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Das Besondere an der Regeringsgata ist, daß sie nichts Besonderes aufzuweisen hat. Sie verläuft quer durch das Zentrum von Stockholm, und dennoch hat sie nichts Besonderes an sich. Eine ziemlich anonyme Straße ohne besondere Kennzeichen – so könnte ein Polizist sie beschreiben. Und die dunkelhaarige Frau im Trikot, die durch eine zwar recht ansprechende, aber doch anonyme Haustür in den Spätsommermorgen hinaustrat, dachte wirklich – nachdem sie einen schnellen Blick in beide Richtungen der Straße geworfen hatte: ›Ich wohne in einer ziemlich anonymen Straße ohne besondere Kennzeichen.‹
Sie war nämlich Polizistin.
Sie beugte sich noch einmal vor und schaffte es, ohne heimlich allzusehr mit den Beinen einzuknicken, ihre Joggingschuhe mit den Fingerspitzen zu berühren. Dann lief sie los.
Es war bald halb acht, und es war Dienstag, der vierte September. Das Wochenende war überstanden – sie hatte überlebt –, und jetzt sollte das Leben wieder ins normale Gleis zurückfinden. Durch die Arbeit.
Das Wochenende war überwiegend anstrengend gewesen. Besuch mit dem Kirchenchor der Jakobsgemeinde und einem Kammerorchester irgendwo in Medelpad – sie konnte den Namen des Orts nicht einmal aussprechen – und die übliche Anmache seitens ein paar verwirrter Tenöre. Auch das Konzertprogramm war ihr keineswegs spannend vorgekommen; sonst war die Musik das versöhnliche Element derartiger Veranstaltungen. Doch diesmal war es ein Potpourri fader Italiener aus dem achtzehnten Jahrhundert und einiger mittelmäßiger Schweden aus dem neunzehnten Jahrhundert – ohne jedes Gefühl für die innere Dynamik des Kirchenchors. Pflichtsingen.
Und Pflichtsingen kam ihr in etwa so anregend vor wie Pflichtpolizeiarbeit. Will sagen: wie ein weiterer Schritt, der einen dem Tod näher brachte. Ohne daß man irgend etwas zurückbekam.
Die Frau, die jetzt die wenigen Meter zur Treppe an der Kungsgata joggte, hieß Kerstin Holm, war Kriminalinspektorin bei der ›Spezialeinheit für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter‹ bei der Reichskriminalpolizei, vorübergehend auch als A-Gruppe bekannt, und ging sichtlich auf die Vierzig zu. War jedoch ziemlich fit – wenn sie es selbst hätte sagen sollen.
Doch das tat sie ungern.
Es war ein gräßliches Wort.
Fit.
Slim.
Als würde ein Schwachsinniger über Geschlechtsorgane reden.
Was wahrscheinlich vollkommen korrekt war, wenn man die Herkunft der Wörter bedachte.
In der Regel waren diejenigen, die slim und fit waren – Schwachsinnige. Traurig, aber wahr, dachte sie voller hemmungsloser Vorurteile und legte eine Hand an ihre spielenden Schenkelmuskeln.
Sie kreiselte die wie gewöhnlich nach Urin stinkende Treppe hinunter und unterquerte die Regeringsgata in Höhe der einst vielbeachteten Königstürme. Stockholms Zwillingstürme. Jetzt wußte kaum noch jemand, daß es sie gab. Reste eines Stadtplans aus den fünfziger Jahren. Die Kälte biß ein wenig an den Wangen. Über den Zwillingstürmen kam ihr der vollkommen klarblaue Sommerhimmel typisch schwedisch vor.
Klar und kalt, abgewandt, doch wohlwollend; wohlwollend, doch abgewandt.
Ein sozialdemokratischer Himmel eines abgelaufenen schwedischen Modells.
Sie erreichte Sveavägen. Weil ihr Ampelmännchen grün war, zögerte sie keine Sekunde, in den Wahnsinnsverkehr hinauszustürmen und im Vorbeilaufen mit ihrem Ring leicht über die Fronthaube eines roten Porsche zu kratzen, der diagonal über drei Viertel des Fußgängerüberwegs stand, mit der Schnauze Richtung Yuppie-Reservat Stureplan. Während sie auf der Kungsgata weiterlief, wo gerade der bunte Flickenteppich der Marktstände von Hötorget zusammengenäht wurde, dachte sie, hauptsächlich um zu verdrängen, daß sie soeben ein teures Auto geritzt hatte: Was ist eigentlich aus Porsche geworden? Was ist mit der Automarke passiert, die mehr als irgendeine andere das sozial und menschlich indifferente Streben einer ganzen Generation symbolisiert hatte?
Eigentlich war sie schon mitten in einem Gedankengang, in dem es um ein paar Tenöre ging, die vermutlich nie einsehen würden, daß sie schwul waren, doch jetzt hatte sich die Kombination Porsche/schlechtes Gewissen vorgedrängt.
Die Porscheleute waren Pioniere gewesen. Die Avantgarde des nicht rückgängig zu machenden Geldumschwungs. Jetzt begegnete man ihrer Haltung überall. Jedermann führte sie im Mund.
Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins.
Doch, so einfach war es. Vor knapp einem Jahr, im Zusammenhang mit dem Fall der merkwürdigen Rachebande, der die A-Gruppe den Namen ›Die Erinnyen‹ gegeben hatte, war Kerstin Holm in eine Sackgasse geraten. Sie war das Gefühl nicht mehr losgeworden, daß ihr eine Erneuerung nottat, eine Form von Metamorphose.
Wie konnte man der unerträglichen Leichtigkeit des Seins entkommen?
Wie konnte man zur ursprünglichen Schwere und Kraft der Existenz zurückfinden?
Wie konnte man zurückfinden zu allem, was einmal wesentlich, brennend und existentiell anrührend gewesen war?
Es klang ein wenig trist, das mußte sie zugeben – aber im Grunde machte es – Spaß. Das war der Clou. Ein Zauberstab von Gleichgültigkeit hatte das Dasein berührt. Alles war gleich dick, gleich grau – aber es gab einen Ausweg. Das war ihre feste Überzeugung. Und damals – irgendwann im vergangenen Jahr – glaubte sie tatsächlich, ihn gefunden zu haben.
Den Ausweg.
Doch dann rollte dieser schwierige Fall über sie hinweg wie eine Lawine und riß das alles mit sich. Der schmale Weg war wieder versperrt. Vielleicht hatte es ihn nie gegeben, vielleicht war er nur eine Halluzination, hervorgerufen von ihrem Willen.
Gott?
Na ja, das wäre wohl übertriebener Optimismus. Man konnte IHN ja nicht einfach durch die Kraft des Willens herbeizaubern. So funktionierte es nicht.
Auf jeden Fall war es ihr erspart geblieben, sich mit den widersprüchlichen Thesen der Theologie konfrontiert zu sehen – dafür hatte eine Bande rachsüchtiger Ukrainerinnen gesorgt.
Die Gedanken lebten ihr eigenes Leben, als liefen sie neben ihr die Kungsgata entlang, als hüpften sie in spielerischen Kreisen um ihre Beine, um mit ihren leichten Schritten zu zeigen, wie schwer ihre eigenen waren.
Wahrscheinlich joggte sie deshalb. Sie ging mit ihren Gedanken Gassi wie andere mit ihrem Hund. Sie brauchte sich dabei nicht einmal zu bücken, um mit der über die Hand gestülpten Plastiktüte die Scheiße aufzuheben. Sie lief dem Gestank einfach davon. Und diese Erkenntnis machte die Schritte der Gedanken so schwer, daß sie ihnen davonlaufen konnte und zu sich selbst zurückkehrte.
Ihre Schritte waren nicht mehr so schrecklich schwer. Das regelmäßige Laufen hatte seine Spuren hinterlassen. Sie war sich noch immer nicht darüber im klaren, ob das Laufen nützlich oder eher gesundheitsschädlich war, aber es fiel ihr auf jeden Fall immer leichter. Vielleicht bedeutete das nur, daß man sich schneller auf den Tod zubewegte …
Was scheuerte da an der linken Hand?
Da traf die Sonne ihre Augen.
Spätsommer. Eigentlich schon Herbst, wenn man ehrlich war. Die Sonne war spürbar verblaßt, und der fächelnde Wind hatte eine neue Kühle.
Plötzlich Stopp.
An der Vasagata war die Ampel rot. Auf der Stelle zu laufen war das Schlimmste, was es gab – nichts sah lächerlicher aus. Grotesker Möchtegernprofessionalismus. Den Schenkelmuskeln zuliebe gab sie jedoch nach und hüpfte auf und ab wie ein Dorfidiot auf der Weide.
Gab es eigentlich noch Dorfidioten?
Hatte gut ein Jahrhundert der Urbanisierung sie nicht ausgerottet?
›Stadtidiot‹ klang eher tragisch als komisch, also blieb es bei ›Dorfidiot‹. Hoffentlich war sie selbst immer noch eher komisch als tragisch. Der Stich der Einsamkeit, der Stich des Älterwerdens in Einsamkeit, biß sich nicht fest in ihr, sondern war nach einer Sekunde verflogen. Nein, dachte sie schroff und wedelte mit den Händen wie ein Marathonläufer kurz vor dem Start. Nein, verdammt, ich bin nicht tragisch. Noch nicht. Noch nicht richtig.
In einem gewissen Alter werden alle Menschen tragisch. Bis dahin gedachte sie zu warten.
Und wieso Weide?
Jetzt scheuerte es wieder an ihrer linken Hand, aber gerade in dem Augenblick wurde dem Verstopften schlecht, wie ihre neunjährige Nichte zu sagen pflegte (das rote Männchen wurde grün), und sie folgte dem noch mäßigen Menschenstrom über die Vasagata. Von Norra Bantorget, auf der Höhe der Vasa, schwankten lärmend die Übriggebliebenen einer Junggesellenfete herunter, und sie legte einen Schritt zu. Denn sie zog die Spätsommersonne vor, die ihr draußen auf Kungsbron entgegentreten würde. Und so war es auch. Die Sonne hüllte Klara Strand in einen zauberhaften Morgenschimmer, der die Illusion erzeugte, Schwedens verkehrsreichstes Stück Straße sei ein Schärenidyll.
Der Zauberer Herbst mit seinen leicht durchschaubaren, aber lebensnotwendigen Illusionsnummern.
Es war ein ungewöhnliches Frühjahr gewesen. Mit faszinierender Regelmäßigkeit brachte das Frühjahr der A-Gruppe einen neuen Fall. Es schien, als hielte das ›internationale Verbrechen‹, auf das sie ein Auge haben sollten, seinen Winterschlaf – um im Frühjahr mit frischen Kräften aus der Höhle zu kriechen und, durch die winterliche Untätigkeit maßlos geworden, seine grauenvollsten Taten zu begehen.
Doch in diesem Jahr war es anders gekommen. Die A-Gruppe wartete und wartete, das Frühjahr verlief ohne größere Zwischenfälle, und der Sommer hatte nichts als eine Episode von internationalem...
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