Zweites Kapitel. Joseph und Julie
I.
Verleumder haben Napoleon der Unmenschlichkeit gegen seine Brüder und der verbrecherischen Beziehungen zu seinen Schwestern beschuldigt. Das eine wie das andere ist haltlos. Die letzte Behauptung ist nichts als skandalöse Verleumdung, deren Quelle in den Schmähschriften des Engländers Goldsmith und in den Memoiren der Rémusat zu suchen ist. Goldsmith schrieb nur zu dem Zwecke, den Kaiser der Franzosen zu beschmutzen, und Frau von Rémusat hat nicht einen gültigen Beweis für ihre Behauptungen. Andere Pamphlete während der Restauration trugen dazu bei, diese Gerüchte zu verdichten.
Napoleon war bisweilen streng und unerbittlich gegen seine Geschwister, aber das hatten sie sich selbst zuzuschreiben. Es herrschte nicht allein die größte Uneinigkeit unter ihnen, sondern jeder wollte tun, was ihm beliebte. Alle hielten sich für geborene Könige, die keines Lehrmeisters bedurften. Alle glaubten durch sich selbst, durch ihr eigenes Genie etwas geworden zu sein. Keins von den Geschwistern Napoleons, Pauline vielleicht ausgenommen, wußte dem Bruder später Dank für die Wohltaten, die er sie hatte genießen lassen. Bisweilen waren diese Wohltaten allerdings mit Wermutstropfen vermischt, aber Napoleon konnte nur durch energische Mittel zu jener Größe gelangen, die er erreicht hat. Ehe er jedoch gezwungen war, der Staatspolitik gewisse Familienrücksichten zu opfern, zeigte er sich stets als sorgender, hilfsbereiter Bruder. Immer lag ihm das Wohl der Familie am meisten am Herzen. Später hatte er mehr Not, »seine Familie zu regieren als sein ganzes Reich«.
Übrigens zeigte Napoleon gerade gegen seine Brüder bisweilen eine Schwäche, eine Nachsicht, die kaum begreiflich scheinen. Man kann sie nur durch den bei ihm stark ausgeprägten korsischen Familiensinn begründen. Als er infolge seiner Stellung und seines Ansehens das Haupt der Familie wurde, wollte er auch seine Brüder zu der Höhe erheben, auf der er selbst stand. Er verschaffte ihnen Ämter, Titel und Einfluß. Sein Genie trug ihn bis zum höchsten Gipfel des Ruhmes und der Macht. Da zertrümmerte er alte, auf den Überlieferungen der Geschlechter aufgebaute Throne und setzte seine Brüder als Herrscher ein. Sie hatten das weder durch ihre Fähigkeiten noch durch Taten verdient. Das wußte ein Mann wie Napoleon wohl. Er erkannte, wie unfähig zum Herrschen alle seine Brüder waren. Aber sie waren seine Brüder! Als solche hielt er sie gleichberechtigt mit sich selbst. Als solche durften sie nicht in irgendeinem weniger glänzenden Amte verdunkeln! Er glaubte jedoch keineswegs, ihnen Ruheposten verschaffen zu müssen. Im Gegenteil, er verlangte, daß sie etwas leisteten, wenn es auch nur vor den Augen der Welt war. Daher seine Strenge, die oft an Tyrannei grenzte. Seine große Erfahrung in allen politischen, diplomatischen und militärischen Angelegenheiten, sein Scharfblick und sein Genie hätten ihnen zur Richtschnur dienen müssen; aber seine Ratschläge wurden fast nie oder schlecht befolgt.
Alle Geschwister Napoleons, ohne Ausnahme, sorgten dafür, daß er sich über sie zu beklagen hatte. Nur mit Gewalt vermochte er auf sie zu wirken und seine Macht aufrecht zu erhalten. Wieviel Gutes hat er ihnen dennoch getan! Wie hat er für sie gesorgt, ohne einen egoistischen Zweck dabei zu verfolgen! Denn man kann einen jungen Leutnant, der von seinem Sold einen seiner Brüder erzieht, schließlich nicht der Selbstsucht bezichtigen! Ebensowenig kann man den Bruder herzlos nennen, der in seinen Jugendbriefen mit so großer Fürsorge und Zuneigung für Joseph und Lucien eintritt. Und später ist Napoleons Leben mit seiner Familie ein glänzender Beweis, daß er unaufhörlich bemüht war, die Einigkeit und Zufriedenheit unter den Seinen aufrecht zu erhalten. Aber er stieß fortwährend auf Widerstand, Neid, Habsucht und Selbstüberhebung. Und je höher er seine Geschwister erhob, desto anspruchsvoller, desto gehässiger, uneiniger und undankbarer wurden sie, desto mehr stellten sie ihn bloß. Viele Zeitgenossen Napoleons, wie Miot de Mélito, Girardin, Caulaincourt, Rapp, Bourrienne, Stendhal, Roederer, die Avrillon und andere, sind sich darüber einig, daß es für den Kaiser besser gewesen wäre, er hätte keine Familie gehabt.
Für die Familienmitglieder selbst erschien sein ungeheures Genie, dem allein sie ihren Glanz und ihr Emporkommen verdankten, eine Last und ein Hemmnis. Und wahrlich, ihr »Ich« mußte an der Seite eines solchen Übermenschen, der alles an sich riß, der nur seine Kraft, seine Macht und seine Größe gelten ließ, verschwinden! Wären sie aber etwas geworden, wenn Napoleon nicht gewesen wäre? Vielleicht hätte sich aus diesem Familienkreise nur Lucien hervorgehoben; die andern wären alle in Mittelmäßigkeit versunken.
Napoleon wurde von seinen Geschwistern jederzeit nur als Mittel zum Zweck betrachtet. War dieser erreicht, dann wuchsen ihnen die Schwingen. Keines von ihnen ist jemals mit seinem Los zufrieden gewesen. Joseph beklagt sich, König sein zu müssen. Er würde sich aber auch beschwert haben, wenn Napoleon ihn übergangen hätte. Louis spielt sich als Märtyrer auf, weil Napoleon seine Regierungsweise nicht billigt. Lucien jammert, daß er keine königliche Rolle spielt, steckt aber bei jeder Gelegenheit den Republikaner heraus und will sich durchaus nicht den Wünschen des mächtigen Bruders fügen. Jérôme mault über eine zu geringe Apanage; wäre sie jedoch auch zehnmal größer gewesen, sie hätte doch niemals seiner Verschwendungssucht genügt. Elisa ist ihr Herzogtum zu beschränkt; sie hält sich ihrem Bruder an Genie für ebenbürtig und fähig, ein großes Reich zu regieren. Karoline war das Königreich Neapel ebenfalls zu klein. Pauline endlich entrüstete sich, daß Napoleon ihr wegen ihrer genußsüchtigen und exzentrischen Lebensweise Vorstellungen machte.
Alle diese Bonaparte aber besaßen außerordentlichen Ehrgeiz, großes Selbstbewußtsein, oder besser, große Einbildungskraft. Nichts setzte sie in Erstaunen, nichts imponierte ihnen. Alle hielten sich berechtigt, die höchsten Ämter und Würden zu bekleiden. War eine Sprosse auf der Leiter des Ruhmes erreicht, so strebten sie bereits nach der nächsten. Keiner aber wollte anerkennen, daß er seine Macht und sein Ansehen nur Napoleon verdankte! Weder Joseph noch Louis noch Lucien gedenken in ihren Erinnerungen auch nur ein einziges Mal der Gunst des Bruders, die sie emporhob zu jener Größe, zu der sie gelangten. Im Gegenteil: Napoleon steht in ihren Augen weit tiefer als sie, die alles können und alle Fähigkeiten vereinen. Er ist weder ein guter Redner noch ein guter Schriftsteller noch ein Philosoph; er ist nur ein guter Soldat! Nach ihrer Ansicht ist das herzlich wenig.
Napoleon hingegen erhebt seine Brüder über ihre Verdienste; er beweist ihnen Nachsicht und Geduld. Weder gegen seine Schwäger noch gegen Eugen Beauharnais noch gegen seine Marschälle war er so blind wie gegen seine Brüder. Alle anderen mußten sich ihre Stellungen durch Fähigkeiten, Taten und Verdienste erwerben; seine Brüder erhielten sie, ohne daß sie etwas geleistet hatten! Sie konnten nur ihr außerordentliches Selbstbewußtsein in die Waagschale werfen. Das aber kam ihnen vortrefflich zustatten. Es setzte sie mit Leichtigkeit über alle Schwierigkeiten ihrer Stellungen hinweg. Es ließ sie sich in alle Lebenslagen mit schlangenartiger Geschmeidigkeit finden. In ihren Bedürfnissen, in ihrer Überzeugung, daß alles, was ihnen zufloß, von Natur aus und von Rechts wegen ihnen gebührte, waren sie wahrhafte Fürsten!
Den Typus der Brüder Napoleons hat Marmont mit der Beschreibung von Josephs Charakter vortrefflich getroffen. »Ich fand in ihm«, schreibt der Marschall, »stets dieselben Gefühle, dieselbe Liebenswürdigkeit. Aber man macht sich keinen Begriff, bis zu welchem Grade er seine Sorglosigkeit, die Schlaffheit seiner Sitten trieb. Die Sinnlichkeit beherrschte ihn vollkommen. Er vergaß ganz und gar seine Abkunft und fühlte nicht im geringsten das Bedürfnis, die Gunst, mit der ihn Fortuna auszeichnete, zu rechtfertigen. Er schien auf dem Throne geboren zu sein und war ganz damit beschäftigt, die Freuden, die eine solche Stellung mit sich bringt, auszukosten. Man hätte ihn für den schwachen Sprößling einer verbrauchten Dynastie halten können. Er, der noch vor einigen Jahren das Anerbieten der Königswürde als eine Erniedrigung betrachtete, hatte Fortschritte gemacht!
Joseph, der doch kein dummer Mann war, gab sich einem derartigen Wahne hin, daß er sich für einen sehr bedeutenden Feldherrn hielt. Er, der weder Neigung noch Verständnis für den Soldatenberuf hatte! Er, der nicht einmal die elementarsten Kenntnisse besaß, der nicht die einfachsten Anwendungen der Kriegskunst verstand! Er sprach oft von seinen militärischen Fähigkeiten und wagte zu behaupten, der Kaiser habe ihm nur das Kommando in Spanien entzogen, weil er neidisch auf ihn gewesen sei! Solche Behauptungen entschlüpften ihm mehr als einmal ... Joseph beklagte sich oft über seinen Bruder, kritisierte dessen Politik, dessen Widerspruch, sowie die Zuchtlosigkeit, die Napoleon in den spanischen Heeren herrschen lasse. Darin hatte Joseph ja recht. Aber es war zu komisch, ihn, der nur im Schatten der französischen Fahne ruhig schlafen konnte, sagen zu hören: »In der Armee werde ich auch ohne meinen Bruder König von Spanien sein, und das ganze Reich wird mich als solchen anerkennen!« - So waren sie alle, die Brüder Napoleons! Beginnen wir mit eben diesem Bruder, der in der Geschichte des französischen Kaiserreichs berufen war, eine Rolle zu spielen.
Joseph wurde am 7. Januar 1768 in Corte auf Korsika geboren, war also nur anderthalb Jahre älter als sein Bruder Napoleon. Lange Zeit war er dem Jüngeren der...