Schweitzer Fachinformationen
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Die Buchstaben des Traums
Über das Blatt hinweg schaut Muidinga auf den Alten. Er hat die Augen geschlossen, scheint eingeschlafen. »Hab ich doch nur für meine Ohren gelesen«, denkt Muidinga. »Aber ich lese ja auch schon seit drei Abenden, ist normal, dass der Alte müde wird«, sieht er ein.
Kindzus Hefte waren zum einzigen Ereignis an ihrem Zufluchtsort geworden. Brennholz sammeln, die Vorräte aus dem Koffer wärmen, Wasser holen - bei allem beeilte sich der Junge. Er wollte nur Zeit haben, um sich in die geheimnisvollen Blätter zu vertiefen. Innerlich fragte Muidinga sich: Wer mochte die Aufzeichnungen verfasst haben? War der Mann im blutgetränkten Hemd, der neben dem Koffer gelegen hatte, dieser Kindzu?
Tuahirs Stimme schreckt ihn auf: »Ich wette, du denkst an diese verdammten Hefte.«
»Woher weißt du das?«
»Was andres tust du ja nicht mehr. Das ärgert mich schon.«
Muidinga streicht über das Heft, als könnte er die Buchstaben fühlen. Noch immer wundert er sich - er kann also lesen? Welche anderen Fähigkeiten besitzt er noch und weiß nur nichts davon?
»Tuahir, nicht böse sein, wenn ich dich Onkel nenne .«
»Sag schon, was willst du?«
»Erzähl mir von meinem Leben. Wer war ich, bevor du mich aufgenommen hast?«
»Onkel, Onkel! Das Wort kann ich gar nicht leiden .«
»Bitte, erzähl.«
»Du hast gar keine Geschichte. Ich hab dich im Lager gefunden, hast mir leidgetan mit deinen spinnendünnen Beinen, die wussten ja nicht mehr, was Gehen ist .«
»Hast du mich denn gekannt, hast du gewusst, wer ich war?«
»Ach was. Warst mir nie in den Blick gekommen. Und jetzt Schluss damit. Lösch das Feuer.«
Der Junge fragt nicht weiter. Aus welchem Grund weigert sich der Alte so beharrlich, ihm die Vergangenheit zu enthüllen? Weiß er wirklich nichts? Geraume Zeit sind sie schon zusammen. Der Alte widmet sich ihm geduldig, mit väterlicher Mütterlichkeit. Doch nie entschlüpft ihm Liebevolles. Reden tut er auch nicht viel, kein überflüssiges Wort.
Tuahir drängt ihn wieder, das Feuer zu löschen. Im Bus ist es gefährlich, führt er an. Aber der Junge widersetzt sich, er fürchtet sich im Dunkeln. Das kleine Feuer hilft, die Furcht zu überwinden. Die Aufzeichnungen des Toten zu lesen ist für ihn ein Vorwand, sich nicht der Dunkelheit auszusetzen. Tuahir setzt seine Entscheidung durch, nun herrscht Finsternis. Die Atemzüge von Schlafenden sind ein beunruhigendes Geräusch. Als erklänge in ihnen eine andere Seele.
Nach einiger Zeit schreckt Muidinga aus dem Schlaf. Etwas Schleimiges schabt ihm über das Gesicht, wie der Leib einer glitschigen Schlange. Ängstlich späht er durch den Liderspalt - ein Ungeheuer leckt ihn. Aus diesem Blickwinkel, von unten nach oben, nimmt das Maul schreckliche Ausmaße an. Als wäre es groß wie der Planet und ganz aus Hörnern. Noch ist die Sonne nicht völlig dem Horizont entstiegen.
In der Dunkelheit ruft Tuahir: »Nicht bewegen, Kleiner.«
Still wartet der Junge ab. Dann offenbart sich seinem Blick das heller werdende Bild - es ist ein Zicklein, das auf seinem Gesicht weidet. Das Ziegentier dreht den Kopf und prüft, ob die Gestalt, die es geleckt hat, verzehrbar ist oder nicht. Tuahir erhebt sich von seinem Sitz und nähert sich katzengleich, setzt behutsam die Füße. Er kommt von hinten heran und gibt dem Tier einen kräftigen Fußtritt. Ein Määäh hallt durch die Nacht.
»Nanu! Das ist ja ein Zicklein!«
»Was dachtest du denn?«
»Ich dachte, es wär eine Hyäne. Hyänen fressen gern Menschennasen.«
Das Zicklein läuft nicht weit. Es springt aus dem Bus, schüttelt den Schwanz. Tuahir scheucht das Tier. Ohne Erfolg.
»Ich jage es weg, Onkel.«
»Gut. Aber nutz die Sache nicht aus, mich wieder Onkel zu nennen.«
Muidinga steht auf. Er steigt aus dem Busgerippe, nimmt einen Stein und wirft nach dem Zicklein. Das Tier trottet davon, schlägt mit Hufen und Köteln aus. Aber es läuft nicht weit.
»Lass sein. Es hat Sehnsucht nach Menschen. Ich krieg auch Sehnsucht nach Zicklein. Hauptsächlich hier im Bauch.«
»Wir sollen es aufessen?«
Das gibt neuen Anlass zum Streit. Muidinga ist dagegen, das Tier zu töten. Das Zicklein schenkt ihm das Gefühl, in einem Dorf zu sein, fern von diesem einsamen Ort. Tatsächlich geschieht das Unglaubwürdige - ein Tier hat ihm das Gefühl für die Menschenfamilie zurückgegeben. Der Alte will das Zicklein unbedingt braten, der Junge solle nur abwarten, bald werde er auch mehr mit dem Bauch denken. Wenn der Hunger zuschlägt, lässt er uns wie Raubtiere schlagen. Muidinga holt eine Schnur aus dem Koffer. »Ich binde das Zicklein in der Nähe an«, verkündet er.
»Nein, nicht in der Nähe. Lass ihm Auslauf, ohne Schnur.«
Der Junge rümpft, zum Ungehorsam entschlossen, die Nase. Das Tier soll nicht weglaufen. Er sieht sich nach einem geeigneten Ast für einen Knoten um. Da wundert er sich - der Baum dort, ein Jambolanapflaumenbaum, stand der schon gestern da? Nein. Wie hätte er einen so auffälligen Baum übersehen können? Und wo ist die kleine Palme, die tags zuvor noch die Umgebung um den Autobus verschönt hat? Verschwunden! Der einzige Baum, der noch an seinem Platz steht, ist der Affenbrotbaum, gegen den der Bus seine Schnauze drückt. Ist das zu glauben, solche Veränderungen in der Landschaft? Muidinga zögert, Tuahir zu fragen. Bestimmt wird er den Mund zu seinem verächtlichen Fischgrinsen verziehen, darauf wartend, dass er den Witz versteht. Ihn ganz gewiss töricht nennen. Oder noch schlimmer - ihn an die Krankheit erinnern, in der er nicht das Leben, aber die Menschenkindheit verlassen hatte. Also beschließt Muidinga, nicht darüber zu sprechen.
Er verabschiedet sich von dem Zicklein und geht um den Obstbaum herum, der ihn so beschäftigt. Er pflückt eine Plaume, betrachtet die schwarze Frucht. Inzwischen ist es Tag geworden, die Schatten schrumpfen auf dem heißen Boden. Die mächtige Sonne, immer wieder dieselbe. Muidinga malt sich aus, wie ein Dorf wäre, eins von früher, voller Farbtöne. Wie die Farbigkeit, die es in Kindzus Dorf gegeben haben musste, bevor der Krieg die Hoffnungen verblassen ließ? Wann würden wieder Farben blühen, das Land Regenbogen malen?
Da strichelt er mit einem kleinen Stock in die staubige Erde: »BLAU«. Den Kopf auf die Schulter geneigt, betrachtet er die Zeichnung. Er kann also auch schreiben? Fast ängstlich mustert er seine Hände. Welcher Mensch steckt in ihm und kommt nach und nach heraus? Wird dieser andere ihn mögen? Heißt er Muidinga? Oder hat er einen anderen Namen, einen portugiesierten, für die Ausweispapiere?
Noch einmal sieht er sich das auf die Straße geschriebene Wort an. Daneben kritzelt er weiter. Ein anderes Wort fällt ihm ein, ohne lange zu überlegen: »LAUB«. Er tritt einen Schritt zurück und prüft sein Werk. Dann denkt er: »Die Farbe Blau hat den richtigen Namen, denn es sind dieselben Buchstaben wie das, was man über den Bäumen sieht.«
Auf einmal dringen Laute aus ferner Zeit zu ihm, ähnlich wie Kindergeschrei in der Schulpause. Der Junge zuckt zusammen - das war eine erste Erinnerung. Bisher konnte er sich auf nichts besinnen, was vor der Krankheit geschehen war. Hals über Kopf läuft er zum Bus.
»Onkel, Onkel! Ich habe mich an meine Schule erinnert!«
Tuahir grinst wie eine Fratze. Er tut, als höre er ihn nicht, obwohl mit gar nichts beschäftigt. Muidinga schüttelt den falschgenannten Onkel.
»Ich hab mich erinnert, wirklich!«
»Woran?«
»An die Stimmen, den Lärm der anderen Kinder.«
»Hör zu, ein für alle Mal: Andere Kinder hat es nie gegeben, überhaupt nichts hat es gegeben. Verstanden? Ich hab dich gefunden, eitrig und verschleimt, als ob du grad so auf die Welt gekommen wärst. Du bist bei mir geboren. Ich bin nicht dein Onkel, ich bin dein Vater.«
Brüsk weggestoßen, stürzt der Kleine auf das Eisengestänge im Bus. Das also war der Grund, warum er nicht Onkel genannt werden wollte? Deshalb also verheimlichte ihm der Alte seine ganze Vergangenheit? Dann lächelt er sanft und richtet sich auf den Knien auf. Sein Körper taumelt geschwächt, er sinkt wieder auf alle viere.
Schnell beugt sich der Alte besorgt über ihn: »Hab ich dir was getan, Kleiner?«
So wie er da hockt, verneint Muidinga nur mit dem Kopf.
Tuahir fragt nach: »Ist dir dann schlecht? Wirst wieder krank?«
Der Junge richtet sich erneut auf und sieht den Alten an. Sein Gesicht ist gelassen, wirkt plötzlich um einiges älter. »Wenn das deine Angst ist, will ich dir sagen: Ich mag dich ganz genauso, als ob du mein richtiger Vater wärst.«
Tuahir wehrt ab, wie in eine Falle gegangen. Und wird ernst. »Steh auf, Junge! Was kriechst du auf der Erde, auf allen vieren wie ein Zicklein?«
Sie gehen auseinander, fassen sich beide schweigend. So bleiben sie gekränkt sitzen, bis plötzlich Lärm aus dem Busch zu ihnen dringt. Der Kleine springt hoch. Er glaubt, da nähern sich Menschen. Will schon loslaufen, will sich ihnen in die Arme werfen, ganz gleich, wer da kommt. Aber Tuahir...
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