Narzissmus
Oder: Zum Neoliberalismus der Psychosomatik
Wenn es nach dem Neoliberalismus geht, dann steht uns allen frei, im wirtschaftlichen Wettbewerb die gleichen Ziele zu erreichen. Reale Ungleichheiten der Akteuren hätten da keinen bedeutsamen Einfluss.
Indirekt verbindet sich damit die radikale Zuweisung von Eigenverantwortung. Diejenigen, denen es auf dieser Welt schlecht geht, haben nur das Verkehrte getan. Auch im Bereich psychischer und psychosomatischer Störungen gibt es solche Analyse-Muster, die gewissermaßen in einem "Selbst schuld!" münden.
Ein Begriff, der hier treue Dienste leistet, ist der "Narzissmus", der Eigenschaften wie übertriebene Selbstbezogenheit, Neid, Intriganten- und Schmarotzertum, Verlogenheit und vieles mehr bezeichnen soll. Zweifellos existieren solche Verhaltensmuster. Jedoch erzählt die Geschichte von Narziss, dem Namensgeber zu diesem Begriff - in sieben verschiedenen Varianten - das blanke Gegenteil: Ein schöner 16-Jähriger leidet einerseits an der Vergänglichkeit geliebter Angehöriger (4 Versionen). Andererseits wird er von einer hohlen Tussi und zwei Kerlen sexuell bedrängt, die auf die nachvollziehbare Abweisung mit psychischer oder physischer Gewalt reagieren (3 Versionen).
Im Austausch zwischen dem englischen Sexualforscher Havelock Ellis und dem deutschen Psychiater Paul Näcke entsteht in den Jahren 1898/1899 der Begriff "Narcismus". Der zunächst noch unklar, aber eher harmlos gebrauchte Begriff nimmt unter Sigmund Freud dann 1914 eine groteske Wende, mit der in ihm geradezu systematisch eine Opfer-Beschuldigung eingebaut wird.
Beispiele für entsprechende Wirkungen in der Praxis:
- Ein völlig unschuldiges Mobbing-Opfer kommt auf die Anklagebank.
- In einem Sorgerechtsstreit wird das Kind einer gesunden Mutter "in Obhut" genommen und über Jahre hinweg in Einrichtungen verbracht.
- Ein skandalöser Therapeutenfehler - "sexueller Missbrauch" in der Therapie, der mit dem Suizid des Opfers und einer Klage gegen den Therapeuten endet - wird der Betroffenen selbst angelastet.
- Eine Präsentation dieser Fallgeschichte bei einer Fortbildung bringt ca. eintausend Fachleute zum Lachen - bis heute ist der O-Ton im Handel.
- u.s.w.
Das neoliberale "Selbst schuld!" erhält durch die Diagnose "narzisstisch" womöglich seinen "wissenschaftlichen" Segen. Ein subtiles Falschwort, das sowohl die Wirklichkeit des Mythos als auch die Wirklichkeit des Lebens ins Gegenteil zu verkehren versteht. Es wird Zeit, dies zu durchschauen.
Sprache
Verlagsort
Zielgruppe
Für Beruf und Forschung
Für Menschen, die sich für die Weisheit alter Mythen interessieren und verstehen wollen, wie leicht solche Geschichten missverstanden werden können. Die Entstehung des Begriffes "Narzissmus" illustriert eine Verselbständigung und Verfestigung solcher Verständnislosigkeit, wie sie auch in dem Märchen von "Des Kaisers neue Kleider" treffend beschrieben ist.
Das Buch soll die Augen öffnen für die oft vielschichtige und geradezu widersprüchliche Bedeutung antiker Begriffe (Dialektik). Es soll gleichzeitig sensibel machen für die Folgen unklarer Begriffe.
In psychotherapeutischen Begriffen ist zum Teil eine Opferbeschuldigung angelegt, die in der Anwendung die Gefahr systematischer Verschlechterungseffekte mit sich bringt.
Das Buch wirbt für die Abschaffung des Begriffes "Narzissmus" und plädiert für eine möglichst konkrete und präzise Beschreibung störender Verhaltensmuster.
Produkt-Hinweis
Fadenheftung
Card cover
mit Lesebändchen
Illustrationen
1
1 s/w Tabelle
Tabelle mit den unterschiedlich betonten Deutungsaspekten des Narzissmus von Havelock Ellis, Paul Näcke und Sigmund Freud.
Maße
Höhe: 23.2 cm
Breite: 16.2 cm
Gewicht
ISBN-13
978-3-9805272-5-5 (9783980527255)
Schweitzer Klassifikation
Autor*in
Psychotherapeut
Jahrgang 1960, Studium der Psychologie (Diplom) in Saarbrücken, niedergelassen in eigener Praxis seit 1993 als Verhaltenstherapeut, ausgebildet auch in tiefenpsychologisch fundierter, katathym-imaginativer Psychotherapie, NLP und Hypnose.
Was Sie in diesem Buch erwartet 11
Zusammenfassende Vorschau 11
Eigenheiten des Textes 16
Exkurs: Die Macht der Worte 18
Wie krank ist gesundes Selbstbewusstsein? Ein Beispiel aus der Praxis 20
Teil I Was wirklich geschah 25
Zeugung, Geburt und Kindheit 26
Jugenderfahrungen und Herausforderungen des Lebens 40
Die beiden Leiden des Narziss: Vergänglichkeit und Gewalt 41
Randbemerkungen zum Mythos 54
Teil II Narzissmus - die Begriffsschöpfung 63
Die Entdeckung des Havelock Ellis 63
Paul Näcke, Erfinder des Begriffs "Narcismus" 67
Ellis und Näcke - verwirrte Pioniere 72
Isidor Sadger und die "Verliebtheit in die eigenen Genitalien" 83
Otto Rank und seine Verfälschung des Mythos 84
Sigmund Freuds Paraderepräsentanten des Narzissmus 86
Auch nach 100 Jahren Begriffskritik . 92
Teil III Narziss und seine Familie im Fadenkreuz der Psychologie 97
Die kaputte Herkunftsfamilie 98
Narziss: Pervers, gestört und asozial? 108
Die Schuld des Narziss oder: Das Contergan der Psychotherapie 154
Neudichtungen des Mythos 162
Teil IV Wer mit dem Finger auf andere zeigt ... 173
Mangelndes Mythen- und Symbolverständnis 173
Mangelndes biografisches Bewusstsein 179
Unzureichende Wahrnehmung 184
Verleumdung, Manipulation und Wahn 195
Teil V Wenn die Narzissmus-Diagnose zur Verleumdung wird 203
Mobbingopfer? Selber schuld! - Fallbeispiel 1 204
Narzisstische Mutter? Ihr Kind kommt ins Heim! - Fallbeispiel 2 213
Wütendes KZ-Opfer? Sie haben als Säugling versagt! - Fallbeispiel 3 218
Suizid nach Missbrauch in der Therapie? Wie lustig! - Fallbeispiel 4 221
Suizid einer destruktiven Narzisstin? - Nachtrag zu Fallbeispiel 4 224
Kein Fall für einen Ethikverein! - Zweiter Nachtrag zu Fallbeispiel 4 227
Solidarität unter psychotherapeutischen Fachverbänden 228
Heinz-Peter Röhr und "Der Eisenofen" 230
Kurz vor Schluss 243
"Zur Einführung des Bondismus" - Ausblick in das Jahr 3914 243
Mächtige Interessen 246
Allein oder gemeinsam? 251
Von Opfern, Tätern und Idioten 252
Anhang 1: Narziss und Echo (Ovid) 259
Anhang 2: Vergewaltigung in der Antike 265
Anhang 3: Sigmund Freuds markante Fehlleistungen 269
Morphin-Entzug durch Kokain 269
"Perversion" und Diagnose 269
Unlautere Liebeswünsche? 270
Wunschblutungen 271
Mangelnde Perversionskontrolle 272
"Perversion" und Berufswahl 273
"Perversion" und Dichtung 274
Inzest ohne Angehörige 275
Geier oder Milan? 277
Inzestbesessener König Ödipus 277
Perverser Narziss 279
Selbstbetrug und Besserwisserei 279
Anhang 4: Zum Verhältnis von Näcke und Freud 281
Anhang 5: Von Breuers Psych-Analyse zu Freuds Psychoanalyse 285
Josef Breuers Psych-Analyse (1. Akt) 285
Freuds Trauma-Theorie (2. Akt) 289
Freuds Trieb-Theorie (3. Akt) 293
Freud und Ödipus 301
Anhang 6: Vom Guten des Schlechten 305
Das Gute an "Ängsten" und "Depressionen" 305
Die gute Absicht von Symptomen 309
Index von Personen und Gestalten 315
Literaturverzeichnis 319
Die speziellen, hier besprochenen Texte mit einer Analyse des Mythos 319
Sonstige Literatur 320
Links 326