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Über das Dörfchen St. Piran werden viele Legenden erzählt. So viele, dass es manchmal schwerfällt, zwischen Wahrheit und Fabel zu unterscheiden. Zum Beispiel gibt es in dem Dorf diejenigen, die sagen, bei den uralten Felsen, die die beiden Enden der Hafenmauer markieren, handele es sich um die sterblichen Überreste der Fischer John Brewster und Matthew Treverran, die (zu Recht) in Stein verwandelt wurden, weil sie an einem Sonntag geknobelt hatten. Andere erzählen, dass die Hafenmauern selbst nichts anderes sind als die offenen Arme eine Knockers - eines cornischen Dämonen, der im Gewässer der Piran Bay ertrank, als er nach einem gewalttätigen Disput beim Kartenspielen vor dem heiligen Michael floh. Solche Geschichten hört man, wenn man Zeit in diesem Dorf verbringt und die Geduld hat zuzuhören. Es gibt in der Dorfgemeinschaft sogar heute noch welche, die ein totes Hähnchen im Sarg ihrer lieben Angehörigen verstecken. Der Vogel soll in der nächsten Welt wiederbelebt werden und den heiligen Petrus an seine Leugnung Christi erinnern, denn beim Krähen des Hahnes beging Petrus seine Todsünde. Die Erinnerung daran und die damit verbundene Scham sollen den Heiligen dazu verleiten, ein mildes Urteil über den Verstorbenen zu fällen. So die Logik. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Dörfer in Cornwall an Traditionen wie dieser festhalten, doch in St. Piran, so könnte man meinen, scheint es mehr solcher Bräuche zu geben als anderswo. Jedes Weihnachten ziehen die Kinder des Dorfes mit Kerzen den Hang hinauf, über sich die gigantische Nachbildung eines Wals. Das, so erzählen sie dann, geschieht in Erinnerung an einen Mann, der das Dorf vor einer der großen Pandemien bewahrte, nachdem er auf dem Rücken eines Wals zum Strand geritten war.
Es sind Märchen, diese Geschichten, die in St. Piran erzählt werden. Manche mögen sie vielleicht glauben. Andere . eher nicht. Manche Geschichten, wie die von den Fischern, die in Stein verwandelt wurden, beschreiben kurze Ereignisse. Sie hätten an diesem Tag in St. Piran sein und trotzdem nichts mitbekommen können. Andere Geschichten spielen sich über Wochen hinweg ab, über Monate sogar. Und dann gibt es da noch die Geschichte von der Wette und dem Eisbären. Es gab einmal eine Zeit, da jeder Mensch auf der Welt diese Geschichte kannte. Oder einen Teil davon. Doch das hier ist St. Piran. Hier fing die Geschichte an, und hier ging sie auch zu Ende. Hier haben die Leute ihre eigene Art, über die Dinge zu reden. Für sie ist es also vielleicht die merkwürdigste Geschichte von allen. Sie erstreckt sich nicht über Tage, nicht über Monate, sondern über Jahrzehnte. Es ist eine Geschichte über menschliche Lebzeiten. Martha Fishburne hat den Kindern der Piran School Teile davon erzählt, und bald schrieben einige von ihnen die Episoden auf, an die sie sich erinnerten. Charity Limber, die im Marazion House putzte, erfuhr einen Großteil der Geschichte von Monty Causley, und sie gab alles an Jeremy Melon weiter, und Jeremy schrieb etwas davon auf, aber nur einen Teil, denn er lebte nicht lang genug, um es zu Ende zu bringen. Und andere Zeugen zeichneten hier einen Teil und dann da einen Teil auf, und es gibt Fotografien, wenn man sich die Mühe macht, danach zu suchen, und zahlreiche Berichte in alten Zeitungen und sogar ein oder zwei Dorfbewohner, die sich vielleicht noch daran erinnern. Einmal wurde sogar ein Film darüber gedreht und ein Theaterstück geschrieben, und in den meisten Schulgeschichtsbüchern aus der Zeit sowie den Online-Enzyklopädien ist irgendeine Version der Ereignisse enthalten. Doch in keinem von ihnen kann sich die Geschichte in Gänze entfalten. Und das ist vielleicht der Grund, warum sie in Cornwall immer noch davon reden. Seit über fünfzig Jahren hat es im Dorf nicht mehr geschneit, aber bis heute hängen manche im Juni einen Schneestern ins Fenster, um an die Sache mit der Wette und dem Eisbären zu erinnern.
Es ist schon lange her. So sagen die Leute. Mehr als achtzig Jahre sind vergangen, seit Tom Horsmith, ein Teenager noch, mit einer Tasche auf dem Rücken und einem Lächeln im Gesicht den Marktplatz betrat. Sein Name ist es, an den sich die Leute vor Ort erinnern, wenn sie sich überhaupt an einen Namen erinnern. Doch in einem Dorf wie St. Piran hat jede Geschichte ihren Helden. Viele haben außerdem einen Schurken. Manchmal wird der eine mit dem anderen verwechselt. Wenn es einen Schurken in der Geschichte mit dem Eis gab, dann wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, ihn kennenzulernen. Sein Name ist es schließlich, an den sich der Rest der Welt erinnert, und ein großer Teil der Welt hält ihn für den Helden. Er war in Wahrheit gar kein Schurke. Nicht wirklich. Auch war er kein echter Dorfbewohner, sondern einer von außerhalb. Sein Name lautete Monty Causley. Er kam aus Cornwall, aber nicht, so werden die Leute betonen, aus St. Piran. In St. Piran heißt es, er stamme aus Lostwithiel, wo seine Familie Cider produzierte, auch wenn manche glaubten, er komme eigentlich aus Bodmin und habe sein Vermögen mit Zinn gemacht. Wie auch immer. Ihm gehörte Marazion House, direkt am Meer, und Marazion House war von zentraler Bedeutung für das Spiel, das sich in der Geschichte von der Wette und dem Eisbären entwickelte. Das Haus war, da würden die meisten zustimmen, das eindrucksvollste Haus im Dorf. Es war aus Stein erbaut und schien Teil der Bucht zu sein, ein Gebäude, das aussah, als wäre es organisch aus den Felsklippen selbst erwachsen, als hätte sich der Felshang neu formiert, nicht ganz vertikal, nicht ganz horizontal, ein Gebäude, das nie den Bleistift eines Architekten oder ein Lot gesehen hatte, sondern sich entwickelt hatte, Stück für Stück, hier ein bisschen, dort ein bisschen, bis es, wie ein älterer Verwandter, zu einem zeitlosen Merkmal des Hafens wurde, weder alt noch jung, weder hässlich noch schön. Aber beeindruckend. Faszinierend. Vielleicht war es das erste Haus in St. Piran gewesen. Das wusste niemand genau. Vielleicht gab es dahinter Schmugglerhöhlen, tief in den Klippen verborgen, die verloren geglaubte Schatzkisten enthielten. Es war ein Haus mit Geheimnissen. Ein Haus, das keine Geschichten preisgab. Es schien an einer gefährlichen Stelle zu stehen, zwischen Meer und Land, unnatürlich tief gelegen für ein Haus am Meer, aus den Felsen gehauen, die womöglich die versteinerten Überreste würfelspielender Fischer gewesen waren. Wenn die Arme des Knocker-Dämonen den kleinen Hafen von St. Piran umfassten, dann saß Marazion House wie das letzte Wohnhaus der Welt vor dem endlosen Ozean am Ellbogen des rechten Armes. Und da St. Piran damals (und auch heute noch) fast das letzte Dorf am letzten Zipfel Großbritanniens war, fühlten sich die Bewohner von Marazion vielleicht wie verzweifelte Flüchtlinge, die sich an die Felsen klammerten und die letzte Bastion gegen die täglichen Angriffe des grausamen Atlantiks aufrechterhielten. Es stand in einer eigenen kleinen Bucht, das einzige Gebäude oberhalb eines Kiesstrandes, kaum breiter als das Haus selbst. Der Strand führte zu einer rutschigen Ansammlung von Felsen, die wiederum zu den Stufen des Hauses führten. Um vom Land aus zur Eingangstür zu gelangen, musste man ein Dutzend Stufen zu einem gepflasterten Weg hinabsteigen, der oberhalb des Strandes verlief, und von dort sechs Stufen zur Veranda wieder hinauf. Heute würde niemand mehr ein solches Haus entwerfen, doch Marazion widersprach sämtlichen Grundsätzen guter Architektur. Die Steine der Mauern waren mit den Jahren schwarz geworden, grün vor Flechten, mit winzigen Rankenfußkrebsen übersät und niemals richtig trocken. Die feine Gischt der Wellen bei Flut, der Südwind und die Ozeanböen - all das verlieh den Mauern einen stetigen Schimmer.
Wer war auf die Idee gekommen, ein Haus so nah am Wasser zu errichten? Bei hohen Springfluten erreichte das Wasser beinahe die Eingangstür. Dann konnte man manchmal das Haus nicht ohne nasse Füße verlassen, um ins Dorf zu gehen. Nach jedem Sturm waren die Stufen rutschig, doch das Haus musste von meisterhaften Maurern erbaut worden sein, denn die Winterstürme kamen und gingen, die Sommersonne strahlte unerbittlich, und die Ozeanwellen schlugen gegen die Türschwelle, bevor sie sich wieder zurückzogen. Marazion stand unverändert da, ungerührt, unbewegt, und all seine Geheimnisse blieben weiterhin unerzählt. Möwen saßen auf den Schieferplatten, als wäre das Haus bloß eine weitere Klippe und als wäre dies der Ort, an den die Evolution sie geführt hatte. Von den Dächern stürzten sie sich bei Flut mit einem Satz in den Hafen hinab, um sich dort Sprotten und Schrimps und heruntergefallene Pommes zu schnappen. Die Regenrinnen und die Wände des Hauses waren von Möwenausscheidungen übersät, die an verschüttete Farbe erinnerten.
Monty Causley gehörte Marazion House in dritter Generation. Vor ihm hatte es seinem Vater gehört und davor seinem Großvater. Doch das machte Monty, seine Eltern oder Großeltern nicht zu echten Bewohnern von St. Piran. Keiner von ihnen hatte je wirklich im Marazion House gelebt. Sie waren abwesende Hausbesitzer, noch immer Fremde im Dorf. Monty vermietete das Haus an Urlauber. Zweitausend Pfund die Woche brachte es im Hochsommer ein. Eintausend Pfund die Woche in der Nebensaison. Vielleicht hätte es noch mehr einbringen können, wenn es sich an einem der beliebten Urlaubsziele befunden hätte, wie St. Ives oder Porthcurno oder sogar Newquay, wo die Surfer die Hauptsaison ausdehnten. St. Piran dagegen lag ein wenig abseits der Tourismuskarte, war etwas zu...
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