stand auf. »Ich muss los. Bis später.«
Regina hätte auch an ihren Arbeitsplatz zurückkehren sollen, stattdessen kramte sie ihr Handy hervor und starrte auf das Display. Kein Anruf von Cavalli. Kurz erwog sie, ihm eine Nachricht zu schreiben, doch sie durfte nur im Notfall Kontakt mit ihm aufnehmen. Resolut steckte sie das Telefon zurück in ihre Tasche.
Das Polizei- und Justizzentrum, kurz PJZ genannt, war nicht nur das komplexeste Gebäude des Kantons Zürich, sondern auch das größte. Während Regina den langen Weg durch das Hauptatrium zu einem der zweiunddreißig Aufzüge ging, kreisten ihre Gedanken wieder um Kasimir Werit. Der Heiler war als Siebenjähriger mit seiner Mutter Ewa aus dem westsibirischen Serow in die Schweiz gekommen, wo Hans Inauen auf einem abgelegenen Bauernhof im Appenzell mit einem Heiratsangebot wartete. Kasimir besuchte die Dorfschule, schloss aber keine...
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