Schweitzer Fachinformationen
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Lena sitzt am Straßenrand und beobachtet, wie das Fuhrwerk den Hügel zu ihr heraufklettert, und sie denkt: Sie denkt Ich bin noch keinen ganzen Monat unterwegs und hab's schon bis Mississippi geschafft, weiter weg von zu Hause, als ich je vorher gewesen bin. Ich bin jetzt weiter weg von Doane's Mill, als ich seit meinem zwölften Lebensjahr gewesen bin
Nach Doane's Mill war sie auch erst gekommen, als ihr Vater und ihre Mutter starben, auch wenn sie sechs- oder achtmal im Jahr am Samstag in die Stadt gefahren war, im Fuhrwerk, in einem Versandhauskleid, die bloßen Füße flach auf dem Wagenboden und die Schuhe, in ein Stück Papier gewickelt, neben sich auf der Bank. Erst kurz bevor das Fuhrwerk die Stadt erreichte, zog sie die Schuhe an. Als sie ein großes Mädchen geworden war, bat sie ihren Vater, am Stadtrand anzuhalten, dann stieg sie ab und ging zu Fuß weiter. Sie mochte ihrem Vater nicht sagen, warum sie lieber gehen statt fahren wollte. Er dachte, es hätte mit den glatten Straßen, den Gehwegen zu tun. Es war aber, weil sie glaubte, die Leute, die sie sahen und an denen sie vorbeikam, würden dann denken, sie lebte auch in der Stadt.
Als sie zwölf Jahre alt war, starben ihr Vater und ihre Mutter in ein und demselben Sommer, in einem Blockhaus mit drei Zimmern und einem Flur, ohne Fliegengitter, in einem Zimmer, das von einer insektenumschwirrten Petroleumlampe erleuchtet war, der nackte Fußboden von nackten Füßen blank poliert wie altes Silber. Sie war das jüngste der lebenden Kinder. Zuerst starb die Mutter. Sie sagte: «Kümmre dich um Pa.» Das tat Lena. Dann sagte eines Tages ihr Vater: «Geh du mit McKinley nach Doane's Mill. Mach dich bereit, damit du bereit bist, wenn er kommt.» Dann starb er. McKinley, der Bruder, kam in einem Fuhrwerk. Sie begruben den Vater an einem Nachmittag in einem Hain hinter einer ländlichen Kirche und setzten ihm ein Grabmal aus Kiefernholz. Am nächsten Morgen ging sie für immer fort, auch wenn sie es damals womöglich nicht wusste, und fuhr mit McKinley im Fuhrwerk nach Doane's Mill. Das Fuhrwerk war geliehen, und der Bruder hatte versprochen, es bis zum Einbruch der Dunkelheit zurückzubringen.
Der Bruder arbeitete in der Sägemühle. Alle Männer im Ort arbeiteten in der Mühle oder für die Mühle. Dort wurde Kiefernholz gesägt. Es gab die Mühle seit sieben Jahren, und in weiteren sieben Jahren würde sie den gesamten Kiefernbestand im Umkreis zerstört haben. Dann würden ein Teil der Maschinen und die meisten der Männer, die sie betrieben und die dank der Mühle und für die Mühle hier lebten, auf Güterwagen verladen und weggefahren werden. Ein Teil der Maschinen aber bliebe zurück, da man ja jederzeit neue auf Raten kaufen konnte - triste, starrende, reglose Räder, die auf zutiefst verwunderliche Art und Weise aus Haufen von Backsteinschutt und zottigem Unkraut emporragten, und ausgeweidete Dampfkessel, die ihre rostenden, rauchlosen Schlote mit sturer, verdutzter und verstörter Miene in die Luft reckten, auf einem mit Baumstümpfen übersäten Gelände von tiefer, friedlicher Trostlosigkeit, ungepflügt, unbestellt, das unter dem langen ruhigen Herbstregen und der galoppierenden Furie der Frühlingstagundnachtgleiche langsam ins Rutschen kam, die roten, schon verstopften Schluchten hinunter. Eines Tages würde das kleine Dorf, das selbst in seinen besten Zeiten keinen in den Jahrbüchern des Postministeriums verzeichneten Namen getragen hatte, nicht einmal mehr von den verstreuten, hakenwurmkranken Erben, die die Gebäude niederrissen und das Holz in Küchenherden und winterlichen Feuerstellen verfeuerten, erinnert werden.
Als Lena ankam, lebten dort vielleicht fünf Familien. Es gab ein Bahngleis und einen Haltepunkt, und einmal am Tag sauste ein gemischter Zug kreischend durch. Der Zug konnte mit einer roten Flagge angehalten werden, doch gewöhnlich tauchte er mit der Plötzlichkeit einer Erscheinung und dem Heulen einer Todesfee aus den verwüsteten Hügeln auf und fuhr quer durch den kleinen Ort, der, nicht einmal ein Dorf, wie die vergessene Holzperle einer zerrissenen Kette war. Der Bruder war zwanzig Jahre älter als Lena. Sie konnte sich kaum noch an ihn erinnern, als sie kam, um nun bei ihm zu leben. Er wohnte in einer ungestrichenen Hütte mit vier Räumen, zusammen mit seiner von Mühsal und Kindbett verbrauchten Frau. Fast die Hälfte eines jeden Jahres lag die Schwägerin entweder im Wochenbett oder erholte sich davon. In dieser Zeit versah Lena alle Hausarbeit und versorgte die anderen Kinder. Später sagte sie sich:
Sie schlief in einem hinten am Haus angebauten Raum. Er hatte ein Fenster, das sie im Dunkeln zu öffnen und wieder zu schließen lernte, ohne dass jemand es hörte, obwohl in dem angebauten Zimmer zuerst auch ihr ältester Neffe schlief, dann die beiden ältesten und schließlich alle drei. Sie wohnte schon acht Jahre dort, als sie das Fenster zum ersten Mal aufmachte. Sie hatte es noch kein Dutzend Mal aufgemacht, als sie feststellen musste, dass sie es besser niemals aufgemacht hätte. Sie sagte sich:
Die Schwägerin erzählte es dem Bruder. Daraufhin bemerkte er, was ihm schon eine Zeitlang hätte auffallen sollen, ihre sich verändernde Gestalt. Er war ein harter Mann. Alles Sanfte und Zarte und Jugendliche (er war gerade erst vierzig) und fast alles andere, außer einer gewissen hartnäckigen und verzweifelten Standhaftigkeit und dem finsteren Erbe seines Familienstolzes, hatte die Arbeit aus ihm herausgeschwitzt. Er nannte sie eine Hure. Er beschuldigte den richtigen Mann (junge, noch unverheiratete Männer oder gar Sägemehl-Casanovas gab es noch weniger als Familien), aber sie wollte es nicht zugeben, obwohl der Mann schon sechs Monate zuvor weggegangen war. Sie sagte hartnäckig nur immer wieder: «Er will mich nachkommen lassen. Er hat gesagt, er lässt mich nachkommen»; unerschütterlich, mit Lammsgeduld, aus dem Vorrat langmütiger und standfester Treue schöpfend, worauf die Lucas Burches dieser Welt vertrauen und sich verlassen, obwohl sie gar nicht die Absicht haben, zugegen zu sein, wenn die Not es gebietet. Zwei Wochen darauf kletterte sie abermals durch das Fenster. Diesmal war es ein bisschen schwierig. , dachte sie. Sie hätte zur Tür hinausgehen können, am helllichten Tage, niemand hätte sie aufgehalten. Vielleicht wusste sie das. Aber sie entschied sich, bei Nacht zu gehen, durch das Fenster. Sie hatte einen Palmblattfächer bei sich und ein kleines Bündel, ordentlich in einem Halstuch zusammengebunden. Es enthielt unter anderem fünfunddreißig Cent in Nickeln und Dimes. Ihre Schuhe waren von ihrem Bruder, der sie ihr gegeben hatte. Sie waren nur wenig getragen, da sie alle im Sommer keine Schuhe trugen. Als sie den Staub der Landstraße unter ihren Füßen spürte, zog sie die Schuhe aus und trug sie in der Hand.
So hat sie es jetzt seit fast vier Wochen gehalten. Die vier Wochen hinter ihr, das erinnerte schöne Stück Wegs, sind ein friedlicher Korridor, gepflastert mit unbeirrbarem und gelassenem Vertrauen und bevölkert von freundlichen, namenlosen Gesichtern und Stimmen: Lucas Burch? Ich weiß nicht. Ich kenne hier in der Gegend keinen, der so heißt. Die Straße hier? Die führt nach Pocahontas. Vielleicht ist er dort. Möglich ist es. Hier kommt ein Fuhrwerk, das fährt ein Stück des Weges. Es nimmt Sie sicher so weit mit; hinter ihr rollt jetzt eine lange, monotone Folge friedlicher, sich niemals wandelnder Wechsel ab, von Tageshelle zu Dunkelheit und von Dunkelheit wieder zu Tageshelle, durch die sie sich in immer gleichen, anonymen, bedächtigen Fuhrwerken wie durch eine Folge räderknarrender und schlappohriger Reinkarnationen bewegt hat - wie etwas, das auf immer, ohne voranzukommen, über eine Urne kriecht.
Das Fuhrwerk klettert den Hügel zu ihr herauf. Sie ist daran vorbeigegangen, ungefähr eine Meile weiter unten auf der Landstraße. Es stand am Straßenrand, die Maultiere schlafend im Geschirr, die Köpfe in die Richtung weisend, in die Lena ging. Sie sah es und sie sah die beiden Männer, die hinter einem Zaun bei einer Scheune hockten. Sie warf nur einen Blick auf den Wagen und die Männer: einen einzigen, alles umfassenden Blick, schnell, unschuldig und durchdringend. Sie blieb nicht stehen; höchstwahrscheinlich hatten die Männer hinter dem Zaun den Blick, der den Wagen und sie erfasst hatte, gar nicht bemerkt. Auch wandte sie sich nicht um. Sie schwand aus dem Blickfeld, ging langsam, die Schnürbänder an den Knöcheln gelockert, bis sie eine Meile weiter die Höhe des Hügels erreichte. Da setzte sie sich an den Grabenrand, die Füße im flachen Graben, und zog sich die Schuhe aus. Nach einer Weile hörte sie das Fuhrwerk. Sie hörte es eine Zeitlang. Dann kam es in Sicht, wie es den Hügel heraufkletterte.
Das scharfe und spröde Knacken und Klappern von verwittertem und ungeschmiertem Holz und Metall klingt schleppend und unheimlich: ein wiederholtes trockenes, träges Knallen, das eine halbe Meile weit quer durch die heiße unbewegte Kiefernduftstille des Augustnachmittags trägt. Obwohl die Maultiere in steter, nicht nachlassender Hypnose einhertrotten, scheint das Gefährt nicht voranzukommen. Es verharrt, so scheint es, immer und immerfort in der Schwebe, in mittlerer Entfernung, so geringfügig kommt es voran, wie eine schäbige Perle auf dem sanftroten Band der Straße. Das geht so weit, dass das Auge den Wagen beim...
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