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Edinburgh
Als Darwin im trüben Dämmerlicht seiner Kajüte erwachte, brauchte er eine ganze Weile, bis er wusste, wo er war. Für einen kurzen Moment wähnte er sich im Haus seiner Familie in Shrewsbury und war sich sogar sicher, seinen Bruder Erasmus im Nebenzimmer schnarchen zu hören. Doch dann bemerkte er entsetzt, dass der gesamte Schlafraum nicht nur unablässig von einer Seite zur anderen kippte, sondern sich zwischendurch auch immer wieder steil aufrichtete, um nach einer kurzen, bewegungslosen Pause scheinbar ins Bodenlose zu stürzen. Um ihn herum war ein fortwährendes Ächzen, Jaulen, Wimmern und Knacken. Man hätte meinen können, man befinde sich inmitten eines Waldes, bei heftigem Sturm, der Bäume aneinander scheuern ließ und den einen oder anderen mit lautem Krachen in Stücke brach.
Für ein paar Sekunden kehrte die Erinnerung wieder. Seiner Sache sicher war er sich aber erst, als er gewahr wurde, dass er nicht in einem gewöhnlichen Bett, sondern in einer unbequemen Hängematte lag. Darin pendelte er gleichförmig hin und her und kam, wenn er nach rechts schwang, der holzgetäfelten Wand des Raumes so nahe, dass er von Zeit zu Zeit mit einem dröhnenden Rums dagegenschlug.
Er versuchte, die Augen ein wenig weiter zu öffnen, doch der jäh einschießende Schwindel zwang ihn, sie rasch wieder zuzukneifen. Immerhin hatte der kurze Blick genügt, um undeutlich einen blechernen Eimer zu erkennen, den eine gnädige Seele neben seinem Lager bereitgestellt hatte. Er strengte sich an, den richtigen Zeitpunkt abzupassen, und nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es ihm, trotz des Aufruhrs in seinem Inneren halbwegs gezielt hineinzuspucken. Das erschöpfte ihn so sehr, dass er sich ermattet zurücksinken ließ und schon wieder eingeschlafen war, bevor der säuerliche Gestank, der im Nu den Raum ausfüllte, ihn daran hindern konnte.
Als er das nächste Mal erwachte - es mochten Stunden vergangen sein, vielleicht auch Tage -, fühlte er sich ein wenig wohler. Seine Eingeweide schienen wieder in etwa dort zu liegen, wo sie hingehörten. Und als er zur rußigen Decke hinaufsah, war da kein lästiges Drehgefühl mehr, das ihn zwang, die Augen zu schließen. Es gelang ihm sogar, mit dem Blick eine Zeit lang eine im Zickzack über die Bretterwand krabbelnde Fliege zu verfolgen, ohne dass ihm übel wurde. Er sah zum Eimer unter sich hinab und erkannte, dass er geleert worden war. Auch den Boden hatte jemand gesäubert, ohne dass er davon etwas mitbekommen hatte. Er fröstelte, tastete nach seiner Wolldecke und zog sie sich unters Kinn.
Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er schrecklichen Durst hatte. Sein Mund fühlte sich an wie ausgedörrt, die pelzige Zunge klebte am Gaumen. Doch eine Kanne mit Wasser oder gar Tee war nirgends zu sehen. Er wartete, bis er mit seiner Hängematte der rechten Wand so nahe kam, dass er sie berühren konnte, und schlug einige Male kraftlos dagegen. Doch sofort begriff er, dass das lächerliche Klopfen, das er damit auslöste, im allgemeinen Ächzen des Schiffes vollkommen unterging.
Zum Glück erschien wenig später Stokes' massiger Kopf im Türspalt. Einen Augenblick lang wurde Darwin sich schamhaft bewusst, dass er den Zimmergenossen mindestens eine Nacht, aber vielleicht auch länger, seiner Schlaf- und Arbeitsstätte beraubt hatte. Doch das vergaß er sofort wieder, als Stokes sich breit grinsend erkundigte, wie es dem Herrn gehe, ob er etwas benötige und wie es vor allem mit Essen und Trinken stehe.
»Wasser«, krächzte Darwin und fügte, von der eigenen Stimme zutiefst erschrocken, im Flüsterton hinzu: »Und wenn's geht, ein paar Rosinen.«
Stokes nickte wortlos, schob mit der Zunge einen Batzen Kautabak von einer Wangentasche in die andere und war im selben Moment schon wieder verschwunden. Gleich darauf kehrte er mit einem metallenen Krug zurück. Er fasste Darwin, der immerhin sechs Fuß maß und keineswegs zierlich gebaut war, um die Schultern und richtete ihn in seiner Matte auf, als sei er eine Strohpuppe. Dann hielt er ihm das Gefäß an die Lippen. Sorgfältig achtete er darauf, dass sein Patient der Gier nach Flüssigkeit nicht hemmungslos nachgab, sondern den warmen Tee schön langsam, Schluck für Schluck, zu sich nahm. Dann griff er in die Tasche seiner Hose, zog einen fleckigen Stoffbeutel hervor und öffnete ihn vorsichtig. Während er daraus ein paar dunkle Früchte in seine schwielige Hand fallen ließ, erkundigte er sich, warum es denn gerade Rosinen sein müssten.
»Mein Vater«, antwortete Darwin matt. »Er ist Arzt. Wenn uns Kindern schlecht war, gab er uns immer Rosinen zu essen. Und manchmal ein bisschen trockenen Zwieback. Mehr nicht. Das sei am verträglichsten. Und wirklich: meistens haben wir's bei uns behalten.«
Stokes lächelte und wischte Darwins Gesicht, während dieser kaute und schluckte, mit einem feuchten Lappen ab. Dann ließ er ihn noch einmal kurz am Tee nippen. »Das reicht fürs Erste.«
Darwin nickte schwach. Zu gerne hätte er den Krug in einem Zug geleert, hätte das süße Getränk, ohne abzusetzen, in sich hineingeschüttet. Aber er wusste, dass Stokes recht hatte. Für einen kurzen Moment ging ihm durch den Kopf, dass er auf der vor ihm liegenden Reise mit Sicherheit noch öfter gezwungen sein würde, sich zu beherrschen und seine körperlichen Bedürfnisse wichtigeren Dingen unterzuordnen. Er war sich nicht sicher, ob das ein tröstlicher Gedanke war. Ermattet ließ er sich zurücksinken, schloss die Augen und dachte an seinen Vater.
Im Grunde hatte er ihn sein Leben lang enttäuscht. Das lag vielleicht schlicht daran, dass er anders war als seine fünf Geschwister. Ja, sogar vollkommen anders als sein einziger, fünf Jahre älterer Bruder Erasmus, den er stets nur »Ras« nannte. Während der gehorsam über seinen Schulbüchern saß, lateinische Vokabeln büffelte und Geschichtszahlen auswendig lernte, streifte er selbst von morgens bis abends durch die heimischen Wälder und Wiesen, unablässig auf der Suche nach Steinen, Vogelfedern, Muscheln, Blüten und allem möglichen Getier, ganz besonders Käfern. Käfer faszinierten ihn, seit er denken konnte. Er lauerte ihnen auf dem Waldboden auf, wühlte im Moos, stocherte in Baumhöhlen, unter Steinen und morschen Stümpfen, riss ihretwegen Mengen mehr oder minder loser Rinde von den Bäumen, krabbelte auf Knien durch Getreidefelder und steckte seine Nase in jede Felsspalte, die er erreichen konnte. Zudem stellte er in der morschen Gartenhütte einige offene Glasschalen mit allerlei Substanzen auf, von denen er gehört hatte, ihr Geruch locke die Krabbler an.
Einmal schob er vorsichtig die rissige Borke einer Weide beiseite, als er darunter auch gleich ein schillerndes Insekt entdeckte. Ein schneller, aber behutsamer Griff, und schon war der Käfer sein Eigen. Später würde er ihn vorsichtig abtöten, seine Gattung und Art bestimmen und ihn in einem der zahlreichen Holzkästchen unterbringen, in denen er seine Sammlung, säuberlich sortiert und katalogisiert, aufbewahrte. Die flachen Kästen baute für ihn in großer Zahl und ohne Wissen seines Vaters der Gärtner zusammen, dem er dafür hin und wieder einen Shilling zusteckte. Als er gerade seine rechte Hand um den Käfer geschlossen hatte, sah er aus den Augenwinkeln ein zweites, deutlich größeres und mit längeren Fühlern ausgestattetes Krabbeltier. Rasch hatte er dieses mit der freien Linken gepackt und war soeben im Begriff, seine Beute in das dafür bestimmte Leinensäckchen gleiten zu lassen, als unter der losen Rinde ein dritter Käfer hervorkroch, noch prächtiger als die ersten zwei und vor allem von einer Art, von der er bisher nur ein einziges, unscheinbares Exemplar besaß.
Was nun? Beide Hände waren belegt, und der Prachtkrabbler war drauf und dran, sich aus dem Staub zu machen. Ohne lange zu überlegen, steckte er das Tier aus der linken Hand in den Mund und schickte sich gerade an, seine Finger um das flüchtende dritte Insekt zu schließen, als ihn ein stechender Schmerz zusammenzucken ließ. Das Mistvieh auf seiner Zunge hatte etwas Gallbitteres und Scharfes ausgestoßen, das sich rasend schnell über Zahnfleisch und Gaumen ausbreitete und ihm unweigerlich die Schleimhaut verätzen würde, wenn er es nicht schnell wieder herausbekäme. Von Ekel geschüttelt, spie er den Käfer in hohem Bogen aus und versuchte durch mehrmaliges, kräftiges Spucken, den widerwärtigen Geschmack loszuwerden. Dabei öffnete er ungewollt auch die rechte Hand, was das darin gefangene Insekt umgehend ausnutzte, um sich eilig davonzumachen. Natürlich hatte sich inzwischen auch der schillernde Prachtkäfer verkrochen. So stand er nun da, spuckend und würgend, Tränen in den Augen und gänzlich ohne Beute.
Ein andermal verfolgte er einen grün-braun gefleckten Käfer über eine mit Gras und Kräutern bewachsene Hochfläche, auf der dichte Büsche immer wieder dafür sorgten, dass das Tier für kurze Zeit aus seinem Blickfeld verschwand. Mehrfach setzte er zum Sprung an, um es endlich zu packen, doch jedes Mal entzog es sich mit einem abrupten Haken seinem Zugriff. Das ging so eine ganze Weile, bis sie an eine Kante kamen, an der die Hochfläche jäh in einen steilen Hang abfiel, der unten in einem sumpfigen Bach endete. Einen Moment lang schien der Käfer nicht zu wissen, ob er den riskanten Abstieg wagen sollte, und blieb unschlüssig stehen. Das war Charles' letzte Chance. Mit einem weiten Satz schnellte er nach vorne und hätte das noch immer bewegungslos ausharrende Insekt...
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