Kapitel 1
Heute
Und er sah mich noch immer an
Siwon
Das mit uns fing im November an. Als ich mit gebrochenem Herzen vor seiner Tür saß und an mein Kaktusleben dachte. Weil alles so spitz, unförmig und seltsam war. Und jeden Tag versuchte ich, mein Kaktusleben zu retten, obwohl es mir mit Stacheln weh, so wehtat.
»Wenn du noch einmal klopfst, schmeiß ich dich raus, bevor du überhaupt eingezogen bist!«, brüllte eine Männerstimme aus dem Inneren der Wohnung und ich ließ meine Hand herabfallen. Erschöpft setzte ich mich auf meinen Koffer und er wackelte - es fehlte ein Rad. Seufzend sah ich nach unten und schluckte. Der Anblick erinnerte mich an alles, was ich verloren hatte. Daran, dass in meinem Leben etwas fehlte. Mit blinzelndem Blick fokussierte ich die Tür vor mir und wartete, wartete und wartete, bis sich Lim Chiron dazu entschließen würde, mir zu öffnen. Ich war gewarnt worden vor ihm, auch das Bewerbungsgespräch über den Chat bei KakaoTalk hatte mir bewiesen, dass er Höflichkeit kleinschrieb. Größtenteils schrieb er es gar nicht. Aber er hatte ein Zimmer für mich. Einen Ort, den ich Zuhause würde nennen können und das war vielleicht eines meiner tiefsten Bedürfnisse seit Wochen.
»Ich hasse pünktliche Menschen!« Seine Stimme klang gedämpft, tief und aufgebracht.
Ich fühlte mich nicht einmal schlecht, weil ich um die ausgemachte Uhrzeit vor seiner Tür stand. Leicht zitternd sah ich mich in dem Flur um. Gegenüber wohnte Taemin, der Freund meiner Schwester. Eine zweite Wohnung lag am Ende des Flurs und vor mir die von Chiron. Auch wenn das hier der zwölfte Stock war und der Aufzug unerträglich langsam fuhr, mochte ich es. Vor allem die Gegend, gleich um die Ecke gab es einen Park und einen Spielplatz. Dort würde ich hingehen, um durchatmen zu können, wenn die Luft im Haus zu stickig wurde. Ich wollte noch einmal klopfen, als sich Schritte näherten, wie festgefroren blieb ich sitzen. Mit Schwung zog er die Tür auf und sein stürmischer Blick traf meinen.
Lim Chiron sah wild zu mir hinunter.
Und ich verzweifelt zu ihm auf.
Wir starrten uns gewitter-mäßig an.
»Hey«, sagte ich und bekam keine Antwort. Sein Blick war intensiv, seine Iriden graubraun. Ich dachte an meine Pinterest-aesthetic-Wände, ein Foto von ihm würde perfekt dazu passen. Wir sagten nichts, wie in einem Theaterstück, ganz unangenehm, und beinahe versank ich in seinem Blick.
Er trug schwarze Hosen, einen schwarzen Pullover, schwarze Socken, alles war so dunkel. Chiron war ungefähr zehn Zentimeter größer als ich, also einen Meter fünfundachtzig. Und er sah mich noch immer an. Dann zog er seine linke Augenbraue hoch.
Ich stand langsam auf und lächelte gezwungen.
»Ich bin Siwon«, stellte ich mich vor und streckte ihm meine Hand entgegen. Er sah auf meine Finger, ich hatte sie nie als komisch empfunden. Doch als er sie gelangweilt musterte, nahm ich die Narbe an meinem Zeigefinger wahr, auch meinen krummen, kleinen Finger und meine Hand musste eiskalt sein. Ich zog sie zurück, bevor er sie ergreifen konnte.
»Chiron«, erwiderte er endlich. Seine Stimme passte perfekt zu
seiner Art, seiner Kleidung, seiner Haltung.
Nicht zu seinen Augen.
Die Schattierungen von Schmerz darin, verraten ihn.
Ich schüttelte den Kopf, um meine Gedanken loszuwerden und griff hinter mich nach meinem Koffer. Es klackerte, als ich ihn zu mir heranzog - ich hasste das fehlende Rad.
»Kann ich reinkommen? Mir ist kalt.«
Chiron blinzelte, sah auf den Koffer und trat von der Wohnungstür zurück. Einmal atmete ich durch und folgte ihm dann.
Seine Wohnung war einsam.
Weißgraue Wände, dunkler Fußboden, Küchen-und Wohnbereich ohne Bilder, Schmuck oder Dekorationen. Zwei Sofas, ein Fernseher, ein großer Esstisch in der Mitte. Auf der Kommode stand eine Anlage und ich fragte mich, welche Musik er wohl am liebsten hörte. Meine Schuhe und den Mantel ließ ich bei der Chaos-Garderobe. Überall lagen seine Stiefel herum, Regale und Fächer benutzte er kaum. Die Küche sah ähnlich durcheinander aus und ich mochte es, weil ich aufräumen für überbewertet hielt.
»Entweder wir teilen unser Essen oder es gibt getrennte Fächer im Kühlschrank«, sagte er gerade und sah mich fragend an.
Ich war überfordert. Mein Hals kratzte.
»Teilen?« Ich ließ es wie eine Frage klingen, irgendwie verwirrte er mich. Lim Chiron nickte.
»Gut, diese Woche habe ich eingekauft, du bist nächste dran. Am Kühlschrank hängt ein Einkaufszettel, schreib darauf, wenn du etwas brauchst.« Kurz starrte er mich kritisch an. »Irgendwas dagegen?«
Ich ignorierte, dass wir Samstag hatten und diese Woche also nicht für ihn als Einkaufswoche zählte.
»Nope«, murmelte ich einfach.
Er lief weiter in den Raum hinein. Vor der ersten Couch war eine Plastikfolie ausgelegt, sie knisterte unruhig, als wir darüber liefen.
Warum hast du Plastikfolie ausgelegt?, wollte ich fragen, aber sein Rücken schien mir kein guter Gesprächspartner.
Wir gingen um die Sofas herum und Chiron führte mich nach
hinten in einen Flur, er öffnete die erste Tür.
»Es gibt nur ein Bad. Rechter Wandschrank meiner, linker deiner.« Er drehte sich zu mir und ich nickte schnell.
»Die Dusche wurde erst letzte Woche repariert, versuch sie einfach nicht kaputt zu machen.«
Ich hatte jetzt schon Angst, zu duschen.
»Mein Zimmer«, nuschelte Chiron und zeigte undeutlich auf eine verschlossene Tür, dem Bad schräg gegenüber. Als solle ich mich damit nicht länger beschäftigen. Dann ging er auf ein weiteres, geschlossenes Zimmer zu und stieß dieses auf.
In mir zog sich etwas zusammen. Das Bedürfnis nach einem Zuhause, die Sehnsucht auf Liebe, das Vermissen von Ruhe verknotete sich in meinem Herz. Und als Chiron mir die Tür aufhielt, ich an ihm vorbei in den Raum ging, da explodierte der Knoten.
Das Zimmer war groß und hell und schön und bereits möbliert. Ein Doppelbett stand links von mir in das Zimmer herein, da war ein Schreibtisch, gleich neben der Tür ein Kleiderschrank mit Spiegeltüren.
»Bleiben die Möbel?«, fragte ich und drehte mich zu meinem neuen Mitbewohner um. Er nickte.
»Sind von Anfang an in dieser Wohnung gewesen. Kannst sie behalten oder nicht. Mir egal.«
»Alles klar.« Ich legte meinen Koffer auf den Boden, dann drehte ich mich einmal im Kreis. Die Wände waren kahl. Ich brauchte Bilder, Fotos, eine Pinnwand für meine gesammelten Postkarten.
»Also dann«, sagte ich. Nur um irgendwas zu sagen.
»Alles Weitere klären wir später. Ich habe keine Zeit mehr«, brachte er schließlich hervor und ging zurück zur Tür.
Ich räusperte mich. »Danke, Chiron. Für . für das hier.« Mit der linken Hand machte ich eine allumfassende Handbewegung.
Danke für einen Platz zum Bleiben.
Chiron öffnete den Mund, ich wartete, er klappte ihn wieder zu und zuckte die Schultern. Dann ging er einfach und die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
Wir bekommen das hin, flüsterte ich ein ums andere Mal in meinem Kopf. Wie ein Mantra vor einem Wettkampf.
Ich packte meine Bettwäsche aus und bezog die Daunendecke und das große Kissen mit dem flauschigen Bezug meiner Schwester. Anschließend stellte ich meinen Laptop auf den weißen Schreibtisch und fand einen Zettel vor. Die Schrift war schön, schwungvoll, perfekte Schriftzeichen.
WLAN-Passwort: ichhasseesmirpasswörterauszudenken
Automatisch musste ich grinsen. Daneben lagen außerdem zwei Karten und ein Schlüssel.
Schlüsselkarte 1: Wohnhaustür
Schlüsselkarte 2: Wohnungstür
Schlüssel 3: Briefkasten im Erdgeschoss
Schlüsselkarte 1 passt auch für die Tiefgarage, aber da ist nie zugesperrt und ich habe kein Auto, also ist sie mir egal. Kümmere dich selbst darum, falls es dir wichtig ist.
Wenn du deine Karte vergisst, hier der Code für die Tür: 2678#12
Ich las, was er geschrieben hatte, und beschloss, dass mir die Tiefgarage auch egal war. Weil ich wie er kein Auto besaß. Nicht mehr.
Am letzten Tag des Monats bekomme ich das Geld für dein Zimmer, und das war es auch schon.
Also Herzlich willkommen oder so.
Herzlich war es nicht gewesen, aber schön, dass er sich wenigstens in diesem Brief bemüht hatte.
Dann nahm ich mein Handy und legte mich mit meiner Kleidung ins Bett, weil ich zu müde für alles war. Ich wollte einfach nur ankommen. Wenigstens körperlich. Sofort steckte ich mir meine Kopfhörer in die Ohren - ja ich benutzte noch immer Kabelohrstöpsel. Öffnete die Musik-App und scrollte durch meine Playlists. Für jeden Monat eine. Januar, Februar, März, April und Mai, Juni .
Für den November gab es noch keine, weil er erst begonnen hatte, also klickte ich auf Oktober. In meiner Oktoberplaylist befanden sich dreiundvierzig Lieder, alle davon hatte ich rauf und runter gehört. Alle davon waren schmerzhaft. Alle davon stachen in mein Herz.
Die letzten Monate waren viel zu viele Teile von mir zerbrochen, in ihre kleinsten Teile. Denn als meine Drillingsschwester an diesem Septembernachmittag gestorben war, hatte sich auch ein Teil von mir verabschiedet. Dann die Trennung von meiner Exfreundin, mein Studienabbruch, die ganze Verzweiflung. Ich dachte daran und bekam kaum Luft, wollte meine Leben zurückspulen.
Die Musik verdrängte diese Gedanken für mich.
...