Schweitzer Fachinformationen
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Arthur Weniger hätte schon vor einigen Wochen bei seinem Termin im Krankenhaus wissen müssen, dass seine Beziehung in Schwierigkeiten steckte. Eigentlich war es nicht mehr als eine ganz gewöhnliche Blutabnahme bei einer ganz gewöhnlichen Vorsorgeuntersuchung gewesen, eine von denen, die Männer über fünfzig in den USA einmal im Jahr über sich ergehen lassen mussten. Als er die Tür zum Krankenhaus öffnete, läutete es; ein zweites Mal, als er daran scheiterte, sie wieder zu schließen, und dann ein drittes Mal. Und noch ein Mal. »Entschuldigung!«, rief er in den Wartebereich hinein, in dem sich allerdings nur ein Klemmbrett, ein Wasserspender und ein Aufsteller mit Klatschmagazinen in den absurdesten Farben befanden. Aber sehen Sie sich Weniger an: der Pullover so knallbunt wie ein Textmarker, dazu ein kleiner Fischerhut. Besser, niemand bezeichnet hier irgendwen anders als absurd.
Der Phlebologe (Glatze, taiwanesisch, voller Tattoos und akut an Liebeskummer leidend, der allerdings mit dieser Geschichte nichts zu tun hat) betrat das Behandlungszimmer mit einem Klemmbrett in der Hand und reichte es Arthur Weniger.
»Notieren Sie bitte oben auf dem Blatt Ihren vollständigen Namen«, sagte der Phlebologe, während er auf einem faszinierenden Tablett voller Ampullen alles vorbereitete.
Der Patient notierte den Namen Arthur Weniger.
»Schreiben Sie bitte den Namen Ihres Notfallkontakts auf«, sagte der Phlebologe, während er die aufblasbare Armmanschette bereitlegte.
Der Patient schrieb den Namen Freddy Pelu.
»Bitte notieren Sie den Beziehungsstatus«, sagte der Phlebologe.
Der Patient sah verwundert zu ihm auf. Unser liebeskranker Phlebologe schielte auf den Fragebogen und legte die Blutdruckmanschette mit dem seetangähnlichen Schlauch und dem Ball auf das Tablett neben sich (ein solches Gerät nennt man übrigens Manometer).
»Den Status der Beziehung, Mr. Weniger«, sagte er schroff.
»Schwer zu beantworten«, sagte der Patient. Für einen Moment hielt er inne. Und ein kosmisches Missverständnis später schrieb er schließlich: unsicher.
Eine ähnliche Tölpelhaftigkeit des Herzens zeigte sich auch bei einem gewissen Roadtrip durch Kalifornien: ausgestattet war Weniger lediglich mit seinem Liebsten, einem alten Saab und ein paar eilig zusammengesuchten Camping-Utensilien in Form von zwei miteinander verknüpfbaren Schlafsäcken und einer großen Nylon-Scheibe. Diese Scheibe aus Schweizer Herstellung entfaltete sich zu einem Zelt, dessen geräumiges Inneres einen ungläubig zurückließ. Weniger war ganz fasziniert von den Taschen und Lüftungsöffnungen, dem Außenzelt, dem runden Guggenheim-Dach aus vernähtem Netzstoff. Doch, wie die Schweizer, war es ganz neutral: Es liebte ihn nicht zurück.
Sich seiner Unfehlbarkeit bewusst, öffnete er den Reißverschluss des Insektennetzes und gewährte einer ungehobelten Bachelorette-Party an Moskitos Eintritt, die sich an der menschlichen offenen Bar so volllaufen ließ, dass er sogar den Reißverschluss der Schlafsäcke bis ganz nach oben zuzog. Und am letzten Tag, als zur Mittagszeit ein heftiger Regenschauer einbrach, war entschieden, dass zwar dem Zelt, nicht aber Weniger zu trauen war. Ein Hotelzimmer musste her. Am nächsten lag das Hotel D'Amour. Es entpuppte sich als cremefarbener Kuchen in einem regendurchtränkten Wald, mit vergoldeten Möbeln und weißen Rosen. Die Empfangsdame begrüßte sie freudig überrascht. Aufgrund der kurzfristigen Stornierung einer Hochzeit waren sonst keine Gäste im Hotel. »Wir haben einen Rosenaltar und eine Pastorin und ein Hochzeitsmenü und einen Kuchen und Champagner und einen DJ und alles andere auch!« Sie seufzte und ihre Kollegen schauten erwartungsvoll zu den neuen Gästen herüber. Tauben gurrten romantisch in einem Käfig. Die korpulente Pastorin, deren Gewand vom Regen noch dunkler geworden war, lächelte hoffnungsvoll. Ein Streichquartett spielte »Anything Goes«. Der Sturm draußen verriegelte die Tür und verhinderte die Flucht. Es schien, als ob dem Schicksal nicht zu entrinnen sei.
»Was denkst du?«, sagte ich zu Arthur Weniger.
Ja, ich. Freddy Pelu. Ich bin der Notfallkontakt (der Weniger nach der Blutabnahme, und nachdem er in Ohnmacht gefallen war, aus dem Krankenhaus abgeholt hat). Ich bin ein kleiner und schmächtiger Mann, der auf die vierzig zugeht, ein Alter, in dem die charmanten exzentrischen Eigenheiten der Zwanziger (Hausschuhe mit Hasenohren tragen und mit einem Seidenbonnet schlafen, um die Locken zu schützen) zu den Kuriositäten des mittleren Alters werden. Meine Locken haben Patina angesetzt, wie kleine Muscheln auf altem Silber, meine rote Brille betont meine Kurzsichtigkeit, ich bin aus der Puste, wenn ich mit meinem Hund im Park herumtolle. Und dennoch habe ich bislang keine Falten; ich bin kein Arthur Weniger. Vielmehr bin ich ein Durcheinander (meine Großmutter würde Pasticcio sagen) von italienischen, spanischen und mexikanischen Herkünften - mehrere Nationalitäten, die sich wiederum aus iberischen, indigenen, afrikanischen, arabischen und fränkischen Migrationsbewegungen zusammensetzen. Diese Reihe ließe sich noch weiter herunterbrechen bis zu den ersten Menschen, von denen wir alle abstammen.
Ich habe die letzten neun Monate mit unserem bekümmerten Patienten, diesem Arthur Weniger, dem Schriftsteller und Reisenden, in San Francisco in einem beinahe-aber-doch-nicht-ganz-wasserdichten Einzimmer-Bungalow auf den Vulcan Steps gelebt, den wir liebevoll »die Hütte« nennen, einem Haus, das seinem alten Liebhaber Robert Brownburn gehört und das Weniger seit über zehn Jahren sein Zuhause nennt, ohne dafür Miete zahlen zu müssen. Abgerundet wird dieses Glück von einer Bulldogge namens Tomboy, von der die Menschen ausgehen, sie sei ein Junge, obwohl Tomboys, und Weniger wird nicht müde, dies zu betonen, qua Definition Mädchen seien. Es ist eine Aufgabe und eine Ehre und ein Abenteuer, mit den beiden zusammenzuleben. Neun Monate unverheiratetes Glück. Zuzüglich der neun Jahre, die wir uns bereits kennen.
Wir wurden eher beiläufig ein Paar, als ich siebenundzwanzig und er einundvierzig war, und »ganz beiläufig« hielt ich es auch die darauffolgenden neun Jahre. Weil ich bei meinem übellaunigen Onkel Carlos wohnte und mich in meiner Wahlheimat nicht sonderlich wohl fühlte (ich lebte und atmete mit dem sperrigen Werkzeug einer zweiten Sprache), war die Hütte für mich ein gemütliches Plätzchen zum Schlafen. Weniger drängte mich nie zu mehr als einem Abschiedskuss; ich vermutete, er war zu beschäftigt mit seiner Arbeit oder womit Männer seines Alters sonst so beschäftigt sind. Neun Jahre solcher Mutmaßungen - und auch, wenn es sich gemein anfühlt, das zu behaupten, waren diese Jahre für mich mit die schönsten. Die einzige Zeit in meinem Leben, in der ich mich wie ein Prinz fühlte. Ich ging ein und aus, gerügt und verehrt. Damals wusste ich nicht, was »Liebe« war.
Das musste ich auf die harte Tour lernen. Eines Morgens erwachte ich am anderen Ende der Welt, weit weg von Arthur Weniger, und sah nichts als das leuchtende Blau seines Anzuges, sein Markenzeichen. Ich verstand, dass das Glück eine Handbreit entfernt ist, und wir bloß danach zu greifen brauchen. Also machte ich mich auf den Weg, ihn zurückzugewinnen .
Doch er heiratete mich nicht an diesem Tag im Hotel D'Amour. Trotz der Tauben und dem Hotelpersonal als Zeugen und dem strömenden Regen, der auf die Dachfenster trommelte. Aus seinem Gesicht sprach ein einziges Wort: unsicher. »Ich muss darüber nachdenken«, sagte er.
Dies ist die Geschichte einer Krise in unserem Leben. Weder im Krankenhaus noch im Hotel D'Amour (oder bei anderen verhängnisvollen Unternehmungen), sondern während einer Reise im Alleingang. Sie beginnt in San Francisco und sie endet in San Francisco. Dazwischen: ein Flugzeug, ein Van, ein Bus, ein Zug; ein Esel, ein Wal und ein Elch. Lassen Sie uns von mir, Freddy Pelu, wegschwenken. Denn ich tauche in dieser Geschichte erst sehr viel später auf.
(Und um das noch kurz klarzustellen: In der Klinik hätte er Lebenspartner schreiben müssen.)
Sehen Sie sich Arthur Weniger heute an:
An Deck einer Fähre vor der Küste San Franciscos stehend, sein grauer Anzug in der Farbe des Nebels, der ihn umgibt, so dass er (einem nicht näher benannten Horrorfilm gleich) wie ein gespenstisch fliegender Kopf erscheint. Sehen Sie sich das schüttere Haar an, vom Wind zu einer steifen, blonden Schaumkrone geformt, seine zarten Lippen, seine spitze Nase und sein längliches Kinn, das an die Wikinger auf dem Wandteppich von Bayeux erinnert, so weiß, wie ein weißer Mann nur sein kann, farblich abgesetzt lediglich die pinken Spitzen von Nase und Ohren und das mundgeblasene Blau seiner Augen. Sehen Sie sich Arthur Weniger an: Die fünfzig bereits überschritten, wahrlich ein Geist seines früheren Selbst, doch als der Himmel dunkler zu werden beginnt, nimmt er die Form eines Mannes mittleren Alters an, der vor Kälte zittert. Hier steht er also, unser Held, und schaut sich um wie ein Mann, der sich einen Schnäuzer hat wachsen lassen und darauf wartet, es möge jemand bemerken.
Er hat sich tatsächlich einen Schnäuzer wachsen lassen. Und tatsächlich wartet er darauf, es möge jemand bemerken.
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