Wäre das Schlangengeschlecht fähig zu weinen, hätten jetzt Tränen in den Augen der Kobra gestanden - in Augen, von denen die Menschen behaupteten, es läge nur Grabeskälte darin. Bittere Tränen würden es sein, dick flüssig wie zwei Tropfen von goldbraunem Harz. Doch weinen konnte sie nicht, darum zeigte sie ihre abgrund tiefe Trauer so, wie es bereits ihre Ahnen und Urahnen getan hatten: Sie reckte ihren Körper empor, spreizte mit aller Macht den Hut und zischte zornig. Aus ihrer Kehle drang jener grässliche Laut, der jedem, der ihresgleichen zu kränken wagte, den alsbaldigen Tod verhieß ...
Die Kobra hatte noch nicht entschieden, wohin ihr Weg führen würde. Sie wusste nur: Die Wüste war nicht länger ihr Zuhause. Der Wunsch, zu erfahren, was hinter dem elenden Zustand ihrer sandigen Heimat steckte, vielleicht sogar etwas dagegen zu unternehmen und das Verderben aufzuhalten, trieb sie unaufhaltsam der lauten, ab stoßenden Zusammenrottung von Menschen entgegen. Sie spürte, sie würde sich ihrem Drang nach der Wahrheit nicht entgegenstemmen können, und während sie weiter ihr unnachahmliches Muster in den Sand zeichnete, fand sie schließlich ihr Ziel: die alte Stadt mit ihren düsteren, feuchten Kellern. Sollte es ihr nicht gelingen zu erfahren, was sie wissen wollte, so würden sich ihr wenigstens genug Gelegenheiten bieten, diese Schwachköpfe für ihre Taten zu bestrafen, durch die sie nicht nur die Wüste, sondern auch sich selbst zerstörten...
Um sich auf den Markt zu begeben, verließ die Kobra zunächst die Stadt und kroch zu den uralten Ruinen, die aus der Zeit der alten Griechen, der Römer oder ihrer blutrünstigen Feinde - der stolzen Herrscher dieser Weiten, der orientalischen Sultane des Mittelalters - übriggeblieben waren. Ehe sie sich unter den Menschen zeigte, musste sie ihre Haut abwerfen und lernen, wie ein Mensch zu laufen. Das war keine leichte Aufgabe, erst recht nach dem erschöpfenden Überwintern in den modrigen Kellern. Um unter den Menschen zu leben und keinen Verdacht zu erwecken, musste sie sich ihnen wenigstens äußerlich anverwandeln. Hier, in den Ruinen, wo die Kobra sich sicher fühlte, wand sie sich heftig und rieb sich an den Saxaulsträuchern und Dornbüschen, und als die Haut nachgab, stützte sie sich auf ihren Schwanz, reckte den Kopf in die Höhe und schlüpfte aus der für ihren Leib zu eng gewordenen Hülle, schwankte und... nahm menschliche Gestalt an.
Der hagere hochaufgeschossene Mann, der urplötzlich an diesem verlassenen Ort erschien, stand eine Weile unschlüssig da. Er hatte ein rundes Gesicht mit breitem Kinn und vorspringendem Unterkiefer, war fast kahl, und die eng sitzenden kleinen runden Augen unter den spärlichen Brauen blickten durchdringend kalt. Sein Körper vollführte seltsam schlängelnde Bewegungen, als wüsste er nicht, ob und wohin der erste Schritt zu tun sei.
Nachdem seine Beine, soeben erst dem Körper ent wachsen, Standfestigkeit erlangt hatten, blickte der frisch geschlüpfte Menschling sich um, lüftete seinen schicken Hut, fuhr sich einige Male mit den langen Fingern über den kümmerlich bewachsenen Schädel, schloss die Knöpfe des nagelneuen Jacketts und lockerte den ungewohnten Knoten der teuren ausländischen Krawatte, damit diese ihn nicht erwürgte. Um die unangenehmen Empfindungen in seinem Leib endgültig loszuwerden, zwang er sich, die Füße fester aufzusetzen und bewegte sich unauffällig vorwärts. Schon bald flößte sein Gang, trotz seiner Unbeholfenheit, den wenigen Passanten ein unbewusstes Vertrauen ein. Dieser elegante Herr, sorgfältig nach der neuesten Mode gekleidet, mit sorgenvoll aufmerksamer Miene, wirkte wie ein Mann mit großer Zukunft. Zweifellos würden sich genügend Willige finden, die diesen energischen, zielstrebigen Menschen unterstützten, der so offensichtlich von der Richtigkeit des ein geschlagenen Weges überzeugt war. Nicht wenige pflegen starken und ehrgeizigen Menschen vorsichtshalber umgehend ihre Hilfe anzubieten und sie nach Kräften zu fördern, auch wenn sie instinktiv eine tiefe Abscheu gegen ihren Protegé hegen, weil eine dunkle Ahnung ihnen sagt: So einer kann seinen Wohltäter jederzeit erwürgen, aus Langeweile oder einer Nichtigkeit wegen. Sie tun das vermutlich, weil sie wissen, dass Typen von der Sorte mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit die Höhen der Macht erklimmen, wo sie ungehindert und unter beliebigen politischen Konstellationen ihren dunklen Geschäften nach gehen ...