Schweitzer Fachinformationen
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AUBREY
»In der Unschuld des Reinen verbirgt sich das Paradies. Einmal verloren wird dir nie wieder Einlass gewährt. Bist du bereit, für deine Sünden zu zahlen?«
Die sanfte Frauenstimme aus den Lautsprechern erstarb. Für einen Moment sah ich ins Publikum. Fast jeder Tisch an der Bühne war besetzt. Überall saßen Männer in teuren Anzügen. Sie nippten an ihren Champagnergläsern und musterten mich wie hungrige Tiere. Ich lächelte, blendete ihre Blicke aus und strich den grau karierten Rock meiner Schuluniform zurecht.
Dieser Moment gehörte mir.
Mein Auftritt.
Mein Stück Freiheit für diese Nacht.
Die ersten Töne von Milcks Take me to church erklangen und ich begann, langsam die Hüften im Takt der Musik zu bewegen. Das schummrige Licht der Kerzenleuchter an den mit rotem Samt bespannten Wänden, der Qualm von Zigarren, der die Luft stickig machte, und die Musik ließen mich schweben.
Mit jeder Sekunde verschwand die Welt um mich herum. Wie durch einen Tunnel nahm ich den Applaus und die Rufe der Männer wahr. Ich tanzte, bis Schweiß über meinen Rücken lief und meine Beine zitterten. Als die Musik verblasste, verbeugte ich mich, strich meine blonden Zöpfe zurecht, was mit tosendem Applaus belohnt wurde, und ließ meinen Blick wieder durchs Publikum wandern, in der Hoffnung, sein Gesicht zu sehen. Seit zwei Jahren hoffte ich darauf, ihn hier zu sehen. Seit zwei Jahren vermisste ich ihn. Aber er war nicht hier.
Ich zwang mich zu einem Lächeln, winkte den Zuschauern zu und schwebte von der Bühne.
Zehn Minuten später ließ ich mich an der Bar nieder. Ich trank einen großen Schluck Cola aus dem Glas, das Lucky, der Barkeeper, nach der Show immer für mich bereitstellte, und sah auf mein Handy. Es war ein Uhr.
»Ich hab in einer Stunde Feierabend«, sagte Lucky. »Trink noch was, lass uns quatschen und dann fahr ich dich nach Hause. Mir gefällt nicht, dass du mit dem Bus fährst.«
Lucky war drei Jahre älter als ich und eine Verbindung zwischen der realen und meiner Welt. Schon deswegen mochte ich ihn. Ich mochte seine knallblauen Haare, sein schiefes Lächeln und seinen verkorksten Humor.
Wie gerne hätte ich sein Angebot angenommen, aber mir blieb keine Stunde.
Ich trank die Cola aus und glitt vom Barhocker. »Ich komme klar.« Ich beugte mich über die Theke, küsste seine Wange und lächelte, obwohl mir nicht danach zumute war. »Ich mag das Busfahren.«
»Du bist echt merkwürdig, Aubrey.« Lucky musterte mich mit einem nachdenklichen Blick, der silberne Ring in seiner rechten Braue funkelte wie ein Diamant im Kerzenschein.
»Was hast du gegen -«
»Süße.« Jemand gab mir einen Klaps auf den Hintern.
Ich schoss herum und schlug die Hand des Mannes weg. »Finger weg.«
Lucky kam hinter der Theke hervor, wollte dazwischengehen, aber ich schüttelte den Kopf, ohne den grauhaarigen Typen vor mir aus den Augen zu lassen. »Schon gut, ich habe das im Griff.« Ich sah dem Mann in die Augen, ein Schleier von Alkohol lag über ihnen. »Wenn Sie mich noch einmal anfassen, schneide ich Ihnen die Finger ab, haben wir uns verstanden?«
»Ich wollte nicht . Die Show war klasse, Kleine und ich -«
»Haben wir uns verstanden?«
»Entschuldigung.«
»Das ist ein Burlesque-Klub, keine schmierige Stripbar.
Wenn Sie grapschen wollen, gehen Sie auf den Markt. Die Melonen sollen ziemlich prall sein.«
Hinter der Theke hörte ich Lucky lachen. »Amen Schwester.«
Ohne ein weiteres Wort ging der Mann an mir vorbei, zog seine Brieftasche hervor und legte - mit einem entschuldigenden Blick über die Schulter - einige Scheine auf die Bar, ehe er den Klub verließ.
Lucky nahm das Geld, zählte es und riss die Augen auf. »Du bist wie eines dieser Schoßhündchen. Klein und bissig.« Er hielt mir die Scheine unter die Nase. »Beeindruckend, fünfzig Dollar für einen verbalen Tritt in die Eier. Mario sollte dich als Türsteher einstellen.«
Einen Moment lang überlegte ich, das Geld zu nehmen, aber Lucky lebte in einem Ein-Zimmer-Apartment und finanzierte sich das Studium, indem er Drinks im Milk and Blush servierte. Er besaß nicht viel Geld, aber er war glücklich.
Ich schüttelte den Kopf und schob seine Hand zurück. »Behalt du es, ich habe heute genug verdient.«
Bescheuerte Ironie.
Allein meine Handtasche von Balenciaga kostete mehr als die Miete für sein Apartment. Trotzdem brauchte ich jeden Cent, den ich im Milk and Blush verdiente, denn ohne Geld konnte ich meinen Plan vergessen. Dad würde mir mein Vorhaben nicht nur ausreden wollen, er würde versuchen, mich mit aller Macht davon abzuhalten, und mir Steine in den Weg legen.
Aber wie alle hier musste auch Lucky nichts davon wissen. Für ihn war ich einfach Aubrey, das blonde Mädchen, das nachts tanzte, alleine durch die Stadt fuhr und rote Chucks zur Schuluniform trug.
Er musterte mich nachdenklich und steckte die Scheine zögerlich in seine Hosentasche. »Ich revanchiere mich.«
»Bring mir einfach das nächste Mal einen Burger mit.«
Noch immer etwas verlegen, nickte er und wechselte das Thema. »Hat Mario dich schon gefragt?«
»Hat er mich was gefragt?«
»Katja und Lacey bekommen jetzt das Doppelte. Nicht schlecht für ein paar Minuten Nippel zeigen.«
Ich lachte, nahm meine hellbraune Hängetasche von der Theke und hängte sie über eine Schulter. »Mario riskiert schon genug für mich. Er wird mich nicht fragen und ich würde es nie machen.«
Mario, der Besitzer des Milk and Blush, hatte mich ohne viele Fragen eingestellt, obwohl er wusste, wessen Tochter ich war.
Lucky zuckte mit den Schultern, sein schiefes Lächeln spendete etwas Trost und für einen Moment fühlte ich mich zugehörig. »Ist wahrscheinlich besser so.« Er ließ einen Blick über meine roten Chucks, grauen Kniestrümpfe und den passenden Rock wandern. »Die alten Säcke stehen auf die Schulmädchennummer.«
Schulmädchen. Fast hätte ich gelacht. Wäre zu schön, um wahr zu sein.
»Ich muss los, wir sehen uns morgen.«
»Pass auf dich auf, Kleine.«
Ich hob die Hand zum Abschied und warf einen Blick auf Candy. Sie schwebte an einem Seil, das über der Bühne hing, und winkte dem Publikum zu, während ihre knallroten Lippen mit ihrem Korsett um die Wette strahlten.
Selbst hier bekam ich eine Sonderbehandlung. Während die anderen Mädchen die extravaganten Nummern bekamen, bestand mein Auftritt darin, in meiner Schuluniform die Hüften im Takt der Musik zu schwingen. Ja nichts Gewagtes oder zu Ausgefallenes. Mario konnte nicht riskieren, dass ich mich während der Arbeit verletzte oder Dad von meinem Job erfuhr.
Ich seufzte und verließ das Milk and Blush.
Als ich den Gehweg betrat, legte ich den Kopf in den Nacken und atmete tief durch.
In der Luft lag der Duft von bevorstehendem Regen und Herbstlaub. Nur noch vereinzelt fuhren Wagen durch die Straßen. Die roten Lampen ihrer Rücklichter und die Leuchtreklamen der Klubs gegenüber erhellten die Dunkelheit und ich blieb kurz stehen, um mich zu sammeln, wie ich es immer tat, wenn meine Scheinwelt mit der Realität kollidierte.
Mein Haar roch nach Zigaretten, meine Füße taten weh vom Tanzen und in meinen Ohren dröhnte noch immer Musik, aber ich war glücklich.
Dieses Gefühl konnte er mir nicht wegnehmen, dieser Moment gehörte mir alleine.
Ich zog die graue Jacke meiner Schuluniform dichter an meinen Oberkörper und setzte mich in Bewegung. Bis zur Bushaltestelle waren es nur ein paar Meter. Ich bog nach rechts um die Ecke und lief ein Stück an der Hauptstraße entlang. Ein Scheppern ließ mich zusammenschrecken. Ich fuhr herum, entdeckte eine Katze, die auf einer umgestürzten Mülltonne balancierte, und verzog den Mund. Meine Aktion Dario gegenüber war nicht nur unfair, sondern auch dumm gewesen. Seitdem ich vor vier Wochen die Gerüchte über die Skulls im Internet gestreut hatte, erschrak ich bei jeder Kleinigkeit. Ich hatte behauptet, dass sie Mädchen gegen ihren Willen anfassten, dass sie einen Laden überfallen hatten und andere Dinge, auf die ich nicht stolz war. Aber das war nicht das Schlimmste. Die Enttäuschung darüber, dass er nicht aufkreuzte, quälte mich, denn ich kannte Dario und hatte gehofft, dass ihn meine Provokation hervorlocken würde.
Ich erreichte die Haltestelle, stellte mich unter und zog Der rote Engel, eines meiner Lieblingsbücher, aus der Tasche. Als mich fünf Minuten später Scheinwerfer blendeten, stieg ich in den Bus. Ich legte die Hände in den Schoß und sah aus dem Fenster.
Die Leuchtreklamen der Bars spiegelten sich im Glas, als verspotteten sie mich. Als wollten sie...
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