Schweitzer Fachinformationen
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Neal's Yard
»Wie immer?«, fragte das Mädchen. Es war zu jung, um zu wissen, wer vor ihr stand.
Der Achtzigjährige zeigte sein bekanntes Lächeln und warf einen Blick auf das Tablett mit Becher und Bagel. Ja, alles wie immer. Er nickte freundlich, nahm das Brettchen und suchte nach einem Platz draußen im lauten und bunten Hof. Ein Musiker sang etwas von Passenger und nickte dem alten Mann zu. Man kannte sich. Organische Düfte aus einem Shop ließen an Felder und Blumen denken. Die Sonne warf ein angenehmes Licht auf die oberen Teile der in pastellenen Regenbogenfarben gehaltenen Häuser.
Der Blick des Achtzigjährigen fiel auf einen jüngeren blonden Mann, der in einem gut sitzenden, dunkelblauen Anzug mit Weste an einem der Hochtische saß und gerade damit beschäftigt war, einem latent gefährlich aussehenden Straßenverkäufer klar zu machen, dass dessen Uhren keineswegs aufwändig in Schweizer Manufakturen gefertigte Meisterstücke von höchster handwerklicher Präzision und zeitloser Eleganz waren, sondern ziemlich klobiger Schund aus weit entfernten Ländern und Produktionsstätten, die zu Recht auf keiner Karte verzeichnet waren. Außerdem trüge er selbst nur Taschenuhren, nicht diese Protzhandschellen. Obwohl er das freie Unternehmertum und merkantilen Geist doch sehr schätze, hege er jedoch in diesem Fall erhebliche Bedenken, dass die Erlöse nicht braven und hart arbeitenden Feinmechanikern zuflössen, sondern doch wohl eher rücksichtslosen Ausbeutern, deren Zugehörigkeit zur organisierten Kriminalität bei ihnen keine Scham erzeuge, sondern sie sogar mit ihm völlig unerklärlichen Stolz erfülle.
»Dann lieber Geldbörse von Fendi? Oder Tasche? Auch von den. Teures Leder.«
»Da steht aber >Fenti<. Auf dem teuren Leder.«
»Sag' ich doch! Kaufen?«
Der Mann im Anzug kam zum Schluss, dass demonstratives Desinteresse wohl am schnellsten zum Abbruch des einseitigen Verkaufsgesprächs führen würde und wandte sich wieder der neuesten Ausgabe von Private Eye zu, die er sich gerade gekauft hatte und auf die er sich schon freute. Nach einer Weile stellte der Verkäufer seine Versuche ein und wandte sich einem neuen potenziellen Opfer zu. Ein weiterer Mann, der die ganze Zeit etwas entfernt hinter beiden gestanden hatte, ging mit und verschwand.
Der Achtzigjährige mit dem Bageltablett trat an den Tisch mit dem Anzugträger heran und fragte, ob er sich setzen dürfe. Kleos Henry Mehlos sah auf. Oh! DER hier. Tatsächlich? Es gab nur eine andere Person, mit der er lieber gefrühstückt hätte.
»Sehr gerne. Bitte nehmen Sie Platz.«
Der alte Mann setzte sich an den Holztisch und brach ein Stück von seinem Bagel ab.
»Ihre Brieftasche wird nun einiges von der Welt sehen«, sagte er.
Mehlos überlegte.
Der Verkäufer. Und sein Schatten. Er sah sich um. Beide waren verschwunden. Mehlos sah den alten Mann an, der zu seinem Café griff und aufmunternd nickte.
»Ach ja«, Mehlos seufzte, »ich hoffe, er ist gut zu ihr. Allerdings befürchte ich, dass er sie gleich wieder wegwerfen wird, wenn er erst einmal hineingesehen hat.«
»Keine Pfundnoten drin?«
»Weniger. Das war meine Klaubrieftasche. Man weiß ja nie. Sie ist fast leer. Nur ein Zettel mit einem Bibelzitat. 1, Korinther 6.10: Noch die Diebe, noch die Geizigen, noch die Trunkenbolde, noch die Lästerer, noch die Räuber werden das Reich Gottes ererben.«
Der Achtzigjährige lachte laut.
»Sehr gut! Klaubrieftasche. So etwas habe ich noch nicht gehört. Aber haben Sie gar kein Mitleid mit der arbeitenden Bevölkerung?«
»Schon. Deshalb war ja auch eine Fünfpfundnote drin. Zur Linderung der gröbsten Not. Und ein Bild von einem toten Papagei.«
»Ernsthaft?«
»Hab' ich von Ihnen!«
»Und Sie haben wirklich nichts gemerkt?«
»Nein. Das war saubere Arbeit. Insofern hat er eine kleine Belohnung fast ehrlich verdient.«
Mehlos und der alte Mann wandten sich wieder ihrem Frühstück zu und tauschten noch ein paar absurde und komische Gedanken aus, die beiden einen inspirierten Start in den neuen Tag schenkten. Dann verabschiedete sich der Achtzigjährige und Mehlos war allein in der Menge. Er sah auf seine Taschenuhr. Wann sie nur endlich kam.
Er blickte hoch zu einem Café mit blauen Fensterrahmen, musste lächeln und dachte nach, als plötzlich eine junge Frau mit schulterlangen brünetten Haaren in einem eleganten elfenbeinfarbenen Kleid in sein Gesichtsfeld trat. Sie hob ihre Hände und gestikulierte.
Guten Morgen, Mehlos. Wie ich sehe, haben Sie Ihr kontinentales Frühstück bereits hinter sich. Keine Lust auf kalte Bohnen und lauwarme Pilze?
Joanna Santow war gehörlos und verständigte sich mit Gebärden und Lippenlesen.
»Santow! Guten Morgen. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass es schön ist, Sie zu sehen. Nein. Die Bohnen waren mir nicht nahe genug am Verfallsdatum und die Pilze noch als solche erkennbar. Sie wissen, ich lege Wert auf Authentizität beim englischen Frühstück. Möchten Sie Kaffee und Bagel? Sour cream? Orangensaft? Frisch gepresst, natürlich.«
Gerne.
Mehlos holte alles und hatte noch einen weiteren Café und ein Croissant für sich dabei.
Ihr Text hat mich überrascht. Ich wähnte Sie beim Fallschirmspringen in den Cotswolds. Oder war das Bungee-Jumping in der O2-Arena? Ich meine das Geschenk von Ihrem Bruder.
»Francis hat mir Gutscheine für beides geschenkt. Vielen Dank. Ungewöhnlich aufmerksam, an meinen Geburtstag zu denken. Aber ich musste leider ablehnen.«
Warum?
»Ich bin feige.«
Sind Sie nicht. Auch wenn es Sportarten sind, bei denen man auch gerne mal draufgehen kann. Ich glaube, Sie möchten nur keine Geschenke von Ihrem Bruder annehmen.
Mehlos schwieg für einen Moment. Francis Neville Mehlos war der ältere Bruder und Jurist, der das elterliche Family Office weiterführte, das Vermögen verwaltete, Kleos Henry Mehlos von allen wichtigen Entscheidungen ausschloss und ihn nur einband, wenn es durch die Statuten nicht anders ging. Seit frühester Kindheit verband die beiden eine herzliche Abneigung, die von Francis ausging und die Mehlos irgendwann akzeptierte und übernahm. Der Faden riss völlig, als Francis in jungen Jahren die Konversation von Mehlos mit Tante Mouse, die von Geburt an gehörlos war, imitierte und sich ohne Rücksicht auf beider Befindlichkeiten darüber lustig machte. Mehlos dachte kurz an die Szenen, die sich zwischen ihnen abspielten. Nicht angenehm. Und bar jeder brüderlichen Zuneigung.
»Sorry, aber es passt einfach nicht.«
Bungee oder Bruder?
»Beides.«
Er scheint sich in letzter Zeit um Ihre Aufmerksamkeit zu bemühen. Silberstreifen des Friedens am Horizont? Erste Verhandlungen zum Waffenstillstand?
»Sie kennen ihn nicht, Santow. Das hat nichts zu bedeuten.«
Santow sah Mehlos an und trank ihren Café. Ihre Blicke über dem Tassenrand waren durchdringender als Röntgenstrahlen.
»Was denken Sie?«
Ich denke, dass Sie das Verhältnis zu Ihrem Bruder verbessern sollten.
»Wir haben keins.«
E-ben.
»Kopf hoch, Santow. Es gibt Schlimmeres. Es könnte heute noch regnen.«
Eine Weile geschah nichts, nur Gesprächsfetzen der Besucher von Neal's Yard waren zu hören, gelegentlich Kinderlachen; der Musiker beendete einen Song von Ed Sheeran und ging mit seiner Kappe bei den Gästen sammeln. Mehlos gab ihm einen Zehnpfundschein und bedankte sich für die Musik, die er ziemlich gut interpretiert fand, was er dem Musiker auch sagte und diesem ein »Cheers, mate!« entlockte. Vielleicht könne er ja noch Always look on the bright side of life spielen. Das würde doch sehr gut passen. Hier zum Yard und überhaupt, schlug Mehlos mit einem Seitenblick auf Santow-hinter-der-Tasse vor. Der Musiker versprach es und setzte seine Sammeltour fort.
Warum treffen wir uns hier? Gibt es einen Grund?
»Wir sind seit etwas mehr als zwei Wochen aus Lansdowne Manor1 zurück. Lang her. Fast ein ganzes Leben. Für mich Grund genug, diesem für mich unerträglichen Zustand ein Ende zu bereiten und anzufragen, ob Sie nicht ein wenig Zeit haben. Aber, da Sie es ohnehin durchschauen, ich habe eine hidden agenda. Nein, nicht das, was Sie jetzt vielleicht denken möchten, obwohl, das natürlich auch. Nein. Ein anderes Thema. Und den Ort hier habe ich vorgeschlagen, weil ich zum einen dachte, dass Sie ihn noch nicht kennen und zum anderen, dass Sie ihn auch mögen würden.«
Ich war früher oft hier. Als ich noch in Soho wohnte. Und ja, ich mag ihn sehr. Seitdem ich umgezogen bin, war ich allerdings nicht mehr in Neal's Yard. Es ist schön, wieder hier zu sein.
Santow wohnte jetzt in einem Mews House in Chelsea. Londoner bewegten sich für gewöhnlich wenig außerhalb ihres Viertels.
»Das freut mich.«
Was ist Ihre versteckte Agenda?
Mehlos fummelte ungeschickt an einem Croissant herum, riss dann ein Stück ab und tunkte es in seinen Café. Seine Gedanken sortierend, kaute er sehr langsam und schnappte sich dann wieder das Croissant und drehte es in den Händen.
Wird's bald? Warum so verlegen?
»Es geht um Sie. Und ich weiß nicht sicher, ob Sie das möchten.«
Spannend! Erzählen Sie. Ich entscheide dann.
»Es geht um Ihre Herkunft.«
Santow stellte die Tasse ab und sah Mehlos mit...
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