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Alle Menschen werden mit gleicher Würde und gleichen Rechten geboren. Diese Aussage erscheint normativ ebenso unumstößlich wie empirisch unzutreffend; die Realität widerlegt sie mit jedem Tag aufs Neue - und bestätigt damit ihre Bedeutung. Die Wahrheit dieses Prinzips ist philosophisch im Rückgang auf Kants Idee einer »noumenalen Republik« aufzuklären, in der jede Person dem allgemeinen Gesetz unterworfen ist, das sie zugleich als Gesetzgeber mitkonstruiert. Inwiefern die Wirklichkeit dem Hohn spricht, muss eine kritische Analyse von Gesellschaft und Politik zeigen. Damit diese Perspektiven nicht auseinanderfallen in ein weltfernes Ideal und eine Diagnose der Ausweglosigkeit, bedarf es einer kritischen Theorie nach Kant, wie sie Rainer Forst in diesem Band entwirft.
Wer sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, daß er mit Füßen getreten wird.
(MdS, 6: 437)[1]
Im Folgenden werde ich dafür argumentieren, Entfremdung als eine bestimmte Form individueller und sozialer Heteronomie aufzufassen, die nur durch ein dialektisches Zusammenspiel von individueller und kollektiver Autonomie überwunden werden kann: indem Personen den in einem deontologischen Sinne zu verstehenden Status erlangen, der ihnen gebührt, nämlich gleichgestellte normative Autoritäten innerhalb normativer Ordnungen zu sein. Dabei verwende ich den Begriff Entfremdung nicht in seiner Bedeutung als »Veräußerung« oder »Entäußerung«. Damit bezeichnen Kant, Hegel und Marx bestimmte Formen von Externalisierung, etwa die Übertragung von Eigentum oder die Vergegenständlichung der eigenen Arbeitskraft als Ware. Im Anschluss an Rousseau betonen sie, dass einige dieser Varianten der Externalisierung zu Entfremdung 40führen, da sie moderne Formen der Sklaverei mit sich bringen, die ein, vielleicht sogar der paradigmatische Fall sozialer Entfremdung ist. Dies stützt meine These, Entfremdung als Verlust oder Verneinung von Autonomie zu verstehen; eine These, die nicht, wie es in den meisten Theorien der Entfremdung der Fall ist, auf einer bestimmten Vorstellung von Authentizität beruht.
Der Entfremdungsbegriff ist für hegelianische und marxistische Varianten der Gesellschaftskritik zentral,[2] wobei Rousseaus Philosophie zu Recht als wichtige Quelle dieses Diskurses betrachtet wird. Dagegen wird die bedeutende Rolle von Kant weitgehend ignoriert, was zu einem einseitigen Verständnis von Entfremdung führt, das Gefahr läuft, die moralische und politische Pointe des Begriffs zu vernachlässigen.[3] Übersieht man die in meinen Augen wesentlichen deontologischen moralischen und politischen Elemente, wird Entfremdung primär als Sichselbstfremdwerden, gekoppelt mit sozialer Distanz, verstanden, oder in den Worten von Rahel Jaeggi: als eine Form der Beziehungslosigkeit zu sich selbst und zu anderen, im Sinne einer gescheiterten »Aneignung« des eigenen Selbst und der eigenen sozialen Umwelt.[4] Der Fokus liegt dabei auf bestimmten qualitativen Aspekten eines unauthentischen Selbstverhältnisses und der Beziehung zu Anderen - sowie auf dem »Selbstverlust« oder »Sinnverlust«, der in ihnen begründet liegt, und dem Mangel an sozialer »Resonanz«, wie man mit Hartmut Rosa sagen könnte.[5] Man ist nicht, wer man »eigentlich« ist (oder sein will oder sein sollte). Die entsprechenden sozialen »Pathologien«, in Axel Honneths Terminologie, werden im ethischen Sinne als Mangel an Selbstidentifikation oder Selbstverwirklichung analysiert und letztlich als Verlust gewisser notwendiger Bedingungen des guten Lebens bestimmt. Honneth zufolge markiert Rousseaus Kritik der Entfremdung den Beginn der modernen Sozialphilosophie, die »nicht länger nach den Bedingungen einer richtigen oder gerechten Gesellschaftsordnung« fragt, sondern die »Beschränkun41gen [erkundet], die die neue Lebensform der Selbstverwirklichung des Menschen auferlegt.«[6]
Um die Bedeutung eines nicht-entfremdeten Lebens philosophisch auf den Begriff zu bringen, wird nach dieser Theorietradition ein (zumeist anthropologisch begründetes) Verständnis des authentischen und guten Lebens als wahre Verwirklichung eines eigentlichen Selbst benötigt. Doch bevor wir diesem Weg folgen und substanzielle Begriffe des Guten - oder ethische Konzeptionen nicht-entfremdeter personaler Identität[7] - formulieren, um die normativen Grundlagen für die Analyse sozialer Entfremdung zu bestimmen, lohnt es sich, Kants Rolle in der Entwicklung des Entfremdungskonzepts in Betracht zu ziehen. Obwohl Kant nicht explizit über »Entfremdung« gesprochen hat, lehrt uns seine moralische und politische Philosophie etwas sehr Wichtiges für jede kritische Gesellschaftsanalyse der Entfremdung, das auch für unser Verständnis von Marx höchst relevant ist. Mehr noch, so gelangen wir zu einer gänzlich anderen Sichtweise auf Fragen der Entfremdung.
Wenn wir in kantischen Begriffen über Entfremdung nachdenken, liegt ihre Hauptquelle im Aberkennen beziehungsweise Verweigern des Status oder, im Extremfall, im Verlust des Selbstverständnisses als gleichberechtigte, rationale - im kantischen Sinne »noumenale« - normative Autorität, anders gesagt als Mitglied eines »Reichs der Zwecke«. Die erstgenannte Art der Entfremdung, bei der Personen ihr gleichberechtigter Status als normative Autorität - oder als »Zweck an sich selbst« - in moralischen oder politischen Kontexten abgesprochen wird, nenne ich noumenale Entfremdung erster Ordnung, da in dieser sozialen Situation kein angemessenes wechselseitiges Erkennen und Anerkennen voneinander als Gleiche gegeben ist. Den zweiten Typ der Entfremdung, bei dem ein Subjekt sich selbst nicht als gleichberechtigte normative Autorität versteht, nenne ich noumenale Entfremdung zweiter Ordnung (die wie die erste auch in einer moralischen und politischen Form vorkommt). Im Anschluss an Rousseau und Hegel wurde vielfach gezeigt, wie die erste Art der Entfremdung zur zweiten führen kann. Viele in dieser Tradition - die hauptsächlich auf Hegel zurückgeht 42und Kojèves und Sartres einflussreichen Theorien folgt[8] - nehmen an, dass soziale Entfremdung zu Selbstentfremdung und einem Verlust von Selbstachtung führt.[9] Eine notwendige kausale Beziehung kann hier allerdings nicht bestehen, da sonst der Kampf um Anerkennung derer, die sich in ihrer Würde als normative Autoritäten verletzt sehen, nicht in Gang käme.[10]
Aus kantischer Perspektive müssen moralische und politische Formen noumenaler Entfremdung als Formen der Heteronomie analysiert werden: Ein entfremdetes Leben zu führen, bedeutet demnach, dass eine Person keinen Status, keine soziale Stellung als gleiche moralische und politische, normative Autorität hat - gegenüber anderen als auch (möglicherweise) gegenüber sich selbst. Sie wird entsprechend fremdbestimmt. Formen der Entfremdung politisch und moralisch zu kritisieren und zu überwinden, setzt folglich bestimmte Ideen und Praktiken individueller und kollektiver Selbstbestimmung, als Ausübung normativer Autorität und Autorschaft, voraus. Dies schließt qualitative Aspekte des Selbst- und Fremdverhältnisses ein, die ich unter der Rubrik Autorisierung analysiere, die allerdings nicht in ethischen Begriffen des guten Lebens fundiert sind. Vielmehr sind sie in einer Reflexion darauf begründet, was es bedeutet, ein autonomes, vernunftbestimmt handelndes Wesen und ein aktives Rechtfertigungssubjekt zu sein: eine gleichberechtigte normative Autorität im noumenalen Raum der Gründe, der im gesellschaftlichen und politischen Leben der Raum der Rechtfertigungen ist. Noumenale Entfremdung entsteht aus einem Mangel an Anerkennung (erste Ordnung) oder einem Mangel an Achtung seiner selbst (zweite Ordnung) als gleichberechtigte Autorität der Rechtfertigung, die ein gleiches Recht auf Rechtfertigung besitzt.[11] In diesem Sinne verletzt Entfremdung die Würde von Menschen als moralische und politische Gesetzgeber - eine Würde, die Rousseau, Kant und Marx als unveräußerlich (inaliénable) gilt: Sie mag abgesprochen oder verletzt, aber sie kann im moralischen Sinne nicht verloren werden. Hier liegt die moralische Bedeutung 43der Rede von etwas...
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