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»Unter dem Titel Politik und Verbrechen präsentiert Enzensberger seine eigenen Versuche, die Auffassungen von Recht und Rechtsverletzung, von Staat, Herrschaft, Gehorsam und Verrat zu revidieren. Es sind Versuche, das Verbrecherische an der Politik selber zu entlarven ... Von Mandevilles Bienenfabel bis zu Brechts Dreigroschenoper ist dieser Zusammenhang bemerkt und zu einer literarischen Figur, zur Spiegelung des Ehrenmannes im Ganoven wie des Kriminellen im Spießbürger, also zu der Inversion von Verbrechen und bürgerlich reputierlichem Erfolg ausgebildet worden.«
Reflexionen vor einem Glaskasten
I. Definitionen. Was ein Verbrechen ist, wissen wir und wissens nicht. Die Encyclopaedia Britannica macht darüber die folgenden Angaben: »Verbrechen ..., allgemeine Bezeichnung für Verstöße gegen die Strafgesetzgebung (s. d.). Man hat das Verbrechen definiert als >Mißachtung oder Ablehnung der Verhaltensnormen, welche die Gesamtheit im übrigen als verbindlich betrachtete Sir James Stephen beschreibt es als >eine Handlung oder Unterlassung, deretwegen die Person, die sich ihrer schuldig macht, gesetzlich bestraft werden kann<.« [1] Nicht viel anders Thomas Hobbes, der vor dreihundert Jahren schrieb: »Ein Verbrechen ist eine Sünde, die begeht, wer durch Taten oder Worte tut, was das Gesetz verbietet, oder unterläßt, was es befiehlt.« [2] Die tautologische Struktur dieser Sätze liegt auf der Hand, und wie alle Tautologien sind sie umkehrbar: Was bestraft wird, ist ein Verbrechen, was ein Verbrechen ist, wird bestraft; strafwürdig ist alles Strafbare und vice versa. Das sprachliche Vorbild solcher Definitionen ist zu suchen in dem biblischen Satz: Ich bin der ich bin. Sie stellen den Gesetzgeber jenseits aller Vernunft, über jedes Raisonnement. Das kodifizierte Recht macht sich diesen Gestus zu eigen. Im deutschen Strafgesetzbuch heißt es schlicht: »Eine mit Zuchthaus oder mit Einschließung von mehr als fünf Jahren bedrohte Handlung ist ein Verbrechen.«
Die praktischen Vorteile einer Begriffsbestimmung, die jede Diskussion ausschließt, sind nicht gering. Sie enthebt die juristische Praxis ein für allemal der Frage, was ein Verbrechen sei, und schiebt das Problem der theoretischen Arbeit zu, als Spezialität für scharfsinnige Köpfe. Im Seminar ist über den »materiellen Verbrechensbegriff« viel nachgedacht und wenig Schlüssiges ermittelt worden. Kein Wunder, da die Strafgesetzgebung ihrerseits kein schlüssiges System, sondern ein höchst heterogenes, oft bizarres Gemenge ist, in dem sich Bestimmungen zum Schutz der verschiedensten »Rechtsgüter« und Interessen, kodifizierte Tabu- und Moralvorstellungen und bloß pragmatisch-wertfreie Spielregeln historisch abgelagert haben.
Übrigens befinden sich die Rechtsgelehrten in einem ganz gewöhnlichen Fall. Je allgemeiner, je fundamentaler eine Erscheinung, desto undeutlicher pflegt ihr Begriff zu sein. Niemand (oder jeder) weiß anzugeben, was eine Nation ist (doch jeder anders). Alle kennen Geld, manche wissen damit umzugehen, die Nationalökonomen aber können sich nicht über die Frage einigen, was es sei. Was ist Gesundheit? Die Medizin stellt Vermutungen an. Was ist der Tod? Die Biologie antwortet mit Vorschlägen.
In solchen Fällen ist es vielleicht das beste, auf die Straße zu gehen und die ersten zehn Passanten zu fragen, die man trifft. Die häufigste Antwort ist nicht eine Definition, sondern ein Beispiel, und zwar, auffallenderweise, immer dasselbe: »Ein Verbrechen, das ist zum Beispiel ein Mord.« Die Häufigkeit dieser Antwort steht in keinem Verhältnis zur Kriminalstatistik, in der ganz andere Delikte die Hauptrolle spielen. Obwohl er relativ selten ist, spielt der Mord im allgemeinen Bewußtsein eine Schlüsselrolle. Kraft seines Beispiels wird überhaupt erst verstanden, was ein Verbrechen ist.
Kriminalroman und Kriminalfilm, als Spiegelungen dieses allgemeinen Bewußtseins, bestätigen, daß der Mord darin einen zentralen Platz einnimmt, ja mit dem Verbrechen geradezu gleichgesetzt wird.
Daß der Mord das eigentliche und älteste, das kapitale Verbrechen ist, läßt sich übrigens, nach dem Gesetz der Talion, auch aus der Strafe erschließen: Die älteste und höchste, bis tief ins Mittelalter auch die hauptsächliche Strafe, nämlich die Todesstrafe, setzt, was sie vergelten will, den Mord voraus.
2. Naturgeschichte des Verbrechens. Über den stammesgeschichtlichen Ursprung des Verbrechens besitzen wir keinerlei gesicherte Kenntnis. Bei den primitivsten Gesellschaften, die der Beobachtung zugänglich sind, gibt es bereits »Rechtsbrecher«, und zwar selbst dann, wenn es an kodifizierten Vorschriften fehlt. In den ältesten Urkunden des Menschengeschlechts spielt der Mord eine bedeutende Rolle. Da der Urzustand der Gesellschaft nirgends empirisch faßbar ist, muß jede Erforschung seiner Naturgeschichte hypothetisch bleiben. Zur Verfügung stehen ihr folgende Hilfsquellen: die biologische Verhaltensforschung (die allerdings nur bedingte Rückschlüsse auf das menschliche Verhalten erlaubt); die Ethnologie; die Mythenforschung; sowie die Psychoanalyse.
Die klassische Darstellung des »ersten Verbrechens« hat Sigmund Freud gegeben. Sie geht aus von der »Darwinschen Urhorde«: »Ein gewalttätiger, eifersüchtiger Vater, der alle Weibchen für sich behält und die heranwachsenden Söhne vertreibt, nichts weiter.« Das Verbrechen selbst wird folgendermaßen geschildert:
»Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende. Vereint wagten sie und brachten zustande, was dem einzelnen unmöglich geblieben wäre ... Der gewalttätige Urvater war gewiß das beneidete und gefürchtete Vorbild eines jeden aus der Brüderschar gewesen. Nun setzten sie im Akte des Verzehrens die Identifizierung mit ihm durch, eigneten sich jeder ein Stück seiner Stärke an. Die Totemmahlzeit, vielleicht das erste Fest der Menschheit, wäre die Wiederholung und die Gedenkfeier dieser denkwürdigen, verbrecherischen Tat, mit welcher so vieles seinen Anfang nahm, die sozialen Organisationen, die sittlichen Einschränkungen und die Religion.« [3]
Diese Darstellung begegnet dem vordergründigen Einwand, es könne von einem Verbrechen die Rede nicht sein, wo es kein Gesetz gebe. Ein solches Bedenken ist juridisch, nicht philosophisch, und greift zu kurz; die Scheinfrage, auf die es führt, gleicht jener nach der Priorität von Henne oder Ei. Erst am Unrecht, als seiner Grenze, kann Recht sich definieren und für Recht erkannt werden; die »sittlichen Einschränkungen« sind nur als Antwort auf eine Herausforderung zu denken. Insofern ist das ursprüngliche Verbrechen ohne Zweifel ein schöpferischer Akt. (Von seiner rechtsetzenden Kraft hat Walter Benjamin in seiner Schrift Zur Kritik der Gewalt gehandelt.)
Diese Hypothese, die Freud in seinem Aufsatz über Die infantile Wiederkehr des Totemismus aufgestellt hat, ist zugleich berühmt und unbekannt; aus guten Gründen. Über die Widerstände, die sich gegen seinen Versuch regen würden, »den Beginn unseres kulturellen Besitzes, auf den wir mit Recht so stolz sind, auf ein gräßliches, alle unsere Gefühle beleidigendes Verbrechen zurückzuführen«, hat Freud sich wenig Illusionen gemacht. Von gelehrten Spezialisten abgesehen, hat man seinen >wissenschaftlichen Mythos< nicht einmal bestritten, sondern ignoriert. [4] Längst nicht mehr sind es, wie bis in die dreißiger Jahre hinein, in erster Linie die sexuellen Tabus, welche eine Rezeption seiner Thesen blockieren, sondern ihre gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen. Je offensichtlicher diese geschichtlich zutage treten, desto gründlicher werden sie verdrängt.
3. Politik und Mord. Der ursprüngliche politische Akt fällt also, wenn wir Freud Gehör schenken wollen, mit dem ursprünglichen Verbrechen zusammen. Zwischen Mord und Politik besteht ein alter, enger und dunkler Zusammenhang. Er ist in der Grundstruktur aller bisherigen Herrschaft aufbewahrt: Sie wird von demjenigen ausgeübt, der die Beherrschten töten lassen kann. Der Machthaber ist »der Überlebende«. Diese Definition stammt von Elias Canetti, der eine ausgezeichnete Phänomenologie der Herrschaft geliefert hat. [5]
Den verbrecherischen Akt, der sie gestiftet hat, bildet die Sprache der Politik bis auf den heutigen Tag ab. Auch im harmlosesten und zivilisiertesten Wahlkampf »schlägt« ein Kandidat den andern (was eigentlich heißt: er schlägt ihn tot); eine Regierung wird »gestürzt« (nämlich zu Tode); Minister werden »abgeschossen«. Was in solchen Ausdrükken symbolisch aufbewahrt ist, entfaltet und verwirklicht sich in extremen gesellschaftlichen Lagen. Keine Revolution kann darauf verzichten, den alten Herrscher zu töten. Sie muß das Tabu brechen, das den Beherrschten verbietet, ihn »anzutasten«; denn nur »wer es zustande gebracht hat, ein solches Verbot zu übertreten, (hat) selbst den Charakter des Verbotenen gewonnen«. [6] Das Mana des getöteten Herrschers geht auf seine Mörder über. Alle bisherigen Revolutionen haben sich am alten, vorrevolutionären Zustand infiziert und die Grundstruktur der Herrschaft geerbt, gegen welche sie angetreten sind.
4. Widerspruch. Auch die »fortschrittlichsten«, »zivilisiertesten« Gesellschaftverfassungen sehen die Tötung...
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