Schweitzer Fachinformationen
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Als es Abend wurde, bog Kondjoura vom Elefantenpfad in den angrenzenden Mopanewald ab. Er schlängelte sich an den knorrigen, im Schatten ruhenden Stämmen vorüber und stieß hinter dem schmalen Laubgürtel auf den Kunene. Frische Rinderfährten und die Spuren von Hirten führten zum Ufer hinunter, und in der Mitte des Grenzflusses zwischen Namibia und Angola strömte das Wasser gurgelnd über eine Felsenbank. Der Kunene war an dieser Stelle nicht mehr als siebzig Schritte breit.
Kondjoura legte den Hirtenstab fort, löste den Knoten in seinem Leibriemen, ließ ihn samt den beiden schwarzen, kalbsledernen Lendenschurzen und dem Tragebeutel auf den Boden fallen und schleuderte die Sandalen aus Giraffenleder von seinen Füßen. Dann näherte er sich dem Fluss.
Das Ufer war mit rundgeschliffenen Steinen übersät, so dass er sich an dem mannshohen Schilf festhalten musste. Kaum hatte er einen Schritt in das milchiggrüne Wasser getan, begann der Strom an seinen Beinen zu zerren. Er hockte sich zwischen zwei Felsen und schloss die Augen.
Der Fluss belebte ihn, so wie er auch seine Urahnen belebt hatte, als die Herero zu Beginn des 16. Jahrhunderts aus der angolanischen Provinz Mocamedes gen Süden gezogen, den Kunene überquert und ihn auf ihrer Wanderung in das nordwestliche Grenzgebiet des heutigen Namibias zu ihrer Rechten - okunene- gelassen hatten. Ein großer Teil der Herero war weiter ins Landesinnere vorgedrungen, während eine kleine Volksgruppe im Kaokoland, dem Platz der Stille, zurückgeblieben war. Das Volk nannte sich Himba - Die Singenden.
Kondjoura öffnete die Augen und neigte sich vor, um aus der hohlen Hand zu trinken. In dem Moment gewahrte er eine Bewegung. Er sprang auf, im Glauben, ein Krokodil sei am gegenüberliegenden Ufer ins Wasser geglitten, doch als er mit rudernden Armen das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, sah er ein Himbamädchen im Schilf knien.
Kondjoura atmete auf. »Ist es für dich Abend geworden?«, rief er über den Fluss.
»Ja«, erwiderte das Mädchen, ohne den Blick von ihm abzuwenden. »Ist es für dich Abend geworden?«
»Ja, es ist für mich ein guter Abend geworden«, beendete er die Begrüßung. Das Mädchen starrte ihn noch immer unverwandt an. Er war ein hochgewachsener, junger Mann mit breiten Schultern, schmalen Hüften und langen, sehnigen Beinen. Als er die Hände vor seinem nackten Schoß faltete, senkte sie den Kopf, und das schulterlange, zu fingerdicken Schnüren geflochtene Haar fiel wie ein Perlenvorhang über ihr Gesicht.
Grinsend nahm Kondjoura wieder zwischen den Felsen Platz und betrachtete die junge Frau: Sie trug eine wulstige Halskette aus Straußeneierplättchen, an den Handgelenken Kupferringe; und eine mit einer Muschel verzierte Eisenperlenkette baumelte zwischen ihren Brüsten herab. Sie hatte große Brüste; sie berührten die Ellbogen, jetzt, da sie sich nach vorn neigte und einen ausgehöhlten Flaschenkürbis in das Wasser tauchte.
Obwohl sie so tat, als sähe sie ihn nicht, ahnte er, dass sie ihn verstohlen beobachtete. Er drehte den Kopf zur Seite, damit sie seine beiden Zöpfe sah und wusste, dass er beschnitten und durchaus berechtigt war, eine Frau an sein Feuer zu holen.
»Ich bin Kondjoura, der in der Sturmnacht Geborene!«, rief er. »Ich habe sechs Monde im Kral meines Onkels zugebracht, um mir die Rinder anzusehen, die ich eines Tages erben werde. Die Rinder sind fett und so zahlreich wie die Sterne.«
Er hatte bewusst angegeben, doch die Aufmerksamkeit des Mädchens galt allein den Luftblasen, die blubbernd aus dem Flaschenhals der Kalebasse aufstiegen.
»Wer bist du?«
»Tjizire!«
Kondjoura nickte. »Die Welt verändert sich ständig«, pflichtete er ihr bei. »Eben noch hat dein Anblick mich erschreckt, jetzt erfreut er meine Augen.« Er lächelte. »Welchem Matriclan gehörst du an?«
»Dem Clan der Schwiegertochter des Regens.« Tjizire hatte eine helle, klare Stimme, die mühelos den gurgelnden Fluss übertönte. Nun hob sie die Kalebasse aus dem Wasser und stand auf. Ein mit Münzen verzierter Riemen umspannte ihre Taille, und an ihrem vorderen Lendenschurz waren Kupferstangen befestigt. Die Schmuckstücke funkelten im Abendlicht, und ihre mit Ocker und Butter beschmierte Haut glänzte wie das seidige Fell eines roten Rindes.
»Dein Vater muss ein wohlhabender Mann sein!«
»Mein Vater ist ein Häuptling!«, rief Tjizire. »Er heißt Uasuta.«
»Und wie heißt dein Verehrer?«
Sie winkte mit einer wegwerfenden Handbewegung ab, einer Bewegung, die in Kondjoura jäh den Wunsch weckte, Tjizire zu besitzen. Sie war allein, also konnte Uasutas Kral nicht weit vom Fluss entfernt sein.
»Mein Vater ist auch ein Häuptling«, rief Kondjoura. »Ngaturipure herrscht über ein großes Weidegebiet in der Nähe der Epupa-Wasserfälle. Ich werde ihm ausrichten, dass ich jenseits des Kunene ein Mädchen gesehen habe, das mein Herz zum Singen gebracht hat.«
Tjizire hob den Flaschenkürbis auf ihren Kopf, wandte sich um und ging davon, während Kondjoura reglos im Wasser verharrte. Er hoffte, dass Tjizire sich noch einmal nach ihm umschauen würde, doch sie stieg mit schwingenden Hüften den sanft ansteigenden Hang empor und war nur einen Augenblick als Silhouette gegen den Abendhimmel zu sehen, ehe sie hinter dem Bergrücken verschwand.
Als sie fort war, wirkte der Berg trostlos und karg, und das Gemurmel des Wassers klang, als führte der Fluss Selbstgespräche. Kondjoura jedoch lächelte, denn er brauchte nur die Augen zu schließen, um sich Tjizire in die Erinnerung zurückzurufen.
*
Kaum hatte Tjizire die Kalebasse vor der Hütte ihrer Mutter abgestellt, da winkte ihr Vater sie auch schon mit einem gekrümmten Zeigefinger zu sich heran. Tjizires Mutter saß neben Uasuta auf einem umgestürzten Baumstamm, der ihm als Thron diente. »Meine Späher haben mir gemeldet, dass sich unten am Fluss ein fremder Mann vor deinen Augen entblößt hat«, sagte er.
Tjizire senkte den Kopf. »Er hat mich nicht kommen sehen.«
»Aah .«, sagte Uasuta, »ein Blinder!«
»Er hat eine lange Reise hinter sich«, entgegnete Tjizire mit trotzig klingender Stimme. »Er hat sechs Monde im Kral seines Onkels zugebracht, um sich die Rinder anzusehen, die er eines Tages erben wird. Die Rinder sind fett und so zahlreich wie die Sterne.«
»Aah .« Uasuta lächelte. »Ein Lügner!«
»Kondjoura ist der Sohn des allmächtigen Ngaturipure!«, stieß Tjizire hervor und sah, wie das Lächeln auf den Lippen ihres Vaters gefror.
»Was ist?«, fragte sie. »Kennst du ihn?«
Uasuta nickte. »Nomaden haben seinen Namen über den Fluss getragen und gesagt, dass Ngaturipure jenseits des Kunene über ein großes Weidegebiet herrscht.«
Er schüttelte seufzend den Kopf. »Du hättest Kondjoura zu mir bringen sollen.«
»Zwischen uns lag ein Fluss voller Krokodile!«
»Trotzdem«, beharrte Uasuta.
»Was hat Kondjoura zu dir gesagt?«, mischte sich Tjizires Mutter ein.
»Mein Anblick hat sein Herz zum Singen gebracht«, sagte Tjizire.
»Hohoho!«, rief Uasuta und schlug sich vergnügt auf die Schenkel.
»Hat er dir ins Herz geblickt?«
»Ja, Mutter.«
»Und was hat er gesehen?«, wollte Uasuta wissen.
»Dass er ein begehrenswerter Mann ist.«
»Hohoho!«
»Leg die Hände in den Schoß, wie es sich für ein geduldiges Himbamädchen gehört«, sagte ihre Mutter. »Wenn Kondjoura wirklich der Sohn des allmächtigen Ngaturipure ist und dein Anblick sein Herz zum Singen gebracht hat, wird er bald den Fluss überqueren und deinem Vater ein großzügiges Angebot machen.«
Das Dämmerlicht war zu schwach, als dass Kondjoura den Fußspuren der Hirten zu einem Kral hätte folgen können. Und so ging er in den Mopanewald zurück, kramte eine Zunderbüchse aus dem Tragebeutel und entfachte ein Feuer. Anschließend hob er im Flammenschein eine Mulde aus, streute Laub hinein und kuschelte sich in die welken Blätter. Aber er fand keinen Schlaf. Tjizire hatte sich in seinem Kopf eingenistet, und er wusste, dass sie dabei war, sich in sein Herz zu schleichen.
Kondjoura wandte den Kopf ab und blickte zu den Sternen empor. Es ist gefährlich, des Nachts in ein Feuer zu starren: Die Augen brauchen zu lange, ehe sie sich an die Dunkelheit gewöhnen und eine herannahende Gefahr erkennen. Es ist nicht minder gefährlich, sich des Nachts irgendwelchen Wunschträumen hinzugeben, doch Kondjoura konnte Tjizire nicht aus seinen Gedanken verbannen. Er lauschte den Stimmen des Waldes und des Flusses und fragte sich, ob es an ihrem Vater oder an Tjizire selbst lag, dass sie keinen Verehrer hatte. Um die Antwort herauszufinden, würde er den Kunene überqueren müssen .
Als der Morgen graute, stand Kondjoura auf und urinierte in die sterbende Glut. Dann ging er zum Fluss hinunter. Dunstschwaden stiegen träge aus dem Wasser - es war über Nacht braun geworden und schmeckte nach Lehm,...
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