Zweites Capitel.
Inhaltsverzeichnis
Drei Minuten zu spät abgefahren; zuerst heißt es pünktlich sein. Ein Berichterstatter, der nicht ganz pünktlich ist, gleicht dem Geometer, der es unterläßt, seine Rechnung bis zur zehnten Decimalstelle fortzuführen. Diese Verzögerung von drei Minuten hat es dem Deutschen ermöglicht, noch mit unserem Zuge fortzukommen. Ich denke, der Mann wird mir noch Futter für meine Feder bieten; doch das ist vor der Hand nur so eine schwache Vermuthung.
Unter dem hiesigen Breitengrade ist es im Monat Mai um sechs Uhr Nachmittags noch ganz hell. Ich habe mir einen Fahrplan angeschafft und studiere denselben. Die beigefügte Landkarte zeigt hier Station für Station, den Weg der Eisenbahn zwischen Tiflis und Baku. Nicht zu wissen, in welcher Richtung die Locomotive dahinbraust, ob der Zug nach Nordosten hinauf oder nach Südwesten hinabfliegt, das wäre mir rein unerträglich, destomehr, weil ich nach Einbruch der Nacht doch nichts mehr sehen werde, denn ich bin kein Nyctalope wie die Eulen, Uhus, die Fledermäuse oder die Katzen auf dem Dache.
Mein Fahrplan lehrt mir zunächst, daß der Schienenstrang sich nahe der Fahrstraße zwischen Tiflis und dem Caspisee hinzieht und dabei Sachanlong, Poily, Elisabethpol, Karascal, Aliat mit Baku durch das Thal der Kura verbindet. Einer Eisenbahn gestattet man keine »Höflichkeitsbesuche«. Sie muß möglichst die gerade Linie verfolgen. Das thut die transgeorgische Bahn.
Unter den Stationen, die sie berührt, ist eine, die ich gern mit Muße in Augenschein genommen hätte, Elisabethpol; vor Empfang der Depesche des »XX. Jahrhundert« hatte ich geplant, daselbst eine Woche über zu verweilen. Und nun, da ich die verlockendsten Schilderungen von der Stadt gelesen, sollte ich daselbst nur fünf Minuten lang - zwischen zwei und drei Uhr des Morgens - Halt machen! Statt Elisabethpol im Sonnenglanze zu betrachten, davon nur einen unbestimmten Gesammteindruck in der blassen Beleuchtung des Mondes mit hinwegnehmen!
Nach gründlicher Durchsicht des Fahrplans gehe ich daran, meine Reisegefährten etwas näher zu betrachten. Zusammen ihrer Vier, nahmen wir natürlich die vier Ecken des Coupés ein. Ich habe an der Zwischenwand eine Ecke erobert und sitze mit dem Gesicht nach vorn.
In den beiden Winkeln der andern Wagenlängsseite lehnen zwei Reisende einander gegenüber. Kaum eingestiegen, und nachdem sie die Mütze über die Ohren gezogen, haben sie sich in ihre Decken gewickelt - zwei Georgier, so weit ich's zu errathen vermochte. Sie gehören aber jedenfalls zu der Specialrasse privilegirter Bahnwagenschläfer und werden vor dem Eintreffen in Baku schwerlich wieder erwachen. Von diesen Leuten war nichts zu wollen; für sie ist das Coupé kein Wagen, sondern ein Bett.
Vor mir ein Mann von ganz abweichendem, keineswegs orientalischem Typus: zweiunddreißig bis fünfunddreißig Jahre alt, Gesicht mit röthlichem, ziemlich entwickeltem Kinnbart, Blick sehr lebhaft; Nase eines Vorstehhundes; Mund sucht offenbar zu sprechen; Hand sehr familiärer Art, zum Drücken Anderer wie geschaffen; ein großer, kräftiger Mann mit breiten Schultern und mächtigem Torso. In der Art und Weise, wie er's sich bequem gemacht, seine Reisetasche ohne Zögern untergebracht, wie er einen großen carrirten Plaid handhabt, erkenne ich den »Traweller« angelsächsischer Abkunft, der sich, an weitere Reisen gewöhnt, weit mehr an Bord der Eisenbahnen oder der Packetboote als in seinem »Home« befindet, wenn er überhaupt ein solches Home sein eigen nennt. Das muß ein Handlungsreisender sein. Ich bemerke an ihm eine Masse Schmuckgegenstände, Ringe an den Fingern, eine Nadel in der Cravatte, Manschettenknöpfe mit Photographien und allerlei Berloques an der Uhrkette. Obwohl er keine Knöpfe in den Ohrläppchen und auch keinen Ring durch die Nase trägt, würde es mich gar nicht wundern, wenn er ein Amerikaner - ja noch mehr - ein Yankee wäre.
Da bin ich ja mitten im Geschäft. Meine Aufgabe als Reporter, die Interview's jeder Art nöthig macht, ist es, herauszufinden, wer meine Reisegefährten sind, woher sie kommen und wohin sie gehen. Ich werde also mit meinem Gegenüber den Anfang machen. Das scheint übrigens nicht schwierig. Er scheint weder an Schlaf noch an Betrachtung der vorüberfliegenden Landschaft zu denken, obgleich die letzten Sonnenstrahlen diese recht schön beleuchten. Irre ich nicht, so verspürt der Mann ebensoviel Lust, mir zu antworten, wie ich ihn zu fragen - und umgekehrt.
Schon will ich losschießen ... da hält mich eine Befürchtung zurück. Wenn nur der Amerikaner - ich wette, daß es einer ist - nicht selbst ein Berichterstatter, etwa für die »World« oder den »New-York Herald«, und ganz ausschließlich beauftragt ist, die großtransasiatischen Bahnzüge zu begleiten und literarisch auszuschlachten. Das könnte mich in Wuth bringen. Lieber Alles als einen Rivalen!
Mein Zögern verlängert sich. Frage ich ihn ... frage ich ihn nicht? Schon kommt die Nacht heran. Endlich entschließe ich mich, den Mund aufzuthun, da kommt mir mein Reisegefährte zuvor.
»Sie sind Franzose? redet er mich in meiner Muttersprache an.
- Ja, mein Herr,« antworte ich ihm in der seinigen.
Nun also, wir verstanden uns gegenseitig.
Das Eis ist gebrochen und jetzt wechseln die Fragen von einer zur andern Seite.
Alle Welt kennt ja wohl das orientalische Sprichwort:
»Ein Narr kann in einer Stunde mehr fragen, als ein Weiser im ganzen Jahre.«
Da wir indeß Beide, mein Gefährte so gut wie ich, auf besondere Weisheit keinen Anspruch erheben, lassen wir uns gehen und vermischen unbewußt beide Idiome.
»Wait a bit!«1 sagt mein Amerikaner.
Ich unterstreiche diese Redensart, weil sie sehr häufig wiederkehren wird, wie der Knoten des Strickes, mit dem die Schaukel bewegt wird.
»Wait a bit! Ich wette zehn gegen eins, daß Sie Reporter sind? ...
- Da würden Sie gewinnen! ... Ja ... Reporter, im Auftrage des >XX. Jahrhundert<, um einen Bericht über diese Eisenbahnfahrt zu liefern.
- Sie gehen nach Peking? ...
- Wie Sie sagen.
- Ganz mein Fall,« erwidert der Yankee.
Das fürchtete ich.
»Ein College? ... fragte ich und runzelte die Augenbrauen mit gewiß nicht anziehendem Gesichtsausdruck.
- Nein, beruhigen Sie sich. Wir >machen< nicht in denselben Artikeln, mein Herr ...
- Claudius Bombarnae, der sich freut auf die Fahrt in Gesellschaft des Herrn ...
- Fulk Ephrjuell vom Hause Strong Bulbul and Compagnie, von New-York, Staat New-York (V. St. v. A.).«
Er setzte wirklich V. St. v. A. hinzu.
Jetzt hatten wir uns also gegenseitig vorgestellt. Meine Wenigkeit Händler mit Neuigkeiten und er Händler mit ... Ja, womit? ... Das muß ich erst noch erfahren.
Das Gespräch geht weiter. Fulk Ephrjuell ist selbstverständlich schon überall - und auch noch etwas darüber hinaus, wie er hinzufügt - umhergefahren. Er kennt Nord- und Südamerika und fast ganz Europa. Jetzt kommt er jedoch zum erstenmal nach Asien. Er spricht ... plaudert, doch immer schaltet er sein Wait a bit! mit beängstigender Unverdrossenheit ein. Sollte der Hudson vielleicht dieselbe Eigenthümlichkeit wie die Garonne haben, die Zunge manchmal hängen bleiben zu machen?
Ich hörte seinen Worten nahezu zwei Stunden lang zu. Kaum drangen mir die Namen der Stationen Sachanglong, Peily, und andere, die bei jedem Aufenthalt ausgerufen wurden, bis ins Ohr. Und doch hätt' ich mir eigentlich gern das Land angesehen, das der Silberschimmer des Mondes überfluthete, und hätte mir während der Fahrt einige Notizen gemacht.
Zum Glück hatte der Gefährte mit dem unermüdlichen Mundwerk die östlichen Provinzen Georgiens schon früher bereist. Er machte mich auf die Landschaft, Flecken und Städtchen, die Wasserläufe und die am Horizonte auftauchenden Berge aufmerksam .... Ich sehe dennoch fast nichts ... Verdammte Eisenbahn! Man fährt ab, kommt an und hat unterwegs nichts gesehen!
»Nein! ruf' ich, jetzt fehlt doch gänzlich der Reiz einer Fahrt im Postwagen, in der Troika, dem Tarantaß, mit den Zufälligkeiten des Weges, der Originalität der Gasthöfe, den Plauderstündchen beim Pferdewechsel, dem kräftigen Schluck Wodka, den die Yemtchiks zu sich nehmen ... und so dann und wann ein hübscher Ueberfall durch Räuber, deren Rasse wahrlich ganz im Verlöschen ist ...
- Herr Bombarnae, fragt mich Fulk Ephrjuell, ist es Ihr Ernst, daß Sie sich dieser schönen Dinge wegen beklagen?
- Völliger Ernst, geb' ich zur Antwort. Mit dem Vortheil der geraden Linie der Eisenbahn verlieren wir alles Malerische der Bogenlinie oder der gebrochenen Linie der ehemaligen großen Landstraße. Und gestehen Sie nur, Herr Ephrjuell, wenn Sie die etwa vierzig Jahre zurückliegenden Beschreibungen von Reisen in Transkaukasien lesen, dann bedauern Sie auch die heutige Veränderung der Verhältnisse. Werde ich denn ein einziges jener Dörfer zu Gesicht bekommen, die von Kosaken - halb Soldaten, halb Ackerbauern - bewohnt sind? Werd' ich jetzt nur einer jener festlichen Aufführungen beiwohnen können, die sonst den Touristen erfreuten, einer jener >Djiquitovkas<, bei der die Reiter auf den Pferden stehend die Säbel schwingen, die Pistolen abfeuern und die Ihnen Geleit geben, wenn Sie sich in Gesellschaft eines hohen moskowitischen Beamten oder eines Obersten der Staniza befinden?
- Freilich ... zugegeben ... Diese schönen Dinge haben wir eingebüßt, nimmt mein Yankee das...