Stürmische Zeiten
Es wurden Quarantänemaßnahmen getroffen. So gaben die Zeitungen bekannt, dass Lesehallen, Leihbibliotheken und Lesezirkel für vier Wochen geschlossen wurden. Auch Lichtspielkinos wurden auf Anordnung des herzoglichen Staatsministerium aufgefordert, ihren Betrieb einzustellen.
Es gab allerdings kein wirksames Medikament gegen die Grippe. Man griff daher auf Hausmittel zurück, wie Bettruhe im warmen Zimmer, aber bei frischer Luftzufuhr, Schwitzbäder, Wärmflaschen an Händen und Füßen, den sogenannten "Kruken", heißen Fliedertee, Halswickel, Dampfinhalation, Kamillentee. Von der Verwendung fiebersenkender Mittel riet man aber ab.
Im Herbst und Winter des Jahres 1918 sollten weltweit zwischen zwanzig und fünfzig Millionen Menschen an Grippe versterben, man vermutete später, es seien sogar hundert Millionen gewesen.
Weit nach Ende des Krieges stellte man fest, dass die Grippe mehr Opfer gefordert habe als der Krieg, in dem siebzehn Millionen Menschen ihr Leben gelassen hatten.
Man empfahl, Mund, Haut und Kleider immer reinlich zu halten und die Fenster möglichst viel geöffnet zu lassen. Wenn man zu Fuß unterwegs war, sollte man sich kühl halten, und warm, wenn man fuhr oder schlief. Die Hände sollten vor dem Essen gewaschen und das Essen gut gekaut werden. Eine Ansammlung von Verdauungsprodukten im Körper sollte vermieden werden, nach dem Aufstehen sollte man direkt ein oder zwei Gläser Wasser trinken.
Auch Handtücher, Servietten und Besteck, das von anderen benutzt wurde, sollte man meiden. Ebenso sollte man auf zu enge Kleidung, Schuhe oder Handschuhe verzichten.
In Großstädten stellte man das Spucken auf der Straße unter Strafe oder ordnete das Tragen eines Mundschutzes an. Wer dagegen verstieß, dem drohte eine Geldstrafe.
Die "Spanische Grippe" sollte auch prominente Opfer fordern, wie den österreichischen Maler Egon Schiele und seine Gemahlin Edith sowie Mehmed V., den Sultan und damit das Staatsoberhaupt des Osmanischen Reiches.
Es ist nur allzu verständlich, dass ich mich sehr um Haz sorgte, wenn er an der Front war, denn man hörte davon, wie verwundete Soldaten in schmutzigen Laken liegen mussten, sich oft auch ansteckten, bevor man sie überhaupt in die Heimat zurücktransportieren konnte. Auch wenn ich mich mit meinem Gemahl in jener Zeit nicht besonders gut verstand, er war mein Ehemann. Ich wollte ihn nicht an dieser schrecklichen Krankheit sterben sehen und natürlich auch nicht im Schützengraben.
Und ebenso traute ich mich auch kaum noch vor die Tür, ebenso wie Mama. Wir beide hatten schon genug Leiden zu ertragen. Die Grippe hätten wir beide sicher nicht überstanden.
Dieser Krieg laugte die Menschen sprichwörtlich aus und die Kriegsmüdigkeit nahm zu, je länger er dauerte.
Zu Beginn dieses Krieges zeigten die Menschen noch ein breites Spektrum an ganz unterschiedlichen Reaktionen, die von Protest und Verweigerungshaltung über Ratlosigkeit und Erschütterung bis zum patriotischen Überschwang und Hysterie reichten. Es gab keine allgemeine Kriegsbegeisterung noch standen die proletarischen und bäuerlichen Schichten dem Krieg geschlossen und konsequent ablehnend gegenüber. Große Teile der bürgerlich-akademischen Schichten begrüßten den Krieg. So reagierte das konservative Bürgertum auf das Ultimatum und die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien mit patriotischen Umzügen, wie etwa in Berlin-Mitte am fünfundzwanzigsten Juli 1914. Diese Umzüge hatten seinerzeit rund dreißigtausend Teilnehmer gehabt.
Allerdings verhielt es sich anders in den kleineren Städten und vor allem in den ländlichen Regionen. Die Menschen waren eher ausgesprochen niedergeschlagen, nachdenklich und pessimistischer Stimmung. Auch die Arbeiterschaft in den Industriezentren des Landes hatte sich eher besorgt gezeigt, als der Krieg begann.
So hatte es aber in keinem der vom Kriegsausbruch betroffenen Länder eine "rauschhafte", sämtliche Bevölkerungsschichten ergreifende Kriegsbegeisterung gegeben.
In Deutschland fanden damals, so wie in Großbritannien und Frankreich, Ende Juli Antikriegsdemonstrationen statt. Obwohl der Magistrat der Stadt es verboten hatte, marschierten mehr als hunderttausend Menschen in Berlin-Mitte auf.
Ein kleiner Wendepunkt war die Nachricht von der russischen Teilmobilmachung am achtundzwanzigsten Juli gewesen. Die Sozialdemokraten schlossen sich, ähnlich wie die Arbeiterbewegung in anderen Ländern, der politischen Einheitsfront an, obwohl sie sich nur wenige Tage zuvor gegen die "Kriegstreiberei" der eigenen Regierung gewandt hatten.
Am ersten August des Jahres 1914 versammelten sich vor dem Berliner Stadtschloss zwischen vierzigtausend und fünfzigtausend Menschen zur zweiten Balkonrede meines Onkels Willie, in der er verkündete, er kenne "keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr".
Papa meinte, der Reichskanzler Bethmann Hollweg habe es zu jenem Zeitpunkt geschickt verstanden, Russland als vermeintlichen Aggressor darzustellen.
Der SPD-Parteivorstand Hugo Haase, der zahlreiche Antikriegskundgebungen organisiert und noch bis zum dritten August innerparteilich gegen die Annahme der Kriegskredite gekämpft hatte, erklärte für die SPD tags darauf, dass man in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich lasse.
Man musste diesen Krieg akzeptieren, aber nach der ganzen Zeit, den vielen verwundeten, toten Soldaten, der Lebensmittelknappheit und der "Spanischen Grippe", hofften die Menschen, dass er bald zu Ende sei. Die Propagandameldungen in den Tageszeitungen konnte man nicht mehr für wahr halten, es waren mehr Durchhalteparolen für ein geschundenes Volk, dessen Unmut sich immer mehr gegen die Regierung und damit auch gegen Onkel Willie richtete.
Am neunundzwanzigsten September des Jahres 1918 forderte der General und Politiker Erich Ludendorff einen Waffenstillstand. Ludendorff hatte sich als Erster Generalquartiermeister und Stellvertreter Paul von Hindenburgs, des Chefs der Dritten Obersten Heeresleitung, einen Namen gemacht und übte einen bedeutenden Einfluss auf die deutsche Kriegführung und Politik aus. Er war unter anderem verantwortlich für den Sieg Deutschlands in der Schlacht bei Tannenberg in Ostpreußen zwischen deutschen und russischen Truppen gewesen.
Nur einen Tag nach Ludendorffs Forderung hatte der Admiral Reinhard Scheer, der Leiter der im August gebildeten Seekriegsleitung, die Hochseeflotte ohne Angaben von Gründen auf Reede bei Schillig nahe Wilhelmshaven zusammengezogen. Dem Flottenkommando wurde signalisiert, dass einer Forderung auf Auslieferung der deutschen Flotte nachgekommen werden müsse. So entwickelte der Konteradmiral Adolf von Trotha daraufhin auf der Basis vorausgegangener, im Frühjahr 1917 und im April 1918 aufgestellter Planungen, einen Angriffsplan auf die mehr als doppelt so starke englische Flotte, die sogenannte "Grand Fleet". Dieser Operationsplan sah für den dreißigsten Oktober einen Nachtvorstoß der gesamten Flotte in die Hoofden vor. Bei Tagesanbruch wollte man die flandrische Küste und die Themsemündung angreifen.
Da man davon ausging, dass die britische Flotte mit großer Wahrscheinlichkeit den Rückzug zur Deutschen Bucht abschneiden würde, erwartete die Marineführung am Spätnachmittag des zweiten Operationstages die große Seeschlacht bei Terschelling. Die Admiräle sahen eine gewisse Siegeschance. Man plante also nicht von vorneherein eine "Todesfahrt" für achtzigtausend Seeleute, nahm allerdings eine solche als sehr wahrscheinliche Variante durchaus billigend in Kauf.
Man informierte weder Onkel Willie noch den Reichskanzler, aber sehr wohl Ludendorff.
Die Motive des Flottenvorstoßes lagen bedauerlicherweise in Ehren - und Existenzfragen der Admiräle, denn man glaubte, ohne einen letzten Einsatz sei der kommende Wiederaufbau der Flotte gefährdet.
Nach dem entsprechenden Flottenbefehl vom vierundzwanzigsten Oktober kam es nur drei Tage später zu Befehlsverweigerungen auf einigen der größten Schiffe.
So stellte der Admiral Franz von Hipper am neunundzwanzigsten Oktober den Befehl zum Auslaufen zurück und beorderte die Flottengeschwader zu ihren jeweiligen Standorten. Das besonders unruhige III. Flottengeschwader lief am ersten November in Kiel ein, wo nun siebenundvierzig Matrosen, die als Haupträdelsführer galten, in Haft genommen wurden. Es kam zu Protestaktionen gegen diese Maßnahme, bei denen am dritten November sieben demonstrierende Arbeiter und Soldaten erschossen wurden. Aus diesen erwuchs der später so bezeichnete Kieler Matrosenaufstand.
Die nun beginnende Novemberrevolution...