2
«Tu das nicht! Ich bitte dich, tu das nicht! Ich .»!
Roya Mayer, die selten um Worte verlegen war, wusste nicht, was sie sagen sollte. Panik stieg in ihr auf. Das durfte nicht passieren, nicht schon wieder. So etwas wiederholte sich doch nicht.
Ihr Blick glitt zwischen dem Display des Handys in der Halterung am Lüftungsgitter der Mittelkonsole und der engen Landstraße hin und her, die sich wie ein Tunnel durch die Dunkelheit über den Wäldern und Wiesen zog. Sie hielt sich für eine gute Fahrerin - auch wenn ihr Vater immer das Gegenteil behauptet hatte -, aber in diesem Moment war sie heilfroh über den schwachen Verkehr hier draußen auf dem Lande.
«Martina? Bist du noch da? Bitte, sag doch was?»
Von vorn näherten sich Scheinwerfer und erweckten die Schatten der mächtigen Eichen an den Rändern der Straße zum Leben. Uralte, vernarbte Stämme, die einen Zusammenprall schadlos wegstecken würden, ganz im Gegensatz zu Royas in die Jahre gekommenem Suzuki. Denn der hatte lediglich zwei Airbags, einen im Lenkrad, einen über dem Handschuhfach, und das war es dann auch schon mit der Sicherheit. Seine Knautschzone war lächerlich, das Blech dünn. Mit diesem Wagen hatte man besser keinen Frontalzusammenstoß - weder mit einem Baum noch mit einem Fahrzeug. Deshalb nahm Roya den Blick vom Handy und konzentrierte sich auf die Fahrbahn, folgte dem weißen Strich am rechten Rand, der außerhalb der Scheinwerfer in der Dunkelheit verschwand und sie dorthin zu locken schien.
Die Scheinwerfer wurden groß und größer, blendeten Roya, sie kniff die Augen zusammen, klammerte sich ans Lenkrad und fragte sich, ob es nicht doch besser wäre, an den Straßenrand zu fahren, die Warnblinkanlage einzuschalten und die Polizei anzurufen.
Aber was sollte sie sagen? Hallo, ich glaube, da will sich jemand umbringen? Es wäre eine Möglichkeit, und vielleicht würde man ihr glauben, aber es gab mehr als nur einen Grund, der sie davon abhielt.
Als der entgegenkommende Wagen vorbeigefahren war, traute sie sich, wieder auf ihr Handy zu schauen. Immer noch standen lediglich die sechs Worte im Display.
«Hilf mir . ich bin am Baum .»
Mit einer flinken Bewegung tippte Roya auf das Lautsprechersymbol für eine Sprachaufnahme.
«Martina! Sprich mit mir, bitte. Ich möchte deine Stimme hören!»
Doch Martina wollte oder konnte nicht sprechen. Vor einer Viertelstunde war diese kurze Textnachricht eingegangen, unverständlich für Außenstehende, doch Roya ahnte, was Sache war. Martina ging es schlecht. Und Roya hatte das Gefühl, an dieser Entwicklung eine gewisse Mitschuld zu tragen. Vielleicht hatten ihre Fragen sie zu sehr aufgerüttelt, vielleicht hatte Roya auch zu vehement nachgefragt und zu tief gebohrt, aber wie hätte sie auch wissen können, dass Martina Spiekermann so instabil war. Vor einer Woche hatte sie noch einen gefestigten Eindruck auf Roya gemacht. Zwar alles andere als selbstbewusst, aber doch mit einer Perspektive und einem guten Blick auf die Dinge, die sie beschäftigten. Was hatte sich seitdem geändert? Und warum wandte sich Martina in dieser verzweifelten Situation ausgerechnet an Roya? Sie war doch nur eine Journalistin, die für einen Artikel recherchierte, und kannte die Frau kaum. Zugegeben, sie hatten von Beginn an einen besonderen Draht zueinander gehabt. Die Chemie stimmte zwischen ihnen, und zu einer anderen Zeit oder in einem anderen Leben wären sie vielleicht sogar Freundinnen geworden.
Roya setzte eine weitere Sprachnachricht ab.
«Martina, ich bin sicher, wir kriegen das wieder hin. Lass uns einfach miteinander reden, ja. Ich fand unser Gespräch neulich wirklich schön und . ganz ehrlich, ich habe selten mit so sympathischen Menschen zu tun, wie du es bist. Magst du mich nicht anrufen, jetzt gleich?»
Roya hatte ihrerseits mehrfach versucht, Martina zu erreichen. Zwecklos. Sie nahm nicht ab. Und auf die Aufforderung zu telefonieren, reagierte Martina nicht. Das Display blieb leer, und Royas Herz schlug noch schneller, als es das ohnehin schon tat. Sie musste Martina in der Leitung behalten, durfte die Kommunikation auf keinen Fall abbrechen lassen. Gleichzeitig durfte sie aber auch nicht anhalten. Niemand sonst wusste, wo Martina sich befand, und selbst wenn Roya einen Notruf absetzte, würden die Helfer auch nicht eher vor Ort sein als sie selbst. Es hing alles an ihr. Sie war die Einzige, die Martina in diesem Moment helfen konnte.
«Sag was, sag irgendwas», forderte Roya sich selbst auf, während ihr Daumen über dem Lautsprechersymbol schwebte. Doch ihr fielen die richtigen Worte nicht ein. Was sagte man einem Menschen, um ihn davon abzuhalten, sich umzubringen?
Roya versuchte es mit der Wahrheit.
«Martina, wir haben doch einen Plan! Du und ich, zusammen sorgen wir dafür, dass nicht noch mehr Menschen auf ihn hereinfallen. Aber ich brauche deine Hilfe, hörst du. Ohne dich schaffe ich es nicht.»
Eine Antwort blieb aus. Die Stille am anderen Ende der Leitung ließ Roya verzweifeln. Sie dachte an das Gespräch von vor zwei Wochen zurück.
Martina hatte an der Buche gelehnt, den Blick auf die Wiese hinaus gerichtet. Obwohl Martina beinahe genauso alt war wie Roya, wirkte sie in ihrer unschuldig-kindlichen Art jünger. Die Haut in ihrem Gesicht war glatt und rein, das dunkelblonde Haar fiel ihr auf die Schultern und schimmerte im Sonnenlicht. Martina war eine hübsche Frau, einzig die tief liegenden und dadurch stets dunkel wirkenden Augen wollten nicht so recht zu den sonst symmetrischen Formen ihres Gesichts passen. Sie sprach zögerlich, immer darauf bedacht, nichts zu sagen, was andere verletzen oder zu einer Diskussion führen könnte, in der sie sich würde behaupten müssen. Sich zu behaupten, das konnte sie nicht. Sie trug den tiefen Wunsch nach Harmonie in sich, nach einer Welt ohne Streit, ohne laute Worte oder gar Gewalt.
«Wir finden einen Weg, Martina. Weißt du .»
Roya war kurz davor, Martina die ganze Wahrheit zu erzählen, tat es aber doch nicht. Die Wahrheit war zu verwirrend, und Roya war sich nicht einmal sicher, ob sie auf der richtigen Fährte war. Was, wenn sie sich täuschte?
Das Kreischen der Hupe kam wie aus dem Nichts. Ohrenbetäubend und schrill riss es Roya in die Realität einer Landstraße abends um neunzehn Uhr zurück, auf der ihr erneut Scheinwerfer entgegenkamen. Doch diesmal waren sie riesig - und verdammt nah dran! Roya war unbemerkt auf die Gegenfahrbahn geraten, eine Hälfte ihres Suzukis befand sich links der durchgezogenen Linie, die hier wegen der schlechten Einsehbarkeit der Kurve ein Überholverbot markierte.
Roya riss das Steuer herum. Zu heftig. Sofort steuerte sie gegen, dann gleich noch einmal, trat dabei zu fest auf die Bremse, sodass sie binnen Sekunden die Kontrolle über den kleinen Wagen verlor, der wie die Kugel in einem Flipperautomaten von rechts nach links über die Fahrbahn schoss. Ihr Wagen rammte zuerst mit der rechten vorderen Seite gegen die Leitplanke. Dann folgte ein Zusammenprall mit den nächsten Leitplanken. Glas barst, Blech zerbeulte, der Wagen kreischte herzzerreißend. Nach dem dritten Zusammenprall hob er ab und überschlug sich. Roya klammerte sich mit aller Kraft ans Lenkrad, aus dem ihr plötzlich der Airbag ins Gesicht sprang. Die Schwerkraft war aufgehoben, oben war unten und unten oben, sie verlor vollkommen die Orientierung, schrie ihre Panik in die weiße Kunststoffhülle, bekam einen heftigen Schlag gegen den Kopf und dann noch einen und verlor die Besinnung.
Als sie ihre Umgebung wieder wahrnahm, lag der Wagen still. Kopfüber hing Roya in ihrem Gurt, die Halswirbelsäule abgeknickt, Blut tropfte von einer Wunde an ihrer Stirn auf den Wagenhimmel. Sie spürte keine Schmerzen, spürte nicht einmal ihren Körper, hatte vielmehr das Gefühl, daraus entwichen zu sein.
War sie tot?
Ihr Blick fiel auf das Handy. Es war aus der Halterung gefallen und lag neben dem rasch größer werdenden Blutfleck am Dachhimmel. Ein großer Riss zog sich über die Glasfront.
Roya nahm ihre ganze Kraft zusammen und streckte ihre rechte Hand danach aus. Sie konnte sie bewegen, war also nicht tot, immerhin. Sie tippte auf das Display, und das Handy leuchtete auf. Die Messenger-App, über die sie mit Martina Spiekermann kommuniziert hatte, war noch geöffnet. Ihre letzte Nachricht lag sechs Minuten zurück. Sie war länger bewusstlos gewesen als vermutet.
Sechs Minuten Schweigen musste sich für einen Menschen, der sich das Leben nehmen wollte, wie eine Ewigkeit anfühlen.
Roya wollte auf das Mikrofon-Symbol drücken, um eine weitere Sprachnachricht aufzunehmen, doch das Symbol war so klein, viel zu klein, um es mit ihren zitternden Fingern treffen zu können, zudem löste sich das Handy immer wieder vor ihren Augen auf. Ihre Lider flatterten, ihr Schädel pochte, als wolle er zerbersten. Roya spürte, sie würde abermals die Besinnung verlieren.
In einer halbwegs klaren Sekunde erkannte Roya das Mikro-Symbol und drückte drauf.
«Martina . ich bin da . ich komme zu dir, hörst du. Und dann finden wir eine Lösung, bitte . tu das nicht.»
Keine Reaktion.
Blut tropfte in die Stille hinein. Ihre Sinne schwanden. Bevor Roya abdriftete, nahm sie ein Klopfen an der Seitenscheibe wahr und blickte in das Gesicht eines Mannes.
«Keine Angst, ich hole Sie da raus!», sagte er mit einer Stimme, die ganz dumpf klang, und das war das...