1 Ernährung, Gesundheit und Evolution
Nähr dich, o Mensch, verständig
Fettbildner sind, das merke:
Fett, Zuckerstoff und Stärke;
Blutbildner sind im Ganzen
Die Proteinsubstanzen.
Dass Knochen sich erneuern,
Bedarfst du Alk und Säuren;
D'rum mische klug und weise
Dergleichen in die Speise.
Und also iss und lebe,
Ersetzend dein Gewebe,
Und denk in allen Fällen:
Wie bild ich neue Zellen?
Johannes Trojan (1837-1915), deutscher Humorist, Dichter und Redakteur des Kladderadatsch
Dieses Gedicht verdeutlicht, wie "ernährisch" Menschen, die sich mit der Ernährung beschäftigen, denken (ich kenne das von mir auf jeden Fall). Beim Zubereiten einer Gemüsesuppe wird gedacht: "Oh ja, jetzt kommt gesundes Gemüse auf den Tisch. Das hat so viele Vitamine! Und dann noch ein Klecks gesunde Omega-3-Fettsäuren obendrauf." Natürlich gibt es auch genügend Menschen, die sich überhaupt keine Gedanken darüber machen, was sie essen. Dann wird gegessen nach dem Motto "Hauptsache es schmeckt und macht satt". Ob die Steinzeitmenschen früher darüber auch nachgedacht haben? Vermutlich ging es eher um das Überleben, und sie haben intuitiv und mithilfe des Geruchs- und Geschmacksinns gewusst, welche Nahrung wichtig für sie war.
Die Einteilung der Lebensmittel nach gesund und ungesund ist heute eine übliche Wertung der Ernährung. Doch ist diese Einteilung überhaupt sinnvoll? Steckt nicht in jedem Lebensmittel ein Anteil, der "gut" oder "schlecht" für uns sein könnte? Gehört zur Ernährung nicht noch mehr als nur die reine Aufnahme "wichtiger" Stoffe? Schon Johann Wolfgang von Goethe sagte: "Das Essen soll zuerst das Auge erfreuen und dann den Magen." Was bedeutet "gesunde Ernährung"? Wie hat sich unsere Ernährung im Laufe der Evolution entwickelt? Wie hat die Ernährung den Menschen verändert? Welchen Stellenwert hat die Ernährung heute in unserem Alltag? Gibt es die Ernährung für alle? Dieses Kapitel befasst sich mit diesen Aspekten und soll Sie und Ihre Patienten anregen, darüber nachzudenken, was Ernährung für jeden individuell bedeutet und wie diese persönliche Ernährung den Alltag und die Gesundheit beeinflusst.
1.1 Ernährung und Gesundheit
Ernährung ist ein menschliches Grundbedürfnis und dient der Zufuhr von Nährstoffen zur Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen. Diese Nährstoffe sind in Nahrungsmitteln und Getränken enthalten und teilen sich auf in
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Kohlenhydrate,
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Eiweiße,
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Fette,
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Vitamine,
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Mineralstoffe und
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Spurenelemente.
Dies ist zwar eine zweckmäßige, aber empfindungslose Definition, die nur ungenügend berücksichtigt, welch herausragende Rolle Ernährung und Essen in allen Kulturkreisen, Religionen und auch in unserem Alltag spielt. "Essen hält Leib und Seele zusammen", sagte bereits Sokrates oder Winston Churchill: "Man soll dem Leib etwas Gutes bieten, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen." Ernährung ist weit mehr als reine Nahrungsaufnahme. Ernährung ist ein wichtiger Teil der sozialen und kulturellen Identität und Ausdruck unseres Befindens zu uns selbst und unserer Umwelt. Sie ändert sich im Laufe unseres Lebens, angepasst an unsere persönlichen Bedürfnisse, Krankheiten, Beschwerden und Lebensabschnitte. Sie ändert sich selbst im Laufe der Jahreszeiten. So verspüren wir im Sommer vielleicht mehr Appetit auf rohes Gemüse und mögen im Winter eher warme Gemüsesuppen.
Gesundheit ist laut der World Health Organisation (WHO) "ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen, und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen". "Körperlich" steht dabei für die Beschaffenheit und Funktion des Körpers, "psychisch" umfasst das Denken, Fühlen und Verhalten einer Person und mit "sozial" ist die Einbindung der eigenen Person in Familie, Beruf und soziales Umfeld gemeint. Nach dieser Definition dürfte es wohl kaum einen gesunden Menschen geben.
1.1.1 Gesunde Ernährung
In den Medien sind verschiedene Vorschläge zur gesunden Ernährung zu finden. Der Großteil der Empfehlungen beinhaltet die folgenden beiden Hauptrichtungen: die kohlenhydratreiche, fettarme Kost der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) sowie die kohlenhydratreduzierte, fett- oder eiweißreiche Ernährungsweise (z.B. LOGI-Methode, Paleo-Ernährung). Beide nehmen für sich in Anspruch, eine gesunde Ernährungsweise für alle zu sein.
Laut Biesalski ? [1] ist eine gesunde Ernährung allerdings nicht daran zu messen, ob sie mehr Eiweiß oder mehr Kohlenhydrate enthält, sondern ob sie die essenziellen Nährstoffe in ausreichender Menge und notwendiger Verfügbarkeit enthält. Ihm zufolge sichert dies nur eine ausgewogene Mischkost, und das war schon immer so.
Es wird oft übersehen, dass kein Mensch so funktioniert wie der andere. Jeder Mensch verwertet seine Nahrung unterschiedlich. Die Aufnahme der Nährstoffe ist abhängig von der Verdauungsleistung des einzelnen Menschen, die u.a. in Abhängigkeit von vorhandenen Verdauungsenzymen oder der Zusammensetzung der vielfältigen Mikroorganismen im Darm individuell verschieden ausgeprägt ist. In welcher Stimmung wir essen, entscheidet darüber, welche Hormone angeschaltet werden. So kann Stress oder Angst während der Nahrungsaufnahme Stresshormone aktivieren, die andere Weichen im Stoffwechsel stellen, als es beim Essen in entspannter Atmosphäre der Fall ist. Vor allem in der Kindheit geprägtes Essverhalten und erlernte Verhaltensmuster beeinflussen unsere Ernährung und bestimmen darüber, ob wir uns "gesund" oder "ungesund" ernähren.
Meine ganzheitliche Definition der gesunden Ernährung ist deshalb: Gesunde Ernährung ist eine Maßnahme, die uns alle lebensnotwendigen Nährstoffe liefert. Sie trägt zur Aufrechterhaltung unseres Gesundheitszustands bei oder hilft, Krankheiten zu verbessern oder sogar zu heilen. Außerdem berücksichtigt sie soziale, körperliche und geistige Aspekte und ist auf jeden Menschen individuell abgestimmt.
Im Umkehrschluss ist eine Ernährung ungesund, wenn sie auf längere Sicht den Körper nicht mit der richtigen Menge an lebensnotwendigen Nährstoffen versorgt, sodass sich das Risiko für mögliche Erkrankungen und Beschwerden erhöht. Heute ist vor allem in den Industrieländern die Verfügbarkeit aller Lebensmittel gegeben. Man sollte meinen, dass keiner an einem Nährstoffmangel leiden muss und gesund bleibt. Aber die Zunahme von Zivilisationskrankheiten wie Diabetes mellitus Typ 2, Arteriosklerose und Krebs zeigt, dass die derzeit verfügbaren Lebensmittel und das übermäßige Angebot den modernen Menschen eher krank als gesund machen. Diese Lebensmittel (vor allem Fertiggerichte und Fast Food) zeichnen sich durch eine hohe Energie-, aber eine niedrige Mikronährstoffdichte aus.
Zusatzinfo - gut zu wissen
WHO-Leitlinien zur gesunden Ernährung
Die WHO hat 2023 neue Empfehlungen für eine gesündere Ernährung veröffentlicht und darin präzisiert, was unter einer gesunden Ernährung zu verstehen ist. Aktuell liegen WHO-Leitlinien mit evidenzbasierten Ernährungsempfehlungen zu Kohlenhydraten, Gesamtfetten, gesättigten Fetten und Süßstoffen vor ( ? [11], ? [13], ? [14], ? [15], ? [16]).
In den letzten Jahrzehnten sind Ernährungsthemen zwar mehr in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, allerdings scheint die Umsetzung einer gesunden Ernährungsweise nur bei einem kleineren Teil der Bevölkerung angekommen zu sein. Das mag darin begründet sein, dass für viele Menschen die ernsthafte Beschäftigung mit dem Thema Ernährung eher abwegig zu sein scheint oder die "Verführungen" des Überangebots von schnellen Mahlzeiten einfach zu groß ist. Zudem werden viele Ernährungsfragen auf wissenschaftlicher Ebene immer noch kontrovers diskutiert, sodass die Verbraucher oft verunsichert sind. Trotzdem wächst das Interesse für Ernährung immer mehr, und die Menschen möchten wissen, wie sie ihre Gesundheit mit der Ernährung unterstützen können. Es wäre wünschenswert, wenn dieser Trend weiter anhält und bald die Zahl der Erkrankungen, die auf eine ungesunde Ernährungs- und Lebensweise zurückzuführen sind, wieder sinkt.
1.1.2 Gesunde und ungesunde Lebensmittel
Die Einteilung der Lebensmittel erfolgt heute üblicherweise in ungesunde und gesunde Lebensmittel. Diese Kategorisierung wird den Kindern schon im Kindergarten beigebracht und macht sich sprachlich bemerkbar: "Süßes ist ungesund, Obst ist gesund", "Von Süßem wirst du krank, mit Obst bleibst du gesund". Als gesund werden Lebensmittel eingestuft, die möglichst reich an wichtigen Nährstoffen sind, während ungesunde Lebensmittel wenige dieser Nährstoffe haben oder sogar Stoffe enthalten, die unserem Körper schaden können. Ein Beispiel für die Einteilung von Lebensmitteln in gesund und ungesund zeigt ? Tab. 1.1 .
Tab. 1.1 Beispiele für die Einordnung von Lebensmitteln in gesund und ungesund. ...