Schweitzer Fachinformationen
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Ignaz erinnerte sich noch genau an den Beginn ihrer Freundschaft. Pater Faludy führte in ihrem zweiten Gymnasialjahr eine neue Sitzordnung ein und setzte Ignaz Semmelweis und Xaver Stolz nebeneinander in eine Bank. Dennoch kamen sich die beiden Jungen nicht näher, und das hatte auch seinen Grund. Ignaz war ein exzellenter Schüler, in jedem Fach ausgezeichnet, außer in der Rhetorik. In Stolz' Zeugnis hingegen fanden sich lauter mittelmäßige Noten, mit einer Ausnahme: Seine Lyrikklausuren honorierte der strengste Lehrer, Pater Ferenc, stets mit hervorragend.
Wenn sie im Rhetorikunterricht einen Essay über das Leben Ciceros schreiben oder einfach nur Beispiele für das Wesen des Glücks sammeln mussten, kratzte Xavers Feder in Windeseile über die Heftseiten, während Ignaz am Ende seines Schreibgeräts kaute und beim Austüfteln eines passenden Satzes ins Schwitzen geriet. Beim Schreiben blickte Stolz zuweilen übermütig zu seinem Banknachbarn hinüber.
Der Winter kam. An einem Dezembertag, als Pater Faludy sich eine Bronchitis eingefangen hatte und sich die unbeaufsichtigten Jungen in der großen Pause wie die Wilden aufführten, knallte Ignaz aus Versehen die Tür vor Xaver zu und erwischte seinen Finger. Sie spielten Räuber und Gendarm, und die flüchtigen Räuber, zu denen auch Ignaz gehörte, stürmten aus dem Raum, während die Gendarmen, darunter auch Xaver, ihnen nachjagten. Die zuschlagende Tür klemmte Stolz' Daumen ein, der Junge schrie auf und brach zusammen.
Die Ohnmacht währte nur wenige Sekunden, doch als er zu sich kam, war der verletzte Finger schon auf die dreifache Größe angeschwollen und violett angelaufen. Xaver schossen von dem pochenden Schmerz Tränen in die Augen. Ignaz ergriff seinen Arm und zog ihn hinaus auf den Hof.
Die Schuldiener hatten im Innenhof des erzbischöflichen Gymnasiums nach dem nächtlichen dichten Schneefall hübsche Schneehügel aufgeschichtet. Ignaz führte den schmerzstöhnenden Xaver zu einem solchen Schneehaufen und drückte seinen pflaumenfarbenen Finger in den kühlen weißen Hügel. Der Schmerz ließ erstaunlich schnell nach, und die vage, monatelange Abneigung zwischen ihnen schmolz in wenigen Augenblicken dahin.
Doch den Grundstein ihrer Freundschaft legte eigentlich das Album.
Der gut heilende Finger bot Xaver Anlass, Ignaz zu einer Tasse Schokolade einzuladen. Im Hause Stolz gab es nicht allzu viele Bücher, aber ein paar fanden sich doch in dem Schrank mit den quietschenden Türen. Xavers Lieblingsbuch war ein großes, wuchtiges Album mit einer Sammlung von Leonardo da Vincis anatomischen Zeichnungen. Als Xaver dieses Buch aus dem Schrank hob und auf den Boden legte, um es zusammen mit Ignaz bequem durchzublättern, war das ein Wendepunkt für ihre Zukunft. Die faszinierenden Zeichnungen von menschlichen Blutgefäßen, von bogengleich gespannten Muskeln, aber besonders vom Embryo, zusammengerollt in der Gebärmutter, zogen Ignaz in ihren Bann. Von diesem Tag an verbrachten die beiden Jungen mehrere Nachmittage in der Woche nebeneinander auf dem Boden, über das Leonardo-Album gebeugt.
Bis Ignaz eines Tages beschloss, einen mutigen Schritt zu wagen.
Im Hause Semmelweis herrschte Ordnung. Jeder kannte seine Aufgabe. Das unverzichtbare Familienessen am Abend bildete den Höhepunkt des Tages. Vater war abends immer müde, die im Geschäft verbrachten zwölf Stunden hatten ihn erschöpft. Mutter hatte den Kindern früh, vor vielen Jahren schon, beigebracht, dass Gekicher beim Essen verboten war. Ein kurzes Gebet, stilles Essen, Bericht vom Tag und dann ab ins Bett. Damals waren sie zu siebt gewesen, sechs Jungen und ein Mädchen. Vater und Mutter saßen an den beiden Enden des Tisches, die Kinder an den Seiten. Vater segnete immer das Essen, Mutter richtete es an. Während er die Suppe löffelte, fragte Vater der Reihe nach zuerst die Tochter, dann die Söhne. Einen nach dem anderen, dem Alter nach.
»Wie war der Tag?«
Im Hause Semmelweis hatte jeder seine Lektion gelernt. Der Abenddiskurs bestand jahrelang aus dieser einzigen Frage und knappen, prägnanten Antworten. Eine tadellose Antwort musste kurz und dennoch gehaltvoll sein. Mutter hatte ihnen erklärt, was Vater von einem verantwortungslosen Leben hielt. Demnach konnte eine einwandfreie Antwort niemals ausweichend oder oberflächlich sein. Eine treffende Antwort war ein Geständnis. Wenn ein Semmelweis-Kind an diesem Tag keinen Fehltritt begangen hatte, musste es sich einen ausdenken.
Sünden.
Kleine.
Völlerei wurde oft gewählt. Unhöfliches Benehmen tat es auch. Dann war da noch die Rauferei. Eine zerrissene Hose, Verspätung im Unterricht. Manchmal, selten, schlich sich auch eine schlechte Note ein. Da die Semmelweis-Kinder hervorragende Schüler waren, galt dies als eines der schlimmsten Vergehen. Vater zog seine Augenbrauen hoch und verkündete nach einigem Grübeln die Sanktion. Zwölf Vaterunser. Fünfundzwanzig Vaterunser. Zwei Nächte im Schuppen. Vier Nächte im Schuppen.
Der Schuppen war eine unbeheizte Kammer mit zugigen Fenstern. Im Winter eine Nacht im Schuppen zu verbringen, war, als würde man sich unter freiem Himmel schlafen legen. In dem kleinen Raum fand bloß ein Strohsack Platz, auf den eine dünne Decke geworfen wurde, daneben stand ein kleiner Tisch, darauf eine Waschschüssel mit Wasser. Der Schuppen war gewissermaßen ein Verlies, Vater hatte ihn so eingerichtet. Damit das Leid darin Platz fand. Damit sie alle lernten, dass das erwachsene Leben eine Prüfung war. Dass es keine Gnade gab.
Ignaz' Bruder Károly war der Erste, der sich gegen die Regeln auflehnte. Eines Abends nach dem Gebet verkündete er ohne Vorrede, dass er sich für die priesterliche Laufbahn entschieden habe. Vater lehnte sich in seinem Stuhl zurück, strich sich über den kahlen Kopf, trank aus seinem Weinglas und überlegte lange.
»Leeres Geschwätz«, sagte er schließlich. »Ich möchte, dass du ab Juni im Laden mitarbeitest.«
Diese Zukunft hatte Vater für alle seine Kinder vorgesehen. Den Großhandel, der Weiße Elefant. In jenem Jahr hatte er im Kellergeschoss sogar einen Weinkeller eröffnet. Oben verkaufte er neben Leder auch Felle, Pelzwaren und Seidenstoffe.
»Das werde ich nicht tun«, beharrte Károly. »Ich werde Priester.«
Das war eine unvorstellbare Auflehnung. Alle starrten auf ihre Teller, sogar Mutter. Warteten auf den Sturm. Wenn József Semmelweis der Zorn packte - und meistens brachten ihn schon die kleinsten Dinge aus der Fassung -, brüllte er mit hervortretenden Augen, und auf seiner Stirn schwoll eine dicke Ader. Er beugte sich dicht an das Gesicht seines Opfers, sodass ihre Nasen fast aneinanderstießen, und brüllte mit Stentorstimme, dass einem Angst und Bange wurde. Doch diesmal passierte nichts. Károly musste nicht einmal für eine Nacht in den Schuppen. Aber ab diesem Vorfall existierte er für Vater nicht mehr.
»Ich habe ihn abgeschrieben«, sagte er Monate später zur ängstlich fragenden Mutter.
Károly wohnte noch etwa ein Jahr lang bei ihnen, doch Vater schaute durch ihn hindurch, als wäre er aus Glas.
Ignaz wusste also, was auf dem Spiel stand. Als er vier Jahre nach dem Aufstand Károlys seinen Entschluss beim Abendessen vortrug, durfte er keinen Zweifel haben. Schon seit einiger Zeit hatte er zusammen mit seinen Geschwistern nachmittags im Laden ausgeholfen, Vater hatte ihm sogar kleinere Einkäufe aufgetragen.
»Wie war der Tag?«, stellte Vater seine allabendliche Frage, ohne sie anzusehen. Er beäugte die im Suppenteller schwimmenden Fadennudeln.
»Nichts Besonderes«, antwortete Ignaz.
Schon diese schludrige Antwort galt als unerhörte Unverschämtheit.
»Ich möchte jetzt über etwas anderes mit Ihnen reden. Vater, ich will studieren. Ich will Arzt werden.«
»Was für ein Arzt?«, fragte Vater nach langem Schweigen.
»Vielleicht Internist.«
Vater kaute an seinem Mundwinkel.
Plötzlich sprang er auf, der Stuhl knallte auf den Boden.
»Komm!«, herrschte er Ignaz an und wandte sich in Richtung Schuppen.
Ignaz hatte mit entsetzlichem Geschrei gerechnet. Mit mehrtägiger, womöglich mehrwöchiger Gefangenschaft, mit erbarmungsloser Maßregelung. Im Gegensatz dazu ließ sich Vater einfach auf dem Strohsack nieder und bedeutete Ignaz, sich neben ihn zu setzen.
Vater schwieg lange, dann seufzte er.
»Wir haben ein anderes Los für dich vorgesehen, deine Mutter und ich. Du bist von allen der .«
Der großgewachsene, rosige Mann verschluckte den Rest des Satzes. Ignaz erfuhr nie, worin er nach der Meinung seines Vaters der Erste unter seinen Geschwistern war.
». wir wollten, dass du Militärrichter wirst. Wir wissen, dass du Schwierigkeiten mit der Poesie hast. Ein Militärrichter kann dem Schreiber sein Urteil diktieren.«
Ignaz war so bewegt von dem sanften Tadel seines Vaters, der nur am Rande auf sein völlig unerklärliches Ungeschick in jenem Schulfach anspielte, dass er entgegen seinem Entschluss nicht versuchte, ihn umzustimmen. Wahrscheinlich hätte Vater nie verstanden, welche Leidenschaft in seinem Sohn entbrannt war, als er vor einigen Monaten die anatomischen Zeichnungen eines...
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