Schweitzer Fachinformationen
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Emilio Tava schloss die Tür seines Büros hinter sich und ging zu den Aufzügen. Dieser Tag hatte es in sich gehabt. Fünf Produzenten hatte er besucht. Der letzte war sein spezieller Freund. Seine Schinken waren in Ordnung, aber der Hof ließ zu wünschen übrig. Überall Chaos und Vernachlässigung. Er sollte ihn der Lebensmittelaufsicht melden, konnte sich aber nicht dazu durchringen, denn die Familie tat ihm leid.
Vor einem Jahr war die Mutter der vierköpfigen Kinderschar mit einem Feuerschlucker durchgebrannt. An einem heißen Mittwochabend im August hatte sie ihre Sachen gepackt und einen Brief hinterlassen, in dem sie sich bei den Kindern entschuldigte und ihren Mann um Verständnis bat. Um Verständnis! Was, zum Teufel, sollte man daran verstehen? Und dann noch ein Feuerschlucker!
Emilio kannte den Brief, genauso wie die ganze Nachbarschaft und jeder, der das Pech hatte, die arme Familie zu besuchen. Das Papier war inzwischen ganz abgegriffen, und die Falze begannen zu reißen, aber immer noch holte Julio es hervor und ließ seiner Jammerei freien Lauf, wenn er ein Opfer fand.
Die Kinder, drei Jungen und ein Mädchen zwischen vierzehn und sechs Jahren, konnten inzwischen sehen, wie sie zurechtkamen. Bis jetzt besuchten sie noch die Schule, aber Emilio hatte gehört, dass der Mittlere öfter fehlte und der Große Streit suchte. Darüber hatte er heute mit Julio gesprochen. »Denk‘ an die Kinder«, hatte er gesagt, »siehst du nicht, wie sie verwahrlosen? Du bist ihr Vater, kümmere dich um sie. Sollen sie auch dich noch verlieren?« Julio hatte ihn angesehen wie ein waidwundes Reh. Emilio seufzte. Er hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige gegeben.
Wenigstens seine Arbeit machte er weiter, damit Geld hereinkam. Emilio nahm an, dass er das ganz automatisch tat. Er war mit dem Schinkenmachen aufgewachsen, so wie er selbst. In ihren Familien drehte sich das ganze Leben um Schweinehinterteile, egal was passierte.
Emilio Tava war Inspektor des Consorzio del Prociutto di Parma. Er kümmerte sich um die Produzenten und war der Herr des Stempels, der einen Schinken zu einem Parmaschinken machte. Die fünfzackige Krone des Herzogtums Parma war darauf abgebildet, und das sagte deutlich, welchen Rang diese Delikatesse einnahm.
Emilio stieg in den Aufzug und fuhr bis in die Tiefgarage, in der sein neuer Lancia parkte. Von Weitem schon ließ er die Türsicherung aufspringen, was der Wagen mit einem fröhlichen Blinken anzeigte.
Emilio mochte das, wenn er ihm zuzwinkerte. Er schloss wieder – bliiink. Und öffnete – blink, blink. Er ließ den Blick wohlgefällig über die schnittige Flanke gleiten und stieß einen spitzen Schrei aus. Ein Vorderreifen war platt! Madonna! Er griff nach dem Handy. Kein Empfang. Er rannte nach draußen, rief seine Werkstatt an und wartete.
Seine Tochter hatte gerade die Espressokanne auf den Tisch gestellt, als das Telefon klingelte.
»Pronto.«
»Signor Tava?«
»Si, sono io.«
»Ich hoffe, Sie mussten nicht allzu lange auf Ricardo warten«, erkundigte sich die Männerstimme höflich.
»Nein, er war schnell da. Aber wer ist denn da?«
»Sie kennen mich nicht, Signor Tava. Mein Name ist Paolo Pero, ich möchte mich mit Ihnen unterhalten. Morgen um halb eins, im San Antonio«.
»Aber wieso? Warum wollen Sie sich mit mir treffen?«
»Bis morgen, Signor Tava. Sie haben einen schönen Wagen.« Die Verbindung wurde unterbrochen.
»Wer war das, Papa?«
»Keine Ahnung. Jemand, der mich morgen treffen will. Wahrscheinlich von der Lebensmittelaufsicht oder vom Verband der Schweinezüchter.«
In der Nacht dachte Emilio an den Anruf. Woher wusste der Mann, dass er morgen im Antonio essen würde? Das lag neben dem Hof, den er vor der Mittagspause besuchen wollte, und außer seiner Sekretärin und den Produzenten kannte niemand seine Termine. Und wer wusste von Ricardo, der in der Werkstatt arbeitete?
Ricardo selber kannte keinen Signor Pero, wie er ihm am nächsten Tag versicherte.
Emilio saß nervös an einem Tisch am Fenster und wartete. Das Lokal war gut besetzt und entsprechend der Geräuschpegel.
»Darf ich?«
Emilio sah überrascht zur Seite. »Signor Pero?«
Der Mann nickte und setzte sich auf den Stuhl gegenüber. Er trug einen grauen Anzug und sah aus wie ein Bankier. Gepflegte, schwarze Haare, graue Augen, schmal. »Signor Tava, verzeihen Sie dieses etwas unkonventionelle Rendezvous.« Er lächelte. »Ich möchte Ihnen ein Angebot machen. Nein, warten Sie«, er hob leicht die Hand, als Emilio zum Reden ansetzte. »Hören Sie mir zu. Ich vertrete eine Firma, die sich auf den Export von hochwertigen Schinken und Wurstwaren spezialisiert hat.«
Emilio atmete aus, die Konkurrenz wollte ihn anwerben. Die freie Wirtschaft bemühte sich immer mal wieder um ihn, seine Kenntnisse waren gefragt, aber er hatte bisher die Sicherheit und Ruhe des Consorzio vorgezogen. »Nein, warten Sie. Ich habe kein Interesse, Sie sollten Ihre Zeit nicht verschwenden.«
Pero sprach weiter: »Unser Unternehmen bietet Ihnen das Doppelte Ihres jetzigen Gehaltes, Boni für besondere Stoßzeiten wie Weihnachten und so weiter, jedes Jahr einen neuen Wagen und sehr moderate Arbeitszeiten.«
»Es gibt mehr Fachleute wie mich, die Sie für weniger Geld anwerben können. Warum wollen Sie so viel ausgeben? Jeder Metzgermeister kann die Qualität Ihrer Erzeugnisse prüfen. Danke für Ihr Interesse, aber ich habe nicht vor, meine Stelle im Consorzio aufzugeben.«
Signor Pero nickte verständnisvoll. »Sie haben völlig recht, das sollen Sie auch nicht. Es handelt sich um einen Zweitjob, der Sie sehr wenig Zeit kosten wird.«
»Ich verstehe nicht.«
Signor Pero sah ihm in die Augen. »Sie stempeln ein wenig mehr, das ist alles.«
Emilio brach der Schweiß aus.
»Denken Sie darüber nach. Ich melde mich. Sagte ich schon, dass Sie einen schönen Wagen haben?« Er stand auf und ging.
Emilio hatte den Spaß am Blinken verloren. Die letzten vier Tage war nichts passiert. Kein platter Reifen, kein Telefonanruf. Er zuckte bei jedem Klingeln zusammen. Aber so langsam hoffte er, dass er einem dummen Scherz aufgesessen war. Dass seine Freunde grinsend das Büro stürmten und ihm eine lange Nase drehten. Der fünfte Tag verging, Emilio wurde ruhiger und ließ versuchsweise den Lancia zwinkern. Am sechsten Tag kam der Anruf.
»Geht es Ihnen gut, Signor Tava?« Die höfliche Stimme war unverkennbar.
»Mir geht es ausgezeichnet, danke. Ich habe über Ihr Angebot nachgedacht und muss es leider ablehnen. Auf Wiedersehen, Signor Pero.« Die auswendig gelernten Sätze kamen herausgesprudelt.
Ein bedauerndes Seufzen. »Schade, Signor Tava.«
Eine Woche passierte gar nichts, und als er begann, sich in Sicherheit zu wiegen waren zwei Reifen platt. Er bekam eine SMS mit der höflichen Anfrage, ob er gerne einen neuen Wagen hätte? Er löschte sie sofort.
Zwei weitere Wochen Ruhe verwandelten ihn in ein nervliches Wrack. Jeder Telefonanruf ließ seinen Blutdruck steigen. Er konnte sich nicht mehr auf die Arbeit konzentrieren. Dann war der hintere Kotflügel eingebeult.
Emilio ging zur Polizei. Der Commissario fragte nach Zeugen, Beweisen. Nichts. Das einzig Greifbare, die SMS, war nichtssagend gewesen, bestimmt nicht zurückzuverfolgen und außerdem gelöscht. Jedes Kind konnte unerkannt mit einem Prepaid-Handy in die Erpresserbranche einsteigen.
Emilio schlief schlecht, sein Magen rebellierte. Er vertrug keinen Kaffee mehr, und eine latente Übelkeit plagte ihn. Seine Sekretärin wunderte sich über seine Gereiztheit.
Dann geschah nichts mehr, und nach drei Wochen Ruhe legten sich die Beschwerden, und Emilios Frau schöpfte Hoffnung, ihren alten Mann wiederzubekommen. Emilio fuhr nach der Arbeit zu einem Blumengeschäft, um einen Strauss für sie zu kaufen. Er wusste, wie unausstehlich er in letzter Zeit gewesen war. Aber Maria hatte Verständnis gezeigt und ihn unterstützt. Sie wollte nicht, dass er sich in illegale Machenschaften verwickeln ließ. Und wie es aussah, hatten sie aufgegeben, wer auch immer es war.
Maria nahm ihm die Rosen ab und gab ihm einen Kuss. »Wie schön, danke, caro mio.« Sie sog den wunderbaren Duft ein. »Gianna hat angerufen. Sie ist ziemlich fertig. Ihre Freundin Ariana ist heute ertrunken.«
Nach dem Abendessen rief er seine Schwester an. Sie vermutete, dass Ariana über die Mauer der Fosse gefallen war. Anders konnte sie sich den Unfall nicht erklären. Emilio...
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