Der Zuverlässigsten einer
Wo sie nur alle wieder hin sind?
Vergangene Woche Freitag, jawohl, Freitag Nachmittag, da war auch schon mal diese plötzliche Stille. Sonst sind immer irgendwelche Geräusche, Schritte, oder es hustet einer draußen im Gang, aber wenn so überhaupt nichts ist, legt es sich wie ein Gewicht auf den Schädel und man kriegt so ein Flattern im Bauch, jedenfalls bin ich hinübergegangen zum Genossen Tolkening ins Zimmer, doch dort war auch keine Seele, nur auf dem Tisch lag ein Haufen Papiere, was sonst gar nicht die Art ist vom Genossen Tolkening, selbst wenn der auf fünf Minuten mal weggeht, schließt er alles ein, und beim Genossen Kallweit war auch keiner, so daß ich gedacht hab, was ist denn nur los, wenn es eine Sitzung wäre, der Genosse Kallweit hätte mich doch gerufen, aber in der letzten Zeit ist auch auf nichts mehr Verlaß und auf niemanden, zwar wird verlautbart, jawohl, Genossen, der Betrieb geht weiter, die Firma kriegt einen andern Namen, aber was sind Namen, die Hauptsache ist, wir bleiben auf Posten, und ich klopf an beim Genossen Stösselmaier, der früh als erster kommt und abends als letzter geht, aber sein Dienstzimmer ist auch leer, sie können doch nicht sämtlich beim Kaffeetrinken sein oder dienstlich unterwegs, und dann ist mir eingefallen, was der Genosse Kuhnt gesagt hat bei der Abteilungsbesprechung, der Genosse Alfred Kuhnt ist ja nicht irgendwer, der Genosse Kuhnt also hat mit dem Finger auf meine Person gewiesen, deutlich und unmißverständlich, und gesagt, der Genosse Bobrich ist der Zuverlässigsten einer, unser Arno, jawohl, und wenn es einmal hart auf hart kommen sollte, der Genosse Bobrich hält den Laden, und außerdem hat er auch so ein Wesen, das beruhigend wirkt auf die Menschen, dem wird also kaum einer was tun.
Ich hab das Martha erzählt, was der Genosse Kuhnt über mein Wesen gesagt hat, und Martha hat gesagt, das stimmt, der Genosse Kuhnt ist ein Menschenkenner, aber trotzdem macht man sich seine Gedanken, besonders wenn die Zeiten so unruhig sind wie jetzt und alles drunter- und drübergeht und sogar ein Mann wie der Chef, vor dem das ganze Volk gezittert hat, jawohl, richtiggehend gezittert, hat aufstehen müssen in aller Öffentlichkeit und sich rechtfertigen vor Leuten, die sonst gekrochen wären vor ihm, rechtfertigen für was, möchte ich wissen, der Mann hat seine Pflicht getan wie wir alle und sonst nichts, und dann haben sie ihn noch verhaftet. Und, hat der Genosse Kuhnt weiter zu uns gesagt, wenn es dahin kommen sollte, was er allerdings nicht erwarte, hat er gesagt, daß wir zeitweilig retirieren müßten, retirieren war sein Ausdruck, tatsächlich, dann können wir unsrem Genossen Bobrich vertrauen, daß er das Nötige tut, denn der Genosse Bobrich weiß ja, daß das, was bei uns in der Abteilung liegt, nicht in unberufene Hände gehört.
Das war vergangene Woche. Und jetzt ist wieder diese Stille. Trotzdem, so eilig hätten sie doch nicht zu retirieren brauchen, wenigstens einer hätte den Kopf noch zur Tür hineinstecken und sagen können, Arno, hätte er sagen können, es ist ja nur zeitweilig, aber nicht einmal das hat einer von ihnen gesagt, und dabei wird von mir erwartet, daß ich meine Pflicht tue und den Laden halte, denn was hier in der Abteilung steht, ist höchste Vertrauenssache, und wie ich Martha gesagt hab seinerzeit, daß sie mich hierher gestellt haben, mitten ins Nervenzentrum vom Ganzen, Nervenzentrum, das war mein Ausdruck, da hat sie gesagt, das laß lieber, warum mußt du dich ins Nervenzentrum stellen lassen, war denn das, was du bisher gemacht hast, nicht schwierig genug, Arno, ich hab nie gewußt, wie du das schon in eins bringst mit deiner unsterblichen Seele, aber das jetzt, mitten im Nervenzentrum vom Ganzen, es wird dir kein Glück bringen, Arno. Und wie ich dem Genossen Tolkening erzählt hab, was die Martha gesagt hat zu meiner neuen Stellung mitten im Nervenzentrum, was doch eine große Anerkennung darstellt seitens der Genossen, hat er gelacht und gesagt, mach dir nichts draus, Arno, was wissen die Frauen von Pflicht und von den Notwendigkeiten des Dienstes. Aber was der Junge gesagt hat, wie er dann nach Haus gekommen ist und Martha ihm erzählt hat von meiner neuen Stellung im Nervenzentrum des Ganzen, das hab ich dem Genossen Tolkening nicht gesagt, so etwas kann man einem Genossen gar nicht sagen, der würde denken, eine Schlange hat der Genosse Bobrich großgezogen an seinem Busen, eine richtiggehende Schlange, und wie zuverlässig kann der Genosse Bobrich wohl sein, mit solchem Schlangengezücht im eigenen Hause. Dabei würde ich nie daran denken, auch nur einen von den Ordnern dort im Nervenzentrum des Ganzen anzurühren, die da stehen mit ihren gelben und grünen und purpurfarbenen und orangenen Aufklebern, je nach Kategorie und in sich wieder alphabetisch gruppiert, auch wenn ich schon manchmal hinaufgeblickt hab zu dem zweiten Regal von oben, viertes Fach rechts, Bat bis Bur, aber da bin ich ja sowieso nicht drin, die Mitarbeiter werden separat geführt, bei den Mitarbeitern hat nur der Genosse Kuhnt Zutritt und keiner sonst.
Dabei ist der Junge ja kein schlechter Mensch und im eigentlichen Sinne auch nicht mißraten, aber er geniert sich, sagt er, wegen seinem Vater. Was hat ein Sohn, frage ich, sich zu genieren wegen einem Vater, der nur seine Pflicht tut, seine Klassenpflicht und seine Dienstpflicht und seine Vaterpflicht. Das sagt dann Martha auch, aber der Junge zuckt nur mit den Schultern, wenn sie ihm das sagt, und zu mir sagt er, wenn ich's bisher noch nicht gewußt hab, für wen ich mein dickes Gesäß wundgescheuert hab all die Jahre, dann müßt ich's jetzt doch wenigstens kapiert haben, wo der Chef hat aufstehen müssen in aller Öffentlichkeit und sich rechtfertigen, und dann lacht er auf diese Art, daß es mir quer durch die Brust schneidet und ich auf ihn losgehen möchte, aber Martha fällt mir jedesmal in den Arm und sagt, wir haben's doch schwer genug auch ohne solche Streitereien!
Wie lange waren sie weggewesen am vergangenen Freitag? Zwanzig Minuten vielleicht oder dreißig, mehr nicht, dann sind sie zurückgeschlichen gekommen und taten irgendwie verlegen, und nur der Genosse Kallweit hat etwas gesagt, falscher Alarm, hat er gesagt, sie sind vorbeigezogen draußen, sie haben Schiß gehabt, sie könnten eins auf den Deckel bekommen. Ich kann den Genossen Kallweit verstehen, der Genosse Kallweit war immer ein Draufgänger, und nun haben sie ihm seine Pistole weggenommen, er hat noch eine zuhause, sagt er, zur Reserve, aber hier hat er jetzt keine mehr, und er fühlt sich wie kastriert, sagt er, Kallweit ist überhaupt sehr menschlich und auch persönlich interessiert, immer hat er sich erkundigt nach Martha und nach dem Jungen. Martha, hab ich dem Genossen Kallweit gesagt, macht mir Sorgen, Martha hat ihre Zweifel, warum gehen die Leute weg, fragt sie, es können doch nicht nur die paar Plünnen sein und die Bananen, es gibt doch noch andere Werte, und warum können wir den Leuten das nicht begreiflich machen, oder glaubt ihr wirklich, der Druck, den ihr macht, überzeugt irgend jemanden? Worauf der Genosse Kallweit den Kopf geschüttelt und mir seine Hand um die Schulter gelegt und geseufzt hat, hast's auch nicht leicht, Arno. Hab ich auch nicht, Tatsache.
Aber jetzt sind sie schon länger weg als zwanzig Minuten oder dreißig, viel länger. Sie werden mich doch nicht, so ganz allein hier, und ohne einen zur Hilfe, der eine Pistole hat, mir haben sie ja nie eine gegeben zum immer bei mir Tragen, du zitterst immer so mit den Händen, Arno, hat der Genosse Stösselmaier gesagt, der verantwortlich ist für die Bewaffnung, da kann so ein Ding losgehen zur unrechten Zeit, beim Reinigen zum Beispiel am Küchentisch, und dann hast du deine Martha getroffen, ganz ohne es zu wollen, und wie stehst du dann da. Das hat mir Martha auch gesagt, habe ich dem Genossen Stösselmaier gesagt, Arno, hat sie gesagt, ich bin froh, daß du so was nicht mit dir rumtragen mußt, der Staat ist eines, aber ein Menschenleben ist ein anderes, und kein Staat auf Erden, auch unserer nicht, ist wert, daß man ein Leben dafür opfert. Und der Genosse Stösselmaier hat die Arme hinterm Kopf verschränkt und gegähnt, und dann hat er gesagt, was die Frauen nicht alles sagen, erstaunlich. Und jetzt ist auch der Genosse Stösselmaier nicht da, obwohl ich ganz gern ein Wort gehört hätte sogar von dem, die Stille legt sich wie ein Gewicht auf den Schädel, diese lautlose Stille, und sie macht, daß man so ein Flattern im Bauch kriegt und laut herausschreien möchte, Genossen! - aber die Genossen sind weg und haben den Genossen Bobrich alleingelassen im Nervenzentrum des Ganzen, der Zuverlässigsten einer, wie der Genosse Kuhnt gesagt hat.
Aber wenn dann die Stille auf einmal aufhört und es kommt ein Krach und ein Gepolter, oder ein plötzliches Geschrei, das ist dann fast noch schlimmer als die Stille vorher. Ich geh hinüber zum Zimmer des Genossen Tolkening, und wieder liegt sein Tisch voller Papiere, obwohl er doch sonst alles wegschließt bevor er auch nur für fünf Minuten weggeht, und dann geh ich bei Kallweit vorbei und bei Stösselmaier, und auch bei denen ist alles ein Durcheinander, nur bei mir nicht, das macht, weil ich ein ruhiges Wesen habe und einen Vorgang erledige, bevor ich mir den nächsten vornehme, auch in Zeiten, wo alles sonst drunter- und drübergeht und sogar ein Mann wie der Chef, vor dem alle richtiggehend gezittert haben, sich hat rechtfertigen müssen, obwohl er nur seine Pflicht getan hat. Und der Lärm kommt näher, und es ist wie viele hundert Stiefel, die alle gleichzeitig scharren und trappeln auf Treppen und Fluren, und das Geschrei und Geruf, »Hierher!« und »Nein, hier!« und »Nach rechts!« und »Hier hinauf!« und...