11EINFÜHRUNG
Das offene Geheimnis und der große weiße Wal
Der frischgebackene Vizepräsident für den weltweiten Vertrieb schließt seine Bürotür und lässt sich in seinen Sessel fallen. Er hat jahrelang auf diese Beförderung hingearbeitet, und alle - das Führungsteam, seine Familie, seine Kollegen, seine Freunde - sind begeistert. Doch statt der Freude und des Gefühls, etwas erreicht zu haben, das er erwartet und verdient hat, ist er besorgt, angespannt, abgelenkt und hat schlichtweg Angst. Er wird das Gefühl nicht los, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sein neues Team und seine Vorgesetzten merken, dass er der Aufgabe vielleicht nicht gewachsen ist.
Dieses Szenario findet sich jeden Tag überall am Arbeitsplatz wieder. Sicherlich variieren die Details von Person zu Person, aber eine große Anzahl von uns ist bei der Arbeit zutiefst ängstlich. Manchmal sogar die, von denen man es am wenigsten erwarten würde. Der Multimillionär und CEO eines berühmten Technologieunternehmens. Der Serienunternehmer, der ständig in den Medien zu sehen ist. Der Leiter in der Schule Ihres Kindes. Der Prominente in den sozialen Medien mit einer treuen Fangemeinde. Der Inhaber eines Kleinunternehmens, der nebenan wohnt.
Und möglicherweise auch Sie.
Kämpfen Sie manchmal mit Sorgen und sogar Angst vor all den Dingen, die schief gehen könnten? Sind Sie ehrgeizig und zielstrebig - aber Sie grübeln auch, zerbrechen sich den Kopf und haben Schwierigkeiten, die Dinge loszulassen? Haben Sie manchmal das Gefühl, dass Ihnen das Wasser bis zum Hals steht und dass andere jeden Tag herausfinden werden, dass Sie nur so tun, als ob? Sind Sie 12jemand, der bestimmte Situationen um jeden Preis vermeidet, wie zum Beispiel das Fliegen oder das Sprechen in der Öffentlichkeit, selbst wenn das bedeutet, dass Sie Chancen verpassen oder in Ihrer Karriere nicht vorankommen? Ertappen Sie sich manchmal dabei, dass Sie Mikromanagement betreiben oder die Arbeit anderer überarbeiten, weil sie nicht Ihren Vorstellungen entspricht? Dies sind nur einige der vielen Möglichkeiten, wie sich Ängste bei der Arbeit zeigen und unser Wohlbefinden und unsere Effektivität beeinträchtigen können.
Die American Psychological Association unterscheidet zwischen Angst und Furcht, und die Unterscheidung ist sehr aufschlussreich: Während Furcht »eine angemessene, gegenwartsorientierte und kurzlebige Reaktion auf eine klar identifizierbare und spezifische Bedrohung« ist, ist Angst »eine zukunftsorientierte, langanhaltende Reaktion, die sich auf eine diffuse Bedrohung konzentriert.« Angst kann noch lange nach einer bedrohlichen Situation auftreten oder hat nicht einmal eine greifbare Ursache. Manchmal scheint sie rational zu sein, ein anderes Mal kommt sie aus dem Nichts und ergibt überhaupt keinen Sinn.
Diejenigen von uns, die wie ich von Natur aus ängstlich sind, haben das, was Psychologen als wesensimmanente Angst bezeichnen: Sie ist einfach Teil von uns wie ein Persönlichkeitsmerkmal. Alltägliche Stressfaktoren können sich bedrohlich anfühlen, und so ist es nicht verwunderlich, dass viele von uns alles tun, um das zu vermeiden, was uns ängstigt. Ständige oder übermäßige Sorgen sind ein typisches Merkmal problematischer Ängste, und wenn diese Gefühle anhaltend sind und unsere täglichen Aktivitäten - Arbeit, Schularbeiten, Beziehungen - beeinträchtigen, weisen sie wahrscheinlich auf eine sogenannte generalisierte Angststörung hin. Angst kann auch ein Symptom anderer psychischer Erkrankungen sein und tritt häufig zusammen mit Depressionen, Zwangsstörungen, Drogenkonsum, Lernstörungen wie Legasthenie oder Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Persönlichkeitsstörungen auf.
Weltweit leiden schätzungsweise 284 Millionen Menschen an Angstzuständen, was sie zur weltweit häufigsten psychischen Erkrankung macht.1 Die tatsächliche Zahl ist sicherlich weitaus höher, da diese Statistiken nur die Menschen erfassen, die eine Behandlung in Anspruch nahmen und eine Diagnose erhalten haben. Neue Daten zeigen, dass wir mehr Angst haben als je zuvor. Eine Studie von Mental Health America hat ergeben, dass die Zahl der Menschen, die wegen Angst und Depression Hilfe suchen, von 2019 bis 2020 um 93 Prozent gestiegen ist.2 Die Covid-19-Pandemie hat das Problem vergrößert, führten doch die Folgen der Pandemie zu nur noch mehr Angst.3 In den Vereinigten Staaten waren die Angst- und Depressionsraten zwischen April 2020 und August 2021 etwa viermal so hoch wie im Jahr 2019, und bis zu 38 Prozent der Amerikaner gaben an, im Jahr 132021 Symptome von Angst verspürt zu haben. Ich war erstaunt, als die wichtigste Gesundheitsbehörde der Vereinigten Staaten allen Erwachsenen unter 65 Jahren routinemäßige Angstscreenings empfahl. Ich scherze oft, dass man nicht aufpasst, wenn man nicht ängstlich ist. Wir leben in einer Zeit, in der stündlich mehrere globale und lokale Krisen über unsere Bildschirme flimmern und der Erhalt von Lebensqualität teuer und stressig ist.
Untersuchungen zur psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz zeichnen ein ähnliches Bild. Der Bericht »Mental Health at Work 2021« von Mind Share Partners zeigt, dass 76 Prozent der Vollzeitbeschäftigten in den USA angaben, im vergangenen Jahr mindestens ein Symptom einer psychischen Erkrankung verspürt zu haben - gegenüber 59 Prozent im Jahr 2019. Am häufigsten wurden Angstzustände, Depressionen und Burnout genannt.4
Der Versuch, die Anforderungen der Arbeit mit den Bedürfnissen unserer psychischen Gesundheit in Einklang zu bringen, führt häufig dazu, dass sowohl die Leistung als auch die psychische Gesundheit leiden. Unkontrollierte Ängste können uns Energie rauben, unsere Konzentration beeinträchtigen und uns dazu bringen, schlechte, überstürzte und unüberlegte Entscheidungen zu treffen. Sie kann dazu führen, dass wir uns auf die falschen Dinge konzentrieren, die Tatsachen verdrehen und voreilige Schlüsse ziehen, und sie kann sogar zu körperlichen Schmerzen und Verletzungen führen. In extremeren Situationen kann die Angst uns in zwanghaften, negativen Gedankenschleifen gefangen halten, die uns daran hindern, voranzukommen. Sie kann dazu führen, dass wir uns so sehr mit beängstigenden Worst-Case-Szenarien beschäftigen, dass wir und damit auch diejenigen, die wir führen, erstarren. Kurz gesagt, unkontrollierte Angst kann dazu führen, dass Führungskräfte weniger effektiv sind, was die Leistung der ihnen unterstellten Mitarbeiter und des gesamten Unternehmens beeinträchtigen kann. Vor allem aber macht sie uns unglücklich - und macht das Leben damit schwieriger.
Aber es gibt auch eine andere Seite der Angst, nämlich die, was passieren kann, wenn wir lernen, mit ihr umzugehen und ihre verborgenen Gaben zu nutzen.
Ich bin eine Führungskraft mit chronischen, klinischen Ängsten. Ich habe in der halsabschneiderischen Umgebung von Präsidentschaftspolitik, in amerikanischen Konzernen und in Tech-Startups gearbeitet. Ich habe vier Marketingabteilungen in Unternehmen geleitet und zwei Abteilungen von Grund auf neu aufgebaut. Ich bin auch Unternehmerin: 2011 gründete ich mein Beratungsunternehmen Women Online und verkaufte es 2021. Mein Harvard Business Review Podcast (jetzt auf LinkedIn), The Anxious Achiever, ist einer der besten Business-Podcasts der Welt, was mich verblüfft. Ich schreibe Bücher und Artikel und halte 14zahlreiche Vorträge zum Thema Führung für Fortune-500-Unternehmen, die amerikanische Regierung und Eliteuniversitäten wie die Harvard University und das Massachusetts Institute of Technology. Außerdem bin ich verheiratet und habe drei Kinder. Und das alles, während ich mit klinischen Angstzuständen und regelmäßigen Anfällen von lähmender Depression zu kämpfen hatte.
Ich weiß, dass es da draußen viele Menschen gibt, die so sind wie ich - ehrgeizige, karriereorientierte Fachleute, die erfolgreich sind, obwohl sie mit psychischen Krankheiten zu kämpfen haben. Wenn Sie dieses Buch lesen, identifizieren Sie sich wahrscheinlich mit dieser Gruppe, und der Begriff »ängstlicher Leistungsträger« trifft wahrscheinlich auf Sie zu. Ängstliche Leistungsträger sind selten ruhig, weder körperlich noch geistig. Wir sind zielorientiert, zukunftsorientiert und nehmen unsere Arbeit sehr ernst. Wir sind geschätzte Teammitglieder, weil wir wie selbstverständlich die Extrameile gehen und man uns nichts weniger als das Beste zutraut. Wir schaffen außergewöhnliche Ergebnisse, weil wir uns stets bemühen, überdurchschnittliche Leistungen zu erbringen und bei jeder uns selbst gestellten Herausforderung erfolgreich zu sein.
Natürlich ist es furchtbar, sich nur wegen der Angst so anzustrengen, und es ist keine Art zu leben. Aber weil Angst eine Emotion ist - ein innerer Zustand, mit dem man lernen kann umzugehen - kann man ein Leben aufbauen, das nicht von ihr beherrscht wird. Sie können sogar lernen, sich auf diese komplizierte Emotion zu verlassen und sie als loyalen Partner und Führungsvorteil zu nutzen.
Denn das Schöne daran, ein ängstlicher Leistungsträger zu sein, ist, dass wir Berge versetzen können, wenn wir unseren Antrieb mit einem größeren Ziel in Einklang bringen. Wenn wir unsere Ängste in den Griff bekommen und die persönliche Belastung verringern können, können wir unsere Arbeit mit unglaublicher Energie und Einfallsreichtum angehen. Wir können die Visionäre sein, die einen mutigen Wandel herbeiführen, die Führungskräfte, für die die Menschen arbeiten wollen. Selbst wenn wir dabei Angst empfinden.
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