Kapitel 2
"Wer verzweifelt und ohne jede Hoffnung ist, für den mag eine kleine Wendung im Leben wie ein Wunder erscheinen."
Es geschah an einem Tag, da ich mich wie so oft in die Wälder der Umgebung meines Dorfes begeben hatte, um dem Klang der Natur zu lauschen. Hier fühlte ich mich, wie bereits angedeutet, sicher und behütet. Hier wähnte ich mich allein und eins mit der Schöpfung. Ich erlebte gerade den achten Lenz meines Lebens. Wie so oft hatte ich mich auf eine kleine Lichtung ins weiche, von der Sonne erwärmte Grass gelegt und schaute hinauf zu den flauschig weichen Wolken, die lautlos über den blauen Himmel zogen. In dieser Stille flog ich hinauf zu ihnen, um mit ihnen an einen unbekannten Ort zu reisen, als mitten in diese Stille eine menschliche Stimme erklang und mich aus meinen Überlegungen herausriss.
"Junge, da hast du dir aber einen recht schönen Platz zur Ruhe ausgesucht", vernahm ich. Ich schaute mich irritiert um und mein Auge erfasste die Gestalt einer mir fremden Person. Schon warnte mich mein Verstand. War diese Gestalt etwa eines jener sagenumwobenen Waldgeister, von denen im Ort immer wieder die Rede war? Ich erinnerte mich an die Geschichten meiner Eltern, in denen sie oft auf die verschiedensten Arten eine Rolle spielten. Mal waren es böse Geister, die nur den Schaden der Menschen im Sinn hatten und deren Seelen verdammt bis in alle Ewigkeit für die Sünden des Lebens auf Erden wandeln mussten. Mal waren es wohlgesonnene Gestalten, die jenen zur Hilfe eilten, die im Leben schweres Leid erfahren mussten. Ich konnte daher nur hoffen, dass diese Person eine von den Letzteren war. Ich schaute sie zunächst nur stumm an und war mir nicht schlüssig, wie ich reagieren sollte.
"Gott zum Gruß", antwortete ich letztendlich und überwand so meine Ängste. "Ja, ihr habt insofern Recht, das ich hier einen Platz gefunden habe, der mir die Schöpfung unseres Herrn auf wunderbare Weise offenbart", gab ich weiter zu verstehen. Der oder die Unbekannte sah mich erstaunt an.
"Ihr wisst euch wahrlich auszudrücken und preist die Schöpfung", hörte ich. "Wenn ich euch ansehe, dann bemerke ich, dass ihr noch recht jung an Jahren seid. Daher verwundert mich doch eure Sprachwahl. Sagt, seid ihr ein Herr von edlem Geblüt?" Ich schüttelte den Kopf.
"Nein, ich bin weder von jenem Stande noch sonst ein gebildeter Mensch. Vielmehr ist es so, dass ich versuche, auf diese Weise meinen körperlichen Mangel zu verbergen." Die immer noch unbekannte Gestalt sah mich fragend an. Da ich Vertrauen zu ihr fasste, fuhr ich fort und berichtete in einer kurzen Zusammenfassung über mein bisheriges Leben. Die Gestalt hörte nur stumm zu. Als ich endete, sah sie mich fragend an.
"Gestattet, dass ich nähertrete und mich euch offenbare?", fragte sie. Ich nickte zustimmend. Nun erst konnte ich den Unbekannten genauer betrachten. Dass es ein Mann war, erkannte ich nun, da er nähertrat, an seinen von einem langen grauen Bart umsäumten Gesicht, das eindeutig darauf schließen ließ, dass er wohl schon viele Jahre alt war. Seine Kleidung schien weiter darauf hinzudeuten, dass er wohl einem besseren Stand angehörte, da sie sehr edel und elegant, wenn auch außergewöhnlich war. Neben einer weiten, gestreiften Hose trug er eine rote Jacke, die seltsam bestickt und ebenso außergewöhnlich wie er selbst war. Das gebräunte Gesicht mit tiefen Falten um die Augen herum, ließen mich annehmen, dass der Mann bereits viel erlebt hatte. In seinen Augen sah ich einen besonderen Glanz und eine gütige Wärme, die mich völlig irritierten.
"Man nennt mich Kunibert von Bärenstein", vernahm ich nun seine angenehme Stimme.
"Dann seid ihr also von Adel?"
Er lachte auf. "Wahrlich, das bin ich nicht, doch mein Herr, dem ich diene, ist der Ansicht, dass ich mich so nennen sollte", gab er zu verstehen.
"Dann seid ihr also im Dienste einer königlichen oder zumindest höher gestellten Person?", fragte ich weiter nach.
Wieder lachte der Mann. "So könnte man es durchaus sehen", bestätigte er. Nun erwachte meine Neugier, denn mochte der Mann mir noch völlig unbekannt sein, so spürte ich doch, dass er mir wohlgesonnen war. Ich ahnte damals nicht, dass er der Schlüssel zu jener Tür meines zukünftigen Lebens und meiner Bestimmung sein würde. "Tatsächlich diene ich einem Herren, der so wie ihr euch ausdrückt, von Adel ist. Jedoch bin ich kein Ritter oder sonstiger Kämpe, sondern vielmehr diene ich ihm und seinem Hofstaat, als dass ich zur erbaulichen und vergnüglichen Stimmung bei Hofe beitrage." Ich sah ihn verwundert an.
"Wie darf ich das verstehen, werter Kunibert von Bärenstein?"
"Ich bin der Narr des Grafen zu Frankenberg, und daher trage ich auch dieses besondere Gewand, welches euch augenscheinlich verwundert. Da mein Herr in der Nähe lagert, gestattete er mir, mich ein wenig hier umzusehen. Zudem bin ich, wie ihr selbst, gerne in der Natur unterwegs, doch hätte ich keinesfalls damit gerechnet, hier auf euch zu treffen. Dennoch gestehe ich, dass es mir ein Vergnügen bereitet, dass mir das Schicksal eure Bekanntschaft erlaubt." Nun war ich es, der lachte.
"Ob es ein Vergnügen ist, wird sich zeigen. Wie ihr seht, bin ich nicht mehr als ein nichtsnutziger Mensch, den das Schicksal gezeichnet hat. Das ist ja auch der Grund, warum ich die Einsamkeit suche, um mich so vor jenen zu verbergen, die mir Leid antun würden, nur weil ich so bin, wie ich bin."
"Ich verstehe euch zu gut, doch bitte nennt mir zunächst euren Namen, damit ich euch so ansprechen kann, wie es sich gehört."
"Ich bin Michael, benannt nach dem besagten Erzengel. Mehr braucht ihr nicht zu wissen, da alles andere ohne jeden Belang ist."
"Dann also Michael. Es freut mich, dass ich euch hier treffe. Zugleich bemerke ich, dass ihr mit dem Leben hadert, das euch auferlegt wurde. Ihr seht euch als Nichtsnutz und unfähig, das Leben so anzunehmen, wie es euch zusteht."
"Da habt ihr wohl Recht, Kunibert, denn was kann ein Mensch wie ich schon vom Leben erwarten?"
"Alles und noch viel mehr!", warf er laut ein. "Ihr glaubt, es sei euer Schicksal, dass ihr durch eure körperliche Beeinträchtigung zu nichts taugt, doch spüre ich, dass ihr es gerne ändern würdet. Ihr wisst nur nicht wie."
"Dem stimme ich zu, doch sehe keine Perspektive und Sinn in meinem Leben. Ich lebe und vegetiere dahin, während die Zeit und damit mein irdisches Dasein an mir vorbeizieht."
"Höre ich da Verbitterung in euch?"
"Ja sicher, denn wäre ich als Kind nicht erkrankt, so würde ich heute sicher längst meinem Vater zur Hand gehen und ihm helfen, so gut ich es in meinem Alter kann.".
"Euer Schicksal ist ein anderes, nur habt ihr das noch nicht erkannt. Wie solltet ihr auch, da ihr noch so jung an Jahren seid."
"Welches Schicksal meint ihr?"
"Nun, ich glaube an die Vorsehung und daher wird es kein Zufall sein, dass ich hier auf euch getroffen bin. Mag sein, dass mich diese Vorsehung zu euch führte, um euch jenen Weg zu weisen, der euch eine Welt zeigt, wie ihr sie euch nicht einmal in euren Träumen zu erleben wagt." Nun war ich völlig durcheinander, denn Kuniberts Worte erschienen mir, als würde sich vor meinem geistigen Auge mein eingeschränkter Horizont verändern. Wenn er es wirklich so meinte, wie er es sagte, würde ich mich jenen Mächten beugen, die über mein Leben wachten und mich lenkten. Zugleich war ich noch sehr skeptisch, da ich das Ausmaß der Veränderungen, die sich schlagartig in meinem Leben ergaben, nicht erfassen konnte. Wie sollte ich auch. Kunibert schien meine Gedanken zu erahnen und zu spüren, was mich in diesem Moment bewegte, denn sein Gesicht zeigte ein breites Grinsen. "Lass uns noch einen Moment in Stille hier ruhen. Dann, wenn ich es für angemessen erachte, berichte ich euch von meinen Gedanken.". Ich stimmte dem zu, denn mir wurde bewusst, dass ich wohl am Scheideweg meines Lebens stand. Als er sich hinsetzte, hörte ich plötzlich seltsame Klänge, die augenscheinlich von seiner Kleidung ausgingen. Wieder schaute ich ihn erstaunt an, denn diese Klänge übten eine seltsame Magie auf mich aus, was er sofort bemerkte. Er zeigte auf jene kleinen goldenen Glocken, die sich an den Säumen seiner Hose, als auch am Oberteil befanden.
"Siehst du, sie sind es, die den Klang verbreiten. Als Narr ist es mir gestattet, sie zu tragen, da sie mir helfen, jene Stimmung zu verbreiten, die mein Herr erwünscht. Auch mein Wanderstab und meine Kappe sind mit ihnen versehen, doch habe ich Letztere heute nicht bei mir, da ich mich in dieser Stunde nicht als Diener meines Herrn, sondern vielmehr als Suchender sehe. Zugleich, das sei dir, Michael, schon jetzt anvertraut, ist die Kappe auch mein Schutz vor Strafe, falls ich es mit meinen Scherzen mal wieder übertreibe." Er lachte laut auf, denn schien er wohl an einen seiner Streiche gerade zu denken. Kunibert, das gebe ich gerne zu, gefiel mir von Sekunde mehr und mehr. Ob es an meiner kindlichen Naivität oder einfach an dem behaglichen Gefühl seiner Nähe lag, vermag ich nicht mehr zu sagen. Wohl aber war mir schon damals klar, dass sich mein Leben verändern würde. Ich ahnte nicht, wie sehr und auch nicht, dass sich Kuniberts Aussage über die Wunder dieser Welt, die ich erleben würde, bewahrheiteten. Ich war eben noch...