Mutter Sprache

Zu den Wurzeln der Worte - im Dialog mit Rainer Maria Rilke
 
 
Freies Geistesleben (Verlag)
  • 1. Auflage
  • |
  • erschienen am 1. Dezember 2022
  • |
  • 178 Seiten
 
E-Book | ePUB mit Wasserzeichen-DRM | Systemvoraussetzungen
978-3-7725-4100-1 (ISBN)
 
Können wir der Sprache noch trauen? Ist die Sprache noch fähig, unsere Wirklichkeit abzubilden, uns die Welt zu erschließen und Brücken zwischen uns Menschen zu bauen?
Ute Hallaschka sagt: Ja! Und sie beweist dies anhand eines der größten Wunderwerke der deutschen Literatur, Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien, die vor 100 Jahren vollendet wurden und deren unvergleichliche Schönheit und Tiefe sie nachvollziehbar und lebendig macht. Dies gelingt umso leichter, als die Elegien hier ebenfalls abgedruckt sind. Dabei ist dieses Buch keine abstrakte, wissenschaftliche Abhandlung über ein Stück Poesie, sondern selbst eines - es ist das Werk einer Frau, welche die Sprache liebt und kennt und die deshalb davon überzeugt ist, dass »es nichts gibt, womit wir uns verständigen können als Wort. Dass Wort alles ist, was wir haben, und mehr als alle Habe.«
  • Deutsch
  • Stuttgart
  • |
  • Deutschland
  • 1,89 MB
978-3-7725-4100-1 (9783772541001)
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Ute Hallaschka begegnete mit 21 Jahren der Anthroposophie. Nach dem Besuch des Freien Jugendseminars in Stuttgart begann sie 1984 ein Eurythmiestudium in einer freien Gruppe. In diese Zeit fiel auch ihre erste Begegnung mit
Rilkes Duineser Elegien. Sie war jahrelang in der Erwachsenenbildung zu den Themen Poetik, Philosophie, Eurythmie und Schauspiel tätig, inszenierte Klassenspiele an Waldorfschulen und wirkte als Dramaturgin bei Eurythmie-Projekten mit. Daneben gehört sie seit Jahrzehnten zu den profiliertesten Publizistinnen der anthroposophischen Szene.
Einleitung

Die erste Elegie
Einsames Ich im Selbstgespräch

Die zweite Elegie
Ich und Du

Die dritte Elegie
Seinsgrund Innenwelt

Die vierte Elegie
Ich: Akteur

Die fünfte Elegie
Der niemals zufriedene Wille

Die sechste Elegie
Ich - Held oder Heilige?

Die siebente Elegie
Der Weg ins Freie

Die achte Elegie
Wahrnehmung der Schöpfung

Die neunte Elegie
Die Verwandlung der Erde

Die zehnte Elegie
Über die Todesschwelle

Einsames Ich im Selbstgespräch


Wie beginnen? Wie findet man Einlass in ein Kunstwerk? Wenn es ein Gedicht ist, hilft es uns gewöhnlich, indem es uns in ein Anfangsbild einlädt, in eine Aussage. «Ich sah des Sommers letzte Rose stehn .» oder «Schimmelgrün ist das Haus des Vergessens .» Nichts davon hier! Das Gehör ist angesprochen. Wir hören zu Beginn dieser Dichtung einen unartikulierten Schrei. So beginnt unser Leben. Schreiend kommt der Mensch zur Welt, im Schrei löst sich der erste individuelle Atemzug. Wenn es gut geht, verlassen wir die Welt nicht schreiend, sondern mit einem entspannten Ausatmen. Das, was die menschliche Stimme trägt, im Sprechen und Singen, ist das Ausatmen. Die Wegführung der Elegien ist der Lebensprozess des Atems, die Verwandlung vom Schreien ins Singen. So setzt die zehnte und letzte Elegie ein: «Daß ich dereinst, an dem Ausgang der grimmigen Einsicht, Jubel und Ruhm aufsinge .» Der individuelle Lebensweg ist der Bilderrahmen dieser Dichtung. Elegie heißt Klagelied, und was Klage ursprünglich heißt, das werden wir im Verlauf erfahren.

Nun aber der Schrei. Wer schreit und warum? Wird der Leser etwa angeschrieen? Sehen wir genauer hin. Der scheinbare Schrei steht im Konjunktiv und in Frageform: Wer, wenn . würde hören? Die Möglichkeitsform dieses Schreis verneint entschieden seine Wirklichkeit. Solange ich mich frage, ob ich schreien soll, tue ich es gewiss nicht, so wenig wie der Hund beißen kann, während er bellt. Ja, was nun? Sind wir gefragt als hörendes Gegenüber? Fragt uns der Dichter etwa: Du, soll ich schreien? Nein, das tut er nicht. Ein sich selbst befragendes Ich ist der Ausgangspunkt - in dieses innere Zwiegespräch gilt es einzutreten. Wir sind im eigenen Innern - wo sonst sollte sich diese Eingangsfrage orten lassen. Der ungeschrieene Schrei ist keine Abstraktion, keine Spielerei, er ist Bewusstseinsprüfung. Prüfung der Bereitschaft zum genauen Hinsehen und -hören. ist ein Wort, das sogleich enorme Sinnlichkeit transportiert, ruft ein Du auf, beschwört augenblicklich Geist herbei. Aber nichts von alledem steht wirklich da - im Gegenteil: Hier ist nichts und niemand, nur ein einsames Ich im Selbstgespräch. Das gilt es zu realisieren und alles fortzuschaffen, was diesem Beginn im Weg steht, alle sich aufdrängenden Assoziationen und Bildungen.

Wer bin ich - so offenbart im Wort?


Die Elegie beginnt im Nichts, das ich bin, wenn ich mich wirklich in Frage stelle. So befragen, wie es hier der Fall ist, kann ich nur ein einziges Wesen auf der Welt: mich selbst. Denn es ist nicht gefragt: Hört mich jemand?, sondern: Wer würde mich hören? Der Leser ist nicht das Du dieser Dichtung, er ist ihr Ich. Das verlangt die Bereitschaft, sich selbst als Objekt gegenüberzutreten. Wenn ICH es bin, der in den Elegien besprochen und bearbeitet wird, als ihr eigentlicher Gegenstand, dann sind es nicht des Dichters Schreie, Engel und Einfälle. Es sind meine ureigenen Vorstellungen der Einbildungskraft, die hier zur Rede stehen. Bereit zu diesem künstlerischen Experiment? Wer es nicht ist, kann aufhören zu lesen. Die Pforte in die Elegien ist in ihrer Strenge eindeutig. Hier steht der Dichter als Hüter der Worte, und wir werden seiner Prüfung wieder und wieder begegnen. Angst und Misstrauen sind die Hinderungen: Kann ich einem Gedicht tatsächlich zutrauen, dass es mich trägt, mit allem, was mich ausmacht; mich wirklich meint, so wie ich bin - meine Vorstellungen zeigt und offenbart, mein inneres Sein spiegelt? Das ist die Frage. Und in ihrem Kern eingeschlossen natürlich die Wendung: Wer bin ich - so offenbart im Wort? In Raum und Zeit lebend, nun als Wortwesen, als Bewusstseinswesen mir selbst gegenüber. Mir gegenüber kann ich nur im Selbstbewusstsein sein. Alles, was nicht menschliches Selbstbewusstsein ist - also die ganze übrige Welt - muss zunächst ausgelöscht werden, wenn ich beginnen will bei mir zu sein. Was haben wir getan? Wir haben uns ins Nichts katapultiert. Der einzige Halt, der sich darin bietet, ist die pure Aufmerksamkeit. Soweit das Selbstbewusstsein im Nichts aufrecht erhalten werden kann, lässt sich weitergehen. Dazu verhilft die Sprache - durch die Worte, durch sie hindurch und zugleich mit ihnen, an ihrer Hand, transparent und leibhaftig. Wir sind noch immer mit dem Eingang in den ersten Satz beschäftigt; sein hinteres Ende, der Ausgang ist noch nicht erreicht. Grund sich zu fürchten vor dieser Reise ins Bodenlose besteht dennoch nicht. Es sind letztlich nur wenige, überschaubare Wortthemen und Motive. Wer will, kann sie leicht im Einzelnen verfolgen - im Verlauf der Elegien wie in einer symphonischen Dichtung angeschlagen, verarbeitet und durchgeführt. Es kommt alles wieder, was wir in der ersten Elegie kennenlernen. Es wird vertrauter werden in der wiederholten Bearbeitung. Die einzelnen Motive: das Reich der Steine, Pflanzen und Tiere, je ein typischer Vertreter; die kosmische Ordnung der Engel, der Sterne; die Erdreiche des Menschen in allen Spielarten. Der Mensch erscheint als ein Liebender, als ein Tätiger, als ein Schauender, ein Wachender und Schlafender, als Kind und Künstler, als Sprecher und Versager, als Held und Heiliger - in all seinen Aspekten einmal gründlich zur Disposition gestellt. Dazu bewegt sich die Sprache unablässig in feinsten Wendungen und Nuancen, im Bau der Vor- und Nachsilben, in den Umlauten, in der Plastizität ihres Ausdrucksvermögens. Sprache als Lebewesen, als Gestalt, die hindurchführt.

Wie präzise die Gestaltarbeit ist, soll an einer letzten Vorbemerkung deutlich werden. Auffällig operieren die Elegien mit Fragewörtern: wer, wie, wo, wenn, wann . tauchen häufig auf, aber eins wird ausgespart. Dieses Wort, das zu unseren Lieblingen gehört, das wir sehr gern heraussetzen in die Welt, taucht nur ein einziges Mal, an exponierter Stelle, in den gesamten Elegien auf. Es ist das Wort, mit dem die neunte Elegie beginnt, und es wird niemals vorher noch danach vernommen. Warum? Genau so heißt das Wort und es will erworben werden. Es will verdient sein, mit diesem Wort auf Augenhöhe zu kommen. Das ist der Ernst der Elegien, sie würdigen den Bildungsgrad der Reife, der im Fragen liegt. Statt eine Fragephrase ins Leere zu stellen, wie wir es oft tun, sind wir hier zur Verwirklichung der sprachlichen Form gefordert. Wer tatsächlich nach dem Grund von etwas fragt, der hat dieses Etwas ja bereits erreicht. Frage als Vorform von Antwort ist das Gegenteil von Rhetorik. Sie ist hier aufgefasst als Gefäßbildung, worein die entsprechende Antwort sich ergießen kann. Damit zurück zum ersten Satz und seinem Ende: «Wer . hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?»

Ein Engel taucht auf


Es steht das kleine Ich, das Selbstbewusstsein, ganz bei sich im Nichts, ganz allein mit sich im Weltlosen und fragt sich - nach den Engeln. Ein recht erschütternder Anblick. Wie mit einem Lasso wird von diesem ungesicherten existentiellen Standpunkt aus die Frage angeknüpft, entworfen in den denkbar weitesten Umkreis. Ja, ist es denn nun, am hinteren Satzende endlich, wirklich ein Ruf? Hallo Engel, hört ihr mich? Ist da jemand? Keineswegs steht das hier. Was dagegen wirklich wieder im Konjunktiv steht: Wer hörte mich denn?, Bin ich (er) hörbar - durch Engel, von Engeln aus? Doch wer erträgt es, das Wort ENGEL zu hören, ohne ihn sogleich vorzustellen? Engel sind Wesen und die will man (erscheinen) sehen. Also taucht er auf. Ein Engel taucht auf - er kann gar nicht anders, er wird mächtig angezogen - am Bewusstseinshorizont. Vor dem Hintergrund des vermeintlichen Schreis erscheint ein riesiges Bild im Vordergrund. Und es ist schön. Man kann darauf wetten, dass es schön ist. Stellt sich irgendjemand einen hässlichen Engel vor? Und sei die Vorstellung noch so subtil - wir haben sie; unwillkürlich in der Phantasie ein konkretes Bild hergestellt und ausgemalt.

Solange Engel gänzlich unvorstellbar bleiben, kann man ja getrost auf sie verzichten - so funktioniert der Automatismus in anderer Richtung. Was sollte man mit einem Engel anfangen, der nicht ins eigene Vorstellungswesen passt, nicht hereintritt, nicht integrierbar ist, der also gänzlich außerhalb des eigenen Bewusstseinsentwurfes bleibt? Ein solcher Engel wird beinahe sinnlos. Also her mit dem Vorstellbaren. Da diese Wesen bekanntlich nicht in einem stofflichen Körper leben, kann es nur Bild sein, worin sie auftreten. Wenn wir soweit sind und ehrlich sind mit der Unwillkürlichkeit unseres seelischen Lebens, dann können wir ebensogut noch einen Schritt weiter gehen und es einmal bewusst tun, was wir heimlich dauernd betreiben: ihn uns vorstellen.

Also, du sitzt abends in deinem Wohnzimmer, und es war schon immer dein sehnlicher Wunsch, handfest und spürbar, sinnlich die Anwesenheit eines Engels zu erfahren. Bitteschön, da geht die Türe auf, wie von einem leisen Windzug bewegt, und er kommt. Er kommt herein und erfüllt den Raum mit sich. Wer das versucht, wird sehen, wie schnell das Sehnsuchtsbild kippt, entweder umschlägt in eine Horrorvorstellung, oder das Bewusstsein...

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