2. Kapitel
Mit gerunzelter Stirn warf Ben einen kurzen Blick über die Schulter, konzentrierte sich jedoch gleich wieder aufs Fahren. Warum er sich ausgerechnet das Pfingstwochenende für seine Reise ausgesucht hatte, wollte ihm nicht mehr so ganz einleuchten. Der Verkehr auf der Autobahn war mörderisch, und obwohl ihm sein neuer dunkelbrauner BMW X5 jeden nur erdenklichen Komfort bot, war er nach der langen Fahrtstrecke, die mit unzähligen kleineren und größeren Staus gespickt gewesen war, inzwischen redlich erschöpft. Hinzu kam seit ein paar Minuten das ungehaltene Knurren und Brummeln des Hundes, den er in einer massiven Hundetransportbox als Passagier im Kofferraum dabeihatte. Fast klang es, als ob Boss sich beschweren wollte. Ob er mal pinkeln musste? Sie hatten vor zwei Stunden die letzte Pause gemacht, und Ben hatte die größte Mühe gehabt, den bereits fast fünfzig Kilo schweren und eigensinnigen Boss wieder zurück in die Box zu verfrachten. Noch mal wollte er sich und dem Hund diesen Stress nur ungern antun, vor allen Dingen, weil es bis zu ihrem Zielort gar nicht mehr weit war.
»Was ist denn los, Boss?« Er kam sich seltsam vor, den Hund anzusprechen, denn der konnte schließlich nicht antworten. Vorsorglich drehte er die Rockmusik, die ihn auf langen Fahrten meist bei Laune hielt, so leise, dass er die Geräusche aus dem Kofferraum besser hören konnte. »Wir sind bald da. Vielleicht noch eine Viertelstunde oder höchstens zwanzig Minuten.«
Na toll, bis dahin bin ich garantiert mein Frühstück wieder losgeworden. Aber bitte, war ja deine Idee, weiß der Himmel, wohin zu fahren. Ich hätte das nicht gebraucht.
Angestrengt lauschte Ben auf das brummelige Gemaule, das Boss von sich gab. »Komm schon, du hältst es doch wohl noch die kurze Weile aus, oder? Ich habe keine Lust, das Theater von vorhin nach mal zu wiederholen.«
Ich ehrlich gesagt auch nicht. Aber mir ist echt übel, und ich bin so was von genervt, das glaubt mir keiner.
Mit einem unguten Gefühl nahm Ben die nächste Ausfahrt, an der sein Ziel, der kleine Touristenort Lichterhaven, bereits ausgeschildert war. Dort hatte er sich ein Ferienhaus gemietet und in der Nähe des Hafens, gleich neben einer Werft, ein leer stehendes Lagerhaus. Hoffentlich hatte das Transportunternehmen, das er beauftragt hatte, seine Arbeitsutensilien und die Werkstoffe bereits geliefert. Melanie Messner, seine Vermieterin, hatte ihm versprochen, sich darum zu kümmern, dass alle seine Sachen seinen Anordnungen gemäß abgeladen und eingelagert wurden.
Etwas mehr als drei Monate lang wollte er in Lichterhaven wohnen und arbeiten. Er hoffte, dass der Ortswechsel ihm einen Inspirationsschub gab und er endlich wieder einmal absolute Ruhe finden würde, die ihm in seiner Wohnung in Köln zuletzt eindeutig gefehlt hatte. Hauptgrund dafür waren die ständigen Partys und Empfänge gewesen, auf die sein Manager ihn geschleppt hatte. Seine neue Skulpturenausstellung, die noch immer durch Europa tourte, hatte Ben bereits im Winter und Frühjahr ständig auf Trab gehalten. Er hätte eigentlich nicht zu jeder einzelnen Galerie reisen müssen, ein paar ausgewählte Orte hätten auch gereicht. Jochen, sein Manager, hatte aber gemeint, es würde nicht schaden, sich häufiger öffentlichkeitswirksam zu zeigen und auch mal die kleineren Galerien mit seiner Anwesenheit zu beehren. Irgendwann hatte es Ben dann gereicht, und er war nach Hause zurückgekehrt. Ein paar Wochen Arbeit, bis die Partys angefangen hatten. Irgendwann war es ihm zu bunt geworden, und er hatte Jochen klipp und klar gesagt, dass er seine Ruhe wollte. Wie nämlich sollte er die nächsten Begeisterungsstürme mit seinen Werken hervorrufen, wenn er nicht mehr dazu kam, selbige überhaupt zu erschaffen?
Kurzerhand hatte er eine Arbeitsklausur ausgerufen und sich auf die Suche nach einem passenden Rückzugsort gemacht. Da es ihn schon immer an die See gezogen hatte, war seine Wahl schließlich auf Lichterhaven gefallen, jene wunderschöne kleine Stadt direkt an der Küste, die er vor Jahren schon einmal besucht hatte, um sich einen kleinen Kunsthandwerksladen anzusehen. Die damalige Inhaberin, eine alte Dame namens Sybilla, hatte ihm sofort gefallen. Sie war über seine Internetseite an ihn herangetreten und hatte ihm ihre Bewunderung für seine Skulpturen ausgedrückt, und da er solche kleinen Kunsthandlungen liebte und Sybilla ihm sehr sympathisch gewesen war, hatte er mit ihr einen Vertrag abgeschlossen. Zweimal im Jahr erhielt der Laden seither ausgewählte Stücke zu einem absoluten Vorzugspreis, sodass sie zu für Normalsterbliche erschwinglichen Preisen weiterverkauft werden konnten.
Natürlich käme er nie auf den Gedanken, sich zu beschweren, dass seine Werke in den Galerien Londons, Roms, Mailands, Berlins und zuletzt sogar in New York, Chicago und Los Angeles für mörderische fünf- bis sechsstellige Geldbeträge an Sammler abgegeben wurden. Nur dadurch konnte er sich sein Leben einrichten, wie es ihm gefiel. Trotzdem sah er nicht ein, warum Menschen mit durchschnittlichem Einkommen nicht auch die Gelegenheit erhalten sollten, sich einer seiner Skulpturen oder an einem seiner Bilder erfreuen zu können.
Inzwischen war Sybilla seit zwei Jahren verstorben, doch die kleine Kunsthandlung gab es noch immer. Sybillas Großnichte hatte sie übernommen, eine geschäftstüchtige Frau Anfang dreißig, die zwar ursprünglich aus einer ganz anderen Branche kam, jedoch offensichtlich große Freude daran hatte, das Geschäft ihrer Tante zu führen. Sie hatte die Internetseite des Ladens und den Auftritt in den sozialen Netzwerken modernisiert, bot neben den Exponaten im Laden auch regelmäßig kleine Ausstellungen und Lesungen mit regionalen und überregionalen Künstlern an und hatte auf ihn einen ausgesprochen engagierten Eindruck gemacht. Auf einer Jubiläumsfeier der Firma seines Vaters vor einigen Jahren waren sie einander sogar schon einmal kurz begegnet, als sie noch Chefeinkäuferin im renommierten Möbelhaus Brungsdahl gewesen war. Ihre damalige Stellung sprach eindeutig für ihre kaufmännischen Fähigkeiten. Sein älterer Bruder Peter, der das Geschäft mittlerweile führte, hatte sich ausgesprochen positiv über Melanie Brenner, so hatte sie damals noch geheißen, geäußert. Offenbar hatte ihr Umzug an die Küste ein nur schwer zu füllendes Loch im Personalstab des Möbelhauses hinterlassen.
»Wir haben es gleich geschafft, Boss.« Erneut warf Ben einen kurzen Blick über die Schulter. Der Hund knurrte leise vor sich hin. Mittlerweile hörte es sich allerdings nicht mehr böse oder verärgert, sondern eher kläglich an. »Sag mal, geht es dir nicht gut?«
Endlich hast du es kapiert.
»Das Autofahren ist dir doch bis eben gut bekommen.«
Na und, jetzt aber nicht mehr.
Besorgt trommelte Ben mit den Fingern aufs Lenkrad, entschied sich dann aber, das Risiko einer reisekranken Amerikanischen Bulldogge in Kauf zu nehmen. »Halt durch, Boss!«
Du hast leicht reden. Dir steigt ja nicht die Dose Kaninchen mit Kartoffeln ständig den Schlund hoch.
»Verdammt, hast du da eben gewinselt?«
Nein.
»Ich beeile mich ja schon.
Ich winsele nie. Ich bin schließlich ein harter . Oh Mist, mir ist wirklich übel. Vielleicht hab ich doch ein ganz kleines bisschen gewinselt . Nein, diese Blöße gebe ich mir nicht!
Endlich hatte Ben den Ort erreicht. Obwohl der Himmel bedeckt war und eine für die Küste typische kräftige Brise die Büsche und Bäume an den Straßenrändern plusterte und schüttelte, fühlte sich Ben sofort willkommen. In Kübeln, Balkonkästen und Vorgärten blühten bereits üppig bunte Blumen, Häuser und Grundstücke wirkten sehr gepflegt, und auch an den Straßenrändern, auf Verkehrsinseln, öffentlichen Plätzen und einfach überall, wo das Auge hinblickte, gab es Blumenrabatten und viel Grün. Auf einem Spielplatz sah er eine muschelförmige Schaukel, weitere maritime Details fanden sich an beinahe jeder Hausecke, ob es der Bootsanker über dem Eingang einer Kneipe war, die an einer langen Schnur aufgereihten Seesterne im Schaufenster der Postfiliale oder der restaurierte Kutter aus dem achtzehnten Jahrhundert mitten auf dem Marktplatz.
Ebenfalls an mehreren Stellen begegnete ihm eine witzige Comicfigur, auf deren blau-weiß gestreiftem Halstuch Watti Wattwurm stand, offenbar das Maskottchen des Touristenstädtchens.
Da Boss in seiner Box immer lauter zu rumoren begann, achtete Ben nicht weiter auf die pittoreske Umgebung, sondern konzentrierte sich auf das, was sein Navi an Anweisungen von sich gab.
Der Kastanienweg befand sich am nordöstlichen Stadtrand. Bens neues Domizil war das letzte Haus auf der linken Seite, und er musste unwillkürlich lächeln, als er sein Auto die lang gezogene Kurve entlangsteuerte. Es war genauso, wie er es sich vorgestellt hatte. Selbstverständlich hatte er Fotos im Internet gesehen, aber in natura betrachtet war die Gegend sogar noch charmanter, als das Werbematerial suggeriert hatte. Die nächsten Nachbarn waren ungefähr hundert Meter entfernt - ein Bauernhof, auf dem es laut seiner Vermieterin auch einen Hofladen gab, in dem man frische Eier, Milch, Käse und Fleisch kaufen konnte.
Seine Unterkunft für die kommenden Monate war ein reetgedecktes kleines Fachwerkhaus, in dessen von einem etwa hüfthohen Holzzaun umgebenen Vorgarten Azaleen und Pfingstrosen blühten. Auch die ersten Margeriten streckten bereits ihre weißen Köpfe in Richtung des Himmels, und in ein paar Wochen würden die Hortensien zu blühen beginnen.
»Da wären...