Schweitzer Fachinformationen
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Selig ist der Löwe, den der Mensch isst, und der Löwe wird Mensch werden. Und verflucht sei der Mensch, den der Löwe frisst, und der Löwe wird Mensch werden.
Thomasevangelium
Gott war einmal eine Frau. Bevor er sich weit von seiner Schöpfung zurückzog und als er noch nicht Nungu hieß, glich der jetzige Herr des Universums allen Müttern dieser Welt. Damals, in jener anderen Zeit, sprachen wir dieselbe Sprache wie die Meere, die Erde und der Himmel. Mein Großvater sagt, dieses Reich sei schon lange untergegangen. Aber irgendwo tief in uns steckt noch die Erinnerung an diese ferne Epoche. Erhalten haben sich Illusionen und Gewissheiten, die in unserem Dorf Kulumani von Generation zu Generation weitergegeben werden. Wir alle wissen zum Beispiel, dass der Himmel noch nicht endgültig fertig ist. Es sind die Frauen, die seit Jahrtausenden an diesem grenzenlosen Schleier weben. Wenn ihr Leib sich wölbt, kommt ein Stück Himmel hinzu. Umgekehrt schrumpft dieses Stück des Firmaments wieder, wenn sie ein Kind verlieren.
Vielleicht war das der Grund, warum meine Mutter Hanifa Assulua während der Beerdigung ihrer ältesten Tochter unentwegt die Wolken beobachtete. Meine Schwester Silência war das letzte Opfer der Löwen, die seit ein paar Wochen unser Dorf terrorisierten.
Weil sie verstümmelt war, legte man ihren restlichen Körper auf die linke Seite, den Kopf nach Osten und die Füße nach Süden ausgerichtet. Während der Zeremonie sah es aus, als tanzte unsere Mutter - unzählige Male beugte sie sich über einen von ihr selbst getöpferten Wasserkrug, besprengte die Erde ringsum und trat sie dann im selben Wiegeschritt wie beim Säen mit beiden Füßen fest.
Auf dem Heimweg von der Beerdigung gab es in den Augen meiner armen Mutter zu viel Himmel. Der Weg nach Hause dauerte nur wenige Schritte - der Familienfriedhof lag nicht weit vom Dorf. Hanifa legte am Fluss Lideia eine kurze Pause für das Reinigungsbad ein, während ich weiter hinten die Fußspuren verwischte, die zum Grab führten.
»Schüttelt die Füße ab, der Staub geht gern mit auf den Weg.«
Im heiligen Boden unseres Friedhofs zeigte ein neues Kreuz an, dass wir uns von Muslimen und Heiden unterschieden. Heute weiß ich: Wir legen auf die Toten eine Grabplatte, aber nicht aus Ehrerbietung. Sondern aus Angst. Wir fürchten, sie könnten zurückkehren. Mit der Zeit wird diese Angst stärker als die Sehnsucht.
Alle Angehörigen hielten sich an das Gebot: Für den Rückweg nahmen sie eine ganz andere Strecke als für den Hinweg. Trotzdem ging mir das Bild nicht aus dem Kopf: Silências Leichnam auf Schultern getragen, in weiße Tücher gewickelt, die wippten wie gebrochene Flügel.
Auf der Schwelle unserer Haustür sah Mutter das Haus an, als machte sie ihm Vorwürfe: so lebendig, so alt, so zeitlos. Unser Haus unterschied sich von den Hütten der anderen. Es war aus Zement gebaut, hatte ein Wellblechdach und war mit Wohnzimmer, Schlafzimmern und Küche ausgestattet. Auf dem Fußboden lagen Teppiche, und vor den Fenstern hingen verstaubte Gardinen. Auch wir unterschieden uns von den übrigen Einwohnern von Kulumani. Vor allem meine Mutter Hanifa Assulua war anders, sie war assimiliert und die Tochter von Assimilierten. Auf dem Rückweg von der Beerdigung fiel mir auf, wie schön sie war. Selbst mit kahl geschorenem Kopf, wie es die Trauer verlangt, überstrahlte ihr Gesicht die Traurigkeit. Eine Weile sah sie mich an, als überlegte sie, wie sehr sie mich schätzte. Ich glaubte, in ihrem Blick läge mütterliche Zärtlichkeit. Das war ein Irrtum. Ein anderes Gefühl diktierte ihr die Worte: »Du wirst nie die Trauer einer Mutter erleben.«
»Bitte, Mama, ich habe gerade meine Schwester verloren«, sagte ich.
»Du wirst nie eine Tochter verlieren. Das hat Gott so gewollt.«
Damit drehte sie sich um. Nun barfuß, trat sie durch die Tür und ließ sich aufs Bett sinken. Man kann eine Tochter beerdigen, ja. Das hatte sie schon einmal getan. Doch solch ein Abschied geht nie zu Ende. Niemand verlangt mehr Aufmerksamkeit von einer Mutter als ein totes Kind.
Dann forderte mein Vater die Klageweiber auf, unser Grundstück zu verlassen. Er trat in das Dämmerlicht im Haus, beugte sich über seine Frau und fragte: »Warum hast du dir die Haare abgeschnitten? Sind wir nicht Christen?«
Hanifa zuckte die Achseln. In diesem Augenblick war sie überhaupt nichts. Die Klageweiber waren verstummt, und sie konnte mit solch tiefer Stille nicht umgehen.
»Und was machen wir jetzt, Ntwangu?«
Wie alle Frauen in Kulumani sprach sie ihren Mann mit Ntwangu an. Er hieß Genito Serafim Mpepe. Aus Respekt nannte sie ihn jedoch nie bei seinem Namen. Wir waren assimiliert, ja, aber wir gehörten doch zu sehr zu Kulumani. Unsere Gegenwart war ganz und gar aus der Vergangenheit entstanden. Ihr Mann hatte sich jetzt an sie geschmiegt und sprach in ungewohnt sanftem Ton zu ihr, jedes Wort eine Wolke zur Reparatur des Himmels.
»Was wir jetzt machen? Jetzt, also . jetzt, jetzt leben wir, Frau.«
»Leben, das kann ich nicht mehr, Ntwangu.«
»Niemand kann das. Aber das ist es, was unsere Tochter von uns verlangt: Wir sollen leben.«
»Erzähl mir nicht, was unsere Tochter verlangt. Du hast ihr nie zugehört.«
»Nicht jetzt! Sag das nicht jetzt, Frau.«
»Du hast meine Frage nicht verstanden: Was machen wir mit dem Teil von unserer Tochter, den wir nicht begraben haben?«
»Darüber will ich nicht sprechen. Lass uns schlafen.«
Auf einen Ellbogen gestützt, richtete sie sich halb auf. Die Augen weit aufgerissen wie eine Ertrunkene.
»Aber unsere Silência .«
»Sei still, Frau! Hast du vergessen, dass wir den Namen unserer Tochter nie wieder aussprechen dürfen?«
»Ich muss es wissen: Welche Teile von ihrem Körper haben wir begraben?«
»Ich habe gesagt, du sollst still sein, Frau.«
Ein leichtes Zittern in seiner Stimme - wahrscheinlich kämpfte mein Vater mit inneren Dämonen. Er sah den noch tropfenden blutgetränkten Sack mit den sterblichen Resten seiner Tochter vor sich. Und wieder überkam ihn die Erinnerung, die sich nicht begraben ließ: das Durcheinander von Stimmen und Schreckensschreien, das ihn in der Nacht zuvor geweckt hatte. Genito Mpepe war über den Hof gegangen, er ahnte die Tragödie. Kurz zuvor hatte er gehört, wie die Löwen um das Haus schlichen. Und mit einem Mal hatten sich Löwengebrüll, Schreie und Wehklagen aufgelöst, die Welt war in Trümmer zerfallen, sein Inneres vollkommen entleert. Um so etwas vergessen zu können, darf man nie gelebt haben.
»Das Herz?«, fragte Hanifa weiter.
»Fragst du wieder? Habe ich nicht gesagt, du sollst still sein?«
»Haben wir das Herz begraben? Du weißt genau, was sie mit dem Herz machen .«
Mein Vater atmete tief ein und betrachtete die alten Kleider, die unter der Decke hingen. Er fühlte sich nicht anders als die Kleidungsstücke, schlaff und kraftlos im Leeren. Die Stimme kehrte ihm zurück, nun sanft: »Du musst so denken: Für ein Kind gibt es kein Grab.«
»Ich will nichts hören, ich will hinaus.«
»Hinaus?«
»Ich will nachsehen, was von unserer Tochter noch hier im Busch liegt .«
»Nein. Du gehst nicht aus dem Haus.«
»Daran wird mich niemand hindern.«
Ja, sie wollte hinausgehen, dort suchen, wo es keine Menschenwege mehr gibt, sich die Füße blutig aufreißen, die Augen würden ihr in der Sonne brennen, aber sie musste nach dem suchen, was von Silência, ihrer für immer Kleinen, übrig geblieben war. Mein Vater stellte sich ihr drohend in den Weg: »Ich binde dich mit einem Strick an, so wie man es mit den Tieren macht.«
»Dann binde mich an. Ich bin schon seit Langem ein Tier. Du schläfst schon seit Langem mit einem Tier in deinem Bett .«
Damit war das Thema beendet. Hanifa schlang stumm die Arme um die Beine, als wäre sie zum Einschlafen bereit.
»Willst du auf dem Fußboden schlafen?«, fragte Genito.
Sie streckte den Körper auf dem Boden aus, legte den Kopf auf den Stein. Sie wollte dem Innern der Erde lauschen. Die Frauen von Kulumani kennen Geheimnisse. Sie wissen zum Beispiel, dass die Babys im Mutterleib sich zu einem bestimmten Zeitpunkt drehen. Auf der ganzen Welt drehen sie sich, einer einzigen, tellurischen Stimme gehorchend, um sich selbst. Dasselbe gilt für die Toten: In ein und derselben Nacht - und nur in dieser Nacht - erhalten sie die Anweisung, sich im Leib der Erde umzudrehen. Und dann leuchten über den Gräbern Lichter auf, ein Schwirren von silbrigem Staub. Wer mit dem Ohr auf dem Boden schläft, kann hören, wie sich die Toten umdrehen. Aus diesem Grund - Genito wusste davon nichts - lehnte Hanifa Bett und Kopfkissen ab. Sie lag auf dem Boden und horchte in die Erde. Schon bald würde ihre Tochter sich bemerkbar machen. Und vielleicht würden ihr sogar die Zwillinge Uminha und Igualita, die früher Verstorbenen, Botschaften aus dem Jenseits schicken?
Der Mann legte sich nicht hin, er wusste, dass ihn eine lange Nacht erwartete. Die Erinnerung an den...
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