Schweitzer Fachinformationen
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Univ.-Prof. in Dr. in Gabriele Fischer
verantwortet als Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie die Suchtforschung und -therapie an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien. Als international renommierte Sucht- und Menschenrechtsexpertin setzt sie sich in zahlreichen Gremien für die Verbesserung bestehender Behandlungsstrukturen ein.
DDr. Arkadiusz Komorowski
arbeitet als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien u.a. im Bereich der Suchtmedizin und der Forensischen Psychiatrie. Zudem ist er im Bereich der ambulanten psychiatrischen Rehabilitation tätig.
WAS IST EINE SUCHTERKRANKUNG?
Das folgende Kapitel beleuchtet das komplexe Thema der Suchterkrankungen aus biologischer, psychologischer und sozialer Perspektive. Es werden aktuelle Modelle der Suchtentwicklung sowie Auswirkungen auf die psychische und körperliche Gesundheit beschrieben. Zudem wird die Rolle von adäquaten Behandlungsangeboten und zeitgemäßen Therapieansätzen verdeutlicht. Auch nicht-substanzgebundene Suchterkrankungen wie pathologisches Glücksspiel oder eine Esssucht weisen ähnliche Symptome wie substanzgebundene Suchterkrankungen auf und bedürfen einer umfassenden Behandlung. Nicht zuletzt werden die Herausforderungen im Umgang mit Suchterkrankungen verdeutlicht und die Notwendigkeit einer ganzheitlichen und personalisierten Behandlung betont.
EINLEITUNG
Suchterkrankungen betreffen nicht nur das gesamte Spektrum der medizinischen Fachdisziplinen, sondern zählen auch zu den schwersten Erkrankungen des psychiatrischen Formenkreises. Eine psychiatrische Erkrankung bedarf einer multifaktoriellen Betrachtung: Während bei einigen Betroffenen genetische Faktoren oder körperliche Begleiterkrankungen relevant sind, liegen die Krankheitsursachen bei anderen in kritischen Lebensereignissen. Somit sind allgemeine Prognosen über das individuelle Risiko einer Suchterkrankung oder die Schwere des Verlaufes nicht seriös möglich. Es ist wichtig, zu verstehen, dass Suchterkrankungen nicht dem Behandlungsmodell von Infektionen folgen, die z. B. durch Antibiotika innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums geheilt werden. Vielmehr zeigt sich ein chronischer Verlauf, vergleichbar dem Bluthochdruck oder der Zuckerkrankheit. Eine anhaltende Linderung der Beschwerden erfordert in den meisten Fällen eine dauerhafte Lebensstilveränderung. So verwundert es nicht, dass "Impfungen" zur Behandlung von Nikotin- oder Kokainabhängigkeit laut Forschungsergebnissen keinen nachhaltigen Erfolg bringen.
Eine Besonderheit von Suchterkrankungen ist, dass es im Lebenszeitverlauf häufig zu psychiatrischen (wie Depressionen oder Angststörungen) und körperlichen (wie Organschädigungen oder Infektionserkrankungen) Begleiterkrankungen kommt. Vielfach sind (nicht behandelte) psychiatrische Grunderkrankungen die Ursache, dass sich sekundär eine Substanzgebrauchsstörung entwickelt. Dadurch fällt es Betroffenen zunehmend schwer, eine Abstinenz zu erreichen.
Im menschenrechtlichen Kontext des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen - der sogenannten UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) - wird deutlich, dass Personen mit schwerwiegenden Suchterkrankungen unter Umständen mit den Anforderungen in ihren alltäglichen sozialen Rollen nicht zurechtkommen. In der Präambel der UN-BRK, die 2008 von Österreich ratifiziert wurde, wird betont, dass Behinderungen aus einer Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und umweltbedingten Barrieren entstehen, die sie an der vollen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern. Dies betrifft insbesondere Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, und somit auch Personen mit chronischen Suchterkrankungen. Über Jahre unbehandelte bzw. fortbestehende Suchterkrankungen führen zu längerdauernden (medizinischen) Funktionsbeeinträchtigungen und Stigmata, die im Zusammenwirken mit gesellschaftlichen Barrieren eine Beeinträchtigung in der gesellschaftlichen Teilhabe zur Folge haben können. Während die Vertragsstaaten der UN-BRK das Recht von Menschen mit Behinderungen auf ein Höchstmaß an Gesundheit anerkannt haben (auch in Österreich), kommt es in der praktischen Umsetzung bei chronisch psychiatrischen Erkrankungen nach wie vor zu Diskriminierungen.
Abb. 1: Die Suche nach fachkompetenten Behandlungseinrichtungen gestaltet sich für Menschen mit Suchterkrankungen v. a. außerhalb städtischer Ballungszentren schwierig.
Wenngleich die Suchtforschung zunehmend neue Erkenntnisse hervorbringt, bleibt es im öffentlich finanzierten Versicherungssystem schwierig, fachkompetente Behandlungseinrichtungen zu finden - sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich. Gerade in ländlichen Regionen finden sich zu wenige psychiatrische Behandlungsangebote, sodass diese schwierige Aufgabe von Allgemeinmediziner:innen übernommen werden muss. Dabei offenbart sich gerade im Bereich der Opioidabhängigkeit die verwunderliche Situation, dass eine fachärztliche Behandlung sogar abgelehnt werden kann, wenn kein spezielles Fortbildungsdiplom vorliegt. Einerseits spielt hier das Stigma der Patient:innenpopulation eine Rolle, andererseits müssen nur für die Befähigung zur Opioidbehandlung regelmäßig kostenpflichtige Weiterbildungen absolviert werden. Daher ist es wenig verwunderlich, dass v. a. in Regionen außerhalb der großen städtischen Ballungszentren eine Unterversorgung an ambulanten und stationären Behandlungsangeboten besteht und es häufig zu unzumutbaren Wartezeiten kommt. Eine frustrierende Situation für diejenigen Personen, die eine Behandlung beginnen möchten. Und das, obwohl entsprechend internationalen Menschenrechtsverträgen jeder Staat geeignete Maßnahmen treffen sollte, um zu gewährleisten, dass alle Menschen einen Zugang zu gesundheitlicher Rehabilitation haben und nach dem neuesten Stand der Wissenschaft behandelt werden. Nicht unerheblich sind außerdem die volkswirtschaftlichen Folgekosten, die durch unbehandelte Suchterkrankungen entstehen. Dennoch ist Österreich eines von zwei Ländern der Europäischen Union, die bis heute keinen "Nationalen Suchtplan" erstellt haben.
International hat in der Suchtbehandlung - durch standardisierte Leitlinien und die individualisierte Präzisionsmedizin - bereits ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Ein zeitgemäßer und an den Menschenrechten orientierter Therapieansatz verbindet sowohl psychopharmakologische als auch psychologisch-verhaltensmodifizierende Ansätze. Bei entsprechend anhaltender Therapiemotivation kann die multimodale Behandlung durch eine fachspezifische Psychotherapie ergänzt werden. Moderne Zugänge inkludieren außerdem digitale Therapien, wie z. B. Apps am Smartphone.
DIE ENTSTEHUNG VON SUCHT
Aus heutiger Sicht liegen der Entstehung von Suchterkrankungen - bzw. Substanzgebrauchsstörungen (das ist die heute wissenschaftlich korrekte Bezeichnung) - sowohl biologische als auch psychologische und soziale Ursachen zugrunde. Dabei sind die Gründe für substanzgebundene bzw. nicht-substanzgebundene Abhängigkeiten so unterschiedlich wie die Menschen selbst. Die Ausprägung einer Suchterkrankung ist z. B. vom persönlichen Erleben und Befinden sowie vom Selbstwertgefühl der Betroffenen abhängig. Ebenso beeinflusst die Verfügbarkeit bzw. die moralische Bewertung von legalen und illegalen Substanzen seitens der Gesellschaft das Konsumverhalten. In Staaten, in denen Alkohol aus religiösen Gründen nur eine untergeordnete soziale Rolle einnimmt, zeigt sich ein problematischer Alkoholkonsum deutlich seltener. Gleichzeitig prägen familiäre Rollenbilder den Umgang mit Suchtmitteln und damit auch das Risiko, eine Abhängigkeit zu entwickeln.
Das Zusammenwirken von Menschen innerhalb einer Gesellschaft wird durch soziale Beziehungen und ihr Verhalten geprägt. Je nach Art der Sozialisation werden bestimmte Werte und Normen einer Gesellschaft auf deren Mitglieder übertragen. Die Funktionsfähigkeit eines sozialen Systems ist u. a. dadurch gekennzeichnet, dass neue Mitglieder die Erwartungen der Gesellschaft verinnerlichen und ein entsprechend adaptiertes Verhalten zeigen. Die Anpassung an soziale Zwänge und Erwartungen erfolgt anhand der individuellen Kompetenzen eines einzelnen Menschen. Je nach individueller Strategie, den gesellschaftlichen Anforderungen zu entsprechen, kann es unter Umständen zu suchtspezifischen Verhaltensweisen kommen.
Auf biologischer Ebene werden hauptsächlich Veränderungen in entwicklungsgeschichtlich wichtigen Regionen des Gehirns, wie dem Belohnungs- und Stresssystem, beschrieben. Weiters ist die Emotionsverarbeitung im sogenannten limbischen System maßgeblich an der Regulation von Essverhalten, Sexualität und Vergnügen beteiligt. Durch einen anhaltenden Substanzkonsum oder repetitive (sich wiederholende) Verhaltensweisen kann es zu einer Balancestörung in neuronalen Systemen und dadurch zur Veränderung des Lust- und Belohnungserlebens kommen. Einerseits können die positiven Erfahrungen mit einem Suchtmittel - trotz möglicher negativer Folgen in anderen Lebensbereichen - zu einer zunehmenden Beschäftigung mit einer bestimmten Verhaltensweise oder Substanz führen. Andererseits berichten andere Konsumenten, dass ihr Suchtverhalten einer sozialen Isolierung, Einsamkeit oder depressiven Stimmung entgegenwirken soll.
Abb. 2: Suchtmittel führen über das Belohnungssystem im Gehirn u. a. zur Ausschüttung des Neurotransmitters Dopamin.
Der Neurotransmitter (= Botenstoff) Dopamin spielt im Rahmen von...
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