Schweitzer Fachinformationen
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FABIO
1
Am Tisch neben mir sitzt ein älteres deutsches Ehepaar. Als der Kellner meinen örtlichen Akzent erkennt, den ich trotz aller Bemühungen nicht unterdrücken kann, zwinkert er mir zu und sagt: »Die sind aus Berlin. Sind vor einem Monat hergezogen.« Er ist ganz begeistert davon, dass es Leute gibt, die von so weit weg hierherkommen, um in diesem Drecksloch zu versauern. Ich frage mich, warum sie sich ausgerechnet Casalfranco ausgesucht haben. Weil hier immer die Sonne scheint? In Berlin haben sie doch bestimmt Solarien. Ich werfe einen Blick auf die beiden. Sie wirken glücklich. Noch.
Mir gefällt es hier nicht. Damit meine ich nicht die Pizzeria, die ist in Ordnung. Nein, ich meine diesen Ort, diese Gegend: Apulien. Ja, natürlich, zu dieser Jahreszeit schlägt einem hier der berauschende Duft von Rosmarin, Zitronen und blühendem Thymian entgegen. Als ich vorhin, an diesem warmen Juniabend, aus dem Taxi gestiegen bin, war ich so überwältigt, dass ich die Augen geschlossen und all das geradezu aufgesogen habe, wie köstlichen Wein bei einem romantischen Abendessen. Doch in Wahrheit ist diese Region eine Venusfalle. Noch drei Wochen, dann hat die Sommersonne alle Gerüche verdampfen lassen und den Boden zu Staub verbrannt, und das wenige Leben, das noch verblieben ist, wird einen Krieg um die letzten Wasserreste führen, die tief in der Erde verborgen sind. Ich habe Casalfranco nicht vertraut, als ich noch hier gelebt habe, und ich vertraue ihm noch weniger, seitdem ich von hier weg bin. Ein rauer, wilder Ort. Ich bin nur für den heutigen Abend zurückgekommen, nur wegen des Paktes. Und ehrlich gesagt bin ich nicht sicher, ob der Pakt noch gilt. Es ist ohnehin ein Wunder, dass er so lange gehalten hat.
Ich sitze an einem Ecktisch, aber nicht an irgendeinem, sondern an unserem Tisch. Er war frei, als ich gekommen bin. Noch bin ich allein mit drei leeren Stühlen, und ich frage mich, ob die anderen auftauchen werden. Neben mir erhebt sich der Holzofen, ein höhlenartiges Maul aus weißen Steinen. Ein pizzaiolo mit dunkelbrauner Haut bearbeitet mit ruckartigen Bewegungen einen Klumpen Teig, ein anderer schiebt eine Pizza in den Ofen, die vor Parmaschinken, Rucola und Parmesanspänen nur so überquillt. Der dunkelbraune Typ kommt mir bekannt vor, ich glaube, er heißt Guido oder Gianni oder so ähnlich. Ich war mit seinem Cousin in einer Klasse.
Ich bin vom Flughafen Brindisi direkt ins American Pizza gekommen (wo die Pizza so italienisch ist, wie es nur geht). Von dem Wagen, den ich bestellt hatte, war - in guter südländischer Tradition - keine Spur zu sehen gewesen. Zwei Stunden später konnte ich endlich einen anderen auftreiben, weshalb ich zu dem Treffen des Paktes, das seit ewigen Zeiten (oder jedenfalls seit unserer Gymnasialzeit) zur selben Stunde beginnt, zwanzig Minuten zu spät kam. Ich rief in der Pension an und gab Bescheid, dass ich erst nach dem Abendessen kommen würde. Ich hatte vergessen, dass in Süditalien eine Verspätung von zwanzig Minuten bedeutet, dass man zwischen zehn Minuten und einer halben Stunde zu früh dran ist. Ich vergesse das jedes Mal. Art meint, ich mache das absichtlich, aber das glaube ich nicht.
Vielleicht ist es mit dem Pakt vorbei.
Sie werden kommen, rede ich mir ein. Sie werden kommen. Während der gesamten Fahrt vom Flughafen hierher habe ich mir das immer wieder vorgesagt. Wir haben einen Pakt. Sie werden ihn nicht brechen. Der Pakt war Arts Idee. Im Grunde ist er eine dumme Spielerei. Letztes Jahr habe ich mir geschworen, nicht mehr mitzumachen, und wenn die Jungs heute nicht auftauchen (wovon ich mittlerweile fast überzeugt bin), werde ich mir wie ein Idiot vorkommen. Mit dem Geld, das mich diese Reise gekostet hat, hätte ich Besseres anfangen können. Der Flug und die Pension waren zwar spottbillig, aber seit einiger Zeit bedeutet »spottbillig« für mich dasselbe wie »sündhaft teuer«. Trotzdem sitze ich jetzt hier.
Ich vertilge eine knoblauchgetränkte Bruschetta, und als ich sie mit einem Schluck Primitivo hinunterspüle (ein kräftiger Roter, der typisch für die Gegend ist), betritt Mauro die Pizzeria. Also kommt wenigstens einer von ihnen. In seinen cremefarbenen Chinos, dem weißen Hemd und dem marineblauen Sakko mimt er den Erwachsenen, und das mit einer Leichtigkeit, von der ich nur träumen kann. Wie es den Regeln des Paktes entspricht, nicke ich ihm zur Begrüßung nur leicht zu, als sähen wir einander regelmäßig. Er grüßt auf dieselbe Weise zurück und kommt an den Tisch. Seit unserem letzten Treffen vor zwei Jahren hat er ein paar Pfunde zugelegt, und seine Frisur ist gepflegter. Beides gefällt mir.
»Wartest du schon lange?«, fragt er und setzt sich.
»Nicht so lange wie beim letzten Mal.«
»Also ein gewisser Fortschritt.«
»Ein winziger, Mauro, ein winziger.«
Er lächelt und schenkt sich Wein ein. »Ich hatte meine Zweifel, ob wir dich wiedersehen würden.«
»Ich auch.«
»Wann bist du angekommen?«
»Gerade eben. Ich bin vom Flughafen direkt hierhergefahren.«
»Und du warst vorher nicht bei Angelo?«
»Er weiß nicht, dass ich hier bin.«
Das Lächeln verschwindet aus Mauros Gesicht. Wir sind zu lange miteinander befreundet, als dass wir unsere Gefühle voreinander verbergen könnten. Ich weiß genau, dass er mich jetzt für einen Mistkerl hält. Er versteht die Beziehung zwischen mir und meinem Vater nicht. Das kann ich ihm nicht verübeln - meistens verstehe ich sie genauso wenig.
»Ich wohne nicht bei ihm«, sage ich zur Erklärung. »Ich habe mir ein Zimmer in einer Pension genommen. Ich reise morgen früh wieder ab, und der kurze Aufenthalt war mir die Scherereien mit meinem Vater nicht wert.« Hör auf damit. Du bist ein erwachsener Mann, du brauchst dich nicht zu rechtfertigen.
»Und wenn du jemandem über den Weg läufst, der dich kennt und ihm davon erzählt?«
»Ich hoffe einfach mal, dass das nicht passiert.«
Mauro hebt die Hände zum Zeichen, dass er aufgibt, und sagt: »Ich bin gestern angekommen.«
»Hast du Art getroffen?«
»Was glaubst du?«
Ich glaube, er hat ihn nicht getroffen. Das käme einem Bruch des Paktes gleich. So lächerlich der Pakt ist, wir nehmen ihn ernst oder haben ihn zumindest bis jetzt immer ernst genommen. Jedenfalls komme ich seinetwegen seit siebzehn Jahren einmal im Jahr nach Casalfranco, mit Ausnahme des letzten Jahres. Was mein achtzigjähriger verwitweter Vater nicht schafft - der Pakt schafft es. Dieses Treffen dürfte unsere Abschiedsvorstellung sein, und ich will das Beste daraus machen.
»Art hat doch einen an der Waffel«, sagt jemand hinter mir.
Mauro steht auf. »Tony!«
Ich drehe mich um. Tony verbeugt sich und macht eine ausladende Geste. »Mittlerweile nennt man mich Der Große Tony.«
Tony ist eher klein, aber muskulös und kräftig gebaut. Er trägt ein ärmelloses Shirt, und auf den ersten Blick ist klar, dass man sich besser nicht mit ihm anlegt. Seine Erscheinung war schon immer Respekt einflößend, und er hat auch schon immer gern den Clown gespielt. Wenn andere Art schikanieren wollten, gaben sie meist nach ein paar halbherzigen Versuchen wieder auf - hauptsächlich wegen Tony, obwohl Art auf seine Weise auch Angst einflößend sein konnte. Wir hatten damit gerechnet, dass Tony Profiboxer werden oder sich als Handlanger bei der Sacra Corona Unita verdingen würde, der regionalen Mafiaorganisation. Er ist dann Chirurg geworden, und zwar ein ziemlich guter. Vor ein paar Monaten ist ihm eine komplizierte Herztransplantation gelungen, was ihm seine fünfzehn Minuten Ruhm beschert hat. Wir haben uns früher oft geirrt. Auch was Art angeht. Wir haben so viel erwartet.
Tony legt mir eine Hand auf die Schulter. »Wie ich sehe, beehrst du uns diesmal mit deiner Anwesenheit.«
»Tut mir leid, dass ich es letztes Jahr nicht geschafft habe.«
»Schäm dich was«, sagt Tony und setzt sich.
»Ich habe von deinem Meisterstück gelesen«, sagt Mauro zu ihm.
»Das war wirklich beeindruckend«, setze ich grinsend hinzu. »Ich dachte immer, du könntest ein Herz nicht von einer Niere unterscheiden.«
»Das war Glück«, erwidert Tony. »Ich halte zufällig ein Herz in der Hand, stolpere, das Ding fliegt in hohem Bogen durch die Luft und landet genau an der richtigen Stelle. Aber unter uns gesagt«, fügt er leise hinzu, »ich bin mir nicht sicher, ob es das Herz eines Menschen war. Hätte auch von einem Hund sein können.«
»Solange es seinen Dienst tut«, meint Mauro.
»Jedenfalls hat der Typ nicht angefangen zu bellen. Noch nicht. Aber wie geht's euch denn so?«
»Alles in Ordnung«, antwortet Mauro.
Das ist maßlos untertrieben. Mauro ist nicht gerade das, was man genügsam nennt. Ganz im Gegenteil. Bei ihm heißt es eher: Wenn du mich nicht kennst, bin ich zu teuer für dich. Mauro lebt in Mailand und ist Anwalt, Fachgebiet Steuern und Finanzen. Er lebt da, wo das Geld ist, und wenn du da lebst, wo das Geld ist, dann lebt früher oder später ein Teil des Geldes bei dir.
»Kann nicht klagen«, sage ich. Was eine glatte Lüge ist.
»Natürlich nicht«, sagt Mauro mit einem Augenzwinkern. Er glaubt, bei mir läuft alles bestens. Kein Wunder, er hat ja keine Ahnung, keiner von ihnen hat eine Ahnung, und heute Abend kann das von mir aus ruhig so bleiben. Morgen habe ich noch genug Zeit, um mir den Scherbenhaufen anzusehen, den mein Leben im Moment darstellt.
Ich sehe auf die Uhr....
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