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Der Traum des Toten
Ich bin der Tote. Hätte ich ein Kreuz oder eine Marmorplatte, dann stünde darauf: Ermelindo Mucanga. Aber vor fast zwei Jahrzehnten bin ich zusammen mit meinem Namen gestorben. Jahrelang war ich ein Lebender mit Zertifikat, von amtlich beglaubigter Rasse. So recht und redlich ich auch gelebt haben mochte, im Tod wurde ich entrühmt. Meinem Begräbnis fehlte es an Zeremoniell und Tradition. Nicht einmal einen, der mir die Knie winkelte, hatte ich. Der Mensch soll so aus der Welt gehen, wie er sie betreten hat, platzsparend zusammengerollt. Die Toten, sie sollen Rücksicht nehmen und wenig Erde beanspruchen, doch mir blieb ein kleines Grab verwehrt. Meine Grabstätte erstreckte sich über meine ganze Größe, vom Ende bis ans Äußerste. Niemand öffnete mir die Hände, bevor mein Körper erkaltet war. Ich ging, Fluch über die Lebenden bringend, mit geballten Fäusten hinüber. Und mehr noch: Niemand hatte mir das Gesicht zu den Nkuluvumba-Bergen hin gewendet. Wir, die Mucangas, haben Pflichten gegenüber den Einstmaligen. Unsere Toten blicken zu dem Ort, wo die erste Frau, gerundet an Leib und Seele, den Mond übersprang.
Nicht nur ein gebührendes Begräbnis blieb mir versagt. Die Liste der Mängel ging noch weiter: Da ich nichts anderes besaß, begruben sie mich mit meiner Säge und dem Hammer. Das hätten sie nicht tun sollen. In ein Grab legt man niemals Metall hinein. Werkzeuge aus Eisen verrotten langsamer als die Knochen des Verstorbenen. Und schlimmer noch: Alles, was glänzt, zieht den Fluch an. Deshalb besteht die Gefahr, daß ich zu einem jener Toten werde, die der Welt Unheil bringen.
All das geschah, weil ich nicht dort starb, wo ich hingehörte. Ich arbeitete fern von meinem Heimatdorf als Zimmermann bei der Instandsetzung einer Festung der Portugiesen in São Nicolau. Aus der Welt ging ich am Vorabend der Befreiung meines Landes. Ein schlechter Scherz: Mein Land wird geboren, in Fahnen gekleidet, und ich gehe unter die Erde, aus dem Licht verbannt. Vielleicht war das gut, so mußte ich Krieg und Elend nicht miterleben.
Da es keine Begräbniszeremonie gab, blieb ich im Zustand der xipocos, der Seelen, die von Ort zu Unort irren, ich wurde zu einem Toten, der seinen Tod nicht findet. Niemals werde ich in die Sphäre der xicuembos aufsteigen, der endgültig Toten, denen es zusteht, daß die Lebenden sie anrufen und lieben. Ich zähle zu den Verstorbenen, denen man die Abnabelschnur nicht durchtrennt hat, deren keiner gedenkt. Aber ich treibe kein Ungeisterwesen unter den Lebenden. Ich habe das Gefängnis des Grabes akzeptiert und hüte die Ruhe, wie es sich für Verstorbene gehört.
Geholfen hat mir dabei, daß ich neben einem Baum liege. In meiner Heimat nehmen sie einen Canhoeiro oder eine Mafurreira. Aber hier, im Umkreis der Festung, gibt es nichts als einen mickrigen Frangipanibaum. Neben dem haben sie mich beerdigt. Die duftenden Blüten des Frangipani fallen auf mich herab. So oft und so viele, daß ich schon nach ihnen rieche. Lohnt es, mich so zu versüßen? Denn jetzt schnuppert nur noch der Wind an mir. Damit habe ich mich längst abgefunden. Selbst jene, die regelmäßig den Friedhof besuchen, was wissen sie von den Toten? Ängste, Geister und Schatten. Sogar ich, ein altgedienter Toter, kann meine Weisheiten an einer Hand abzählen. Tote träumen nicht, das sage ich euch. Nur in Regennächten. Bestenfalls werden sie geträumt. Und ich, ohne einen Menschen, der je meiner gedachte, von wem werde ich geträumt? Von dem Baum. Nur der Frangipani widmet mir nächtliche Gedanken.
Der Frangipanibaum steht auf der Terrasse einer Kolonialfestung. Diese Terrasse hat viel Geschichte erlebt. Sklaven, Elfenbein und Stoffe sind über sie hinweggegangen. Von ihren Steinen aus haben lusitanische Kanonen auf holländische Schiffe gefeuert. In den letzten Tagen der Kolonialzeit beschloß man, in der Festung Aufständische gefangenzuhalten, die gegen die Portugiesen kämpften. Nach der Unabhängigkeit wurde hier notdürftig ein Altersheim eingerichtet. Mit den Alten verwahrloste das Gebäude. Dann kam der Krieg und grub Totenäcker; doch die Schüsse fielen fern der Festung. Bei Kriegsende blieb das Altersheim als Niemandserbe übrig. Die Zeiten verblichen, alles war durchtränkt von Schweigen und Abwesenheit. Während dieser Unzeit schickte ich mich, ähnlich dem Schatten einer Schlange, in mein Los, daß ich kein Vorfahre war.
Bis eines Tages Schläge und Erschütterungen mich weckten: Jemand machte sich an meinem Grab zu schaffen. Ich dachte erst, es wäre mein Nachbar, der Maulwurf, der ja blind geworden ist, damit er im Dunkeln sehen kann. Doch es war nicht das Wühltier. Schaufeln und Hacken entweihten den heiligen Ort. Wonach stocherten diese Leute, warum belebten sie meinen Tod? Ich horchte ins Gewirr der Stimmen hinein und verstand: Die Regierenden wollten mich zu einem Nationalhelden küren. Sie hüllten mich in Ruhm. Hatten schon in Umlauf gesetzt, ich wäre im Kampf gegen die Kolonialmacht gefallen. Nun wollten sie meine sterblichen Überreste. Vielmehr meine unsterblichen Überreste. Sie brauchten einen Helden, aber keinen beliebigen. Sie benötigten einen von meiner Hautfarbe, meinem Volk und meiner Region. Um Zwietracht zu befrieden, Verbitterung auszugleichen. Sie wollten den Stamm zur Schau stellen, wollten die Schale abschaben, um die Frucht zu zeigen. Die Nation brauchte eine Inszenierung. Oder war es vielleicht umgekehrt? Vom Entbehrenden wurde ich zum Unentbehrlichen. Deshalb öffneten sie mein Grab tief unten im Hof der Festung. Als ich es begriff, war ich ganz verwirrt.
Ich war nie ein Mann vieler Gedanken, bin aber auch kein Toter, der sich auf die Zunge beißt. Diesen Irrtum mußte ich aufklären, andernfalls hätte ich nie mehr Ruhe gefunden. Gestorben war ich, damit ich ein einsamer Geist wurde. Nicht für Feste, Pomp und Tamtam. Außerdem ist ein Held wie ein Heiliger: Niemand liebt ihn wirklich. Man erinnert sich seiner in persönlicher Not und nationaler Bedrängnis. Zu Lebzeiten war ich nicht geliebt worden. Jetzt konnte ich auf solchen Schwindel verzichten.
Die Sache mit dem Chamäleon fiel mir ein. Alle kennen die Sage: Gott schickte das Chamäleon als Boten der Ewigkeit. Das Chamäleon aber trödelte, bevor es den Menschen das Geheimnis des ewigen Lebens brachte. Es trödelte so lange, daß Gott genug Zeit blieb, zu bereuen und einen zweiten Boten mit dem Widerruf zu schicken. Ich bin ein Bote in umgekehrter Richtung: Ich überbringe den Göttern Botschaft von den Menschen. Aber ich bin lange unterwegs. Wenn ich bei den Göttern eintreffe, werden sie das gegenteilige Wort eines anderen schon erhalten haben.
Fest stand, daß ich kein Verlangen nach posthumem Heldentum hatte. Die Auszeichnung mußte verhindert werden, auch wenn es mich Kopf und Ehre kostete. Was konnte ich tun, ein Geist ohne Ansehen und Recht? Erst kam mir der Gedanke, ich könnte in meinem Körper von früher wiedererscheinen, der Zeit, als ich noch lebte und jung und glücklich war. Durch den Nabel zurückkehren und auf der anderen Seite hervorkommen, als leiblicher Geist mit einer Stimme unter den Sterblichen. Doch ein xipoco, der wieder in seinen früheren Körper eintritt, begibt sich in tödlichste Gefahren: Ihn berühren oder von ihm berührt werden genügt, um Herzen zum Überschlagen zu bringen und Unheil zu säen.
Ich bat meinen Gefährten, den Halakavuma, um Rat. Gibt es jemanden, der nichts von den Kräften unseres Pangolin weiß? Dieser Säuger lebt bei den Toten. Zur Zeit des großen Regens kommt er vom Himmel herab. Fällt zur Erde und überbringt der Welt Botschaften von den Ursprüngen des Künftigen. Ich habe einen Pangolin, so wie ich zu Lebzeiten einen Hund hatte. Er rollt sich zu meinen Füßen zusammen, und ich benutze ihn als Kissen. Ich fragte meinen Halakavuma, was ich tun solle.
»Du willst kein Held sein?«
Aber Held wovon, geliebt von wem? Nun, da das Land ein Ruinenacker war, riefen sie nach mir, einem kleinen Zimmermann?
»Hast du denn keine Lust, wieder lebendig zu werden?«
»Nein. Nicht bei dem Zustand, in dem mein Land ist.«
Der Halakavuma drehte sich um sich selbst. Wollte er sein Schwanzende fangen, oder übte er seine Stimme, damit ich ihn besser verstehen konnte? Ein Schuppentier spricht nämlich nicht mit jedem. Er stellte sich auf die Hinterbeine, wie die Leute, die mich bedrängten. Er wies zum Innenhof der Festung:
»Sieh dich um, Ermelindo. Selbst in diesem Schutt wachsen wilde Blumen.«
»Ich will nicht dahin zurück.«
»Aber dies wird für alle Zeit dein Garten sein, zwischen geschundenem Stein und wilden Blumen.«
Die Abschweifungen des Schuppigen verstimmten mich. Ich erinnerte ihn daran, daß ich einen Rat suchte, einen Ausweg. Der Halakavuma wurde ernst und sagte:
»Du, Ermelindo, du mußt erneut sterben.«
Noch einmal? Wo es doch schon beim ersten Mal nicht leicht gewesen war, aus dem Leben zu gehen! Nach der Tradition meiner Familie war das nicht einmal vorstellbar. Mein Großvater zum Beispiel lebte endlos. Bestimmt war er immer noch nicht tot. Er schlief ständig, ein Bein vom Körper weggestreckt, neben gefährlichem Gebüsch. Auf diese Weise gab er sich den Bissen der Schlangen preis. Gift in kleinen Mengen schenkt uns ein längeres Leben. So sprach er. Und wie es schien, gab das Leben ihm recht: Ständig nahm er an...
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